28. KAPITEL
Maggie beobachtete, wie Nick vorsichtig um die kleinen Stapel herumging, die sie auf dem Boden seines Büros verteilt hatte. Er räumte einen Platz frei und stellte die dampfende Pizza und die kalten Coladosen ab. Dann setzte er sich neben sie auf den Boden und streckte die langen Beine aus. Mit einem Fuß stieß er fast gegen ihren Schenkel. Den ganzen Tag über war sie sich seiner Gegenwart akut bewusst gewesen. Sie hatte geglaubt, für Gefühle zu erschöpft zu sein, deshalb überraschten ihre Reaktionen sie jedes Mal, wenn sein Ellbogen zufällig gegen ihren Arm stieß oder seine Hand beim Schalten im Jeep ihr Bein berührte.
Sie hatte schon vor Stunden die Schuhe ausgezogen und kniend auf ihren Füßen gesessen, bis sie einschliefen. Jetzt massierte sie einen nach dem anderen, während sie die Obduktionsberichte von Aaron Harper und Eric Paltrow las, deren Ermordung Jeffreys möglicherweise irrtümlich angelastet worden war.
Die Pizza roch gut trotz der grausigen Details, die sie las. Sie blickte auf und merkte, dass Nick ihr beim Massieren der Füße zusah. Wie bei etwas Unerlaubtem ertappt, wandte er den Blick ab, öffnete eine Dose und reichte sie ihr.
„Danke.“ Diesmal war sie wirklich hungrig. Von Wandas Käse-Schinken-Sandwich hatte sie nur zwei Bissen genommen, ehe der junge Deputy Preston es ihr zum Glück abnahm. Das war vor Stunden gewesen. Jetzt war es bereits dunkel draußen. Die Telefone unten am Flur hatten aufgehört zu klingeln, und der Mitarbeiterstab hatte sich deutlich ausgedünnt. Einige waren nach Haus geschickt worden, um sich auszuruhen, und andere waren wieder auf der Suche nach dem kleinen Jungen.
Nick schnitt ein dickes Stück Pizza ab und reichte es Maggie auf einem Papierteller. Sie roch grünen Pfeffer, italienische Wurst und Romano-Käse. Er hatte gut gewählt. Sie biss zu viel ab, so dass ihr Käse und Sauce aufs Kinn tropften.
„Mein Gott, O‘Dell, Sie haben das ganze Gesicht voller Sauce.“
Sie leckte sich unter seinem Blick einen Mundwinkel.
„Die andere Seite.“ Er zeigte hin. „Und das Kinn.“
Ihre Hände waren voll mit Pizza und Gerichtsakten. Sie leckte sich den anderen Mundwinkel und sah sich nach einem freien Platz um, wo sie gefahrlos etwas ablegen konnte.
„Nein, höher“ , wies er sie an. „Warten Sie, lassen Sie mich das machen.“
Als er mit dem Daumen ihren Mundwinkel berührte, sahen sie sich wie gebannt an. Er wischte ihr mit den Fingern über das Kinn und fuhr mit dem Daumen über ihre Unterlippe, wo garantiert weder Sauce noch Käse waren. Sie merkte ihm an, dass auch er dieses erotische Prickeln spürte. Seine Finger blieben länger als nötig auf ihrem Kinn, bewegten sich hinauf und streichelten ihr die Wange, während sein Daumen an ihrem Mundwinkel verweilte. Überrascht von ihrer körperlichen Reaktion darauf, wich sie zurück und entzog sich ihm.
„Danke“ , sagte sie mit gesenktem Blick. Sie warf den Pizzateller regelrecht zur Seite, schnappte sich eine Serviette und rieb sich gründlicher als nötig das Kinn ab.
„Ich glaube, wir brauchen mehr Servietten und Colas“ , stellte Nick fest und stand befangen auf.
Er nahm zwei weitere Dosen aus dem kleinen Kühlschrank in der Ecke und fügte dem Stapel Servietten, der bereits auf dem Boden lag, noch ein paar hinzu. Als er sich wieder zu ihr setzte, hielt er mehr Abstand. Ihr war aufgefallen, dass er sich zurückhielt und auch nicht mehr mit ihr flirtete, seit er wusste, dass sie verheiratet war. Die Berührung, die zärtliche Geste hatte ihn offenbar selbst überrascht.
„Da gibt es zu viele Unterschiede“ , sagte sie und versuchte sich wieder auf den Autopsiebericht zu konzentrieren. „Ich weiß nicht, warum alle glaubten, Jeffreys hätte alle drei Jungen umgebracht.“
„Aber verändern Serienmörder nicht ihre Vorgehensweise?“
„Sie fügen vielleicht Dinge hinzu. Sie experimentieren. Jeffrey Dahmer experimentierte mit verschiedenen Arten, seine Opfer am Leben zu erhalten. Er hat ihnen Löcher in die Schädel gebohrt, um sie handlungsunfähig zu machen, sie aber zunächst leben lassen.“
„Vielleicht hat auch Jeffreys gern experimentiert?“
„Ungewöhnlich ist hierbei nur, dass die Morde an Harper und Paltrow fast identisch sind. Beide waren gefesselt, die Hände waren mit Stricken auf dem Rücken zusammengebunden. Sie wurden erwürgt, dann wurden ihnen die Kehlen durchgeschnitten. Die Brustverletzungen waren fast identisch bis hin zu den Stichwunden. Um das X einzuschneiden, wurde dasselbe Messer benutzt. Beide Jungen wurden nicht sexuell missbraucht. Ihre Körper wurden in unterschiedlichen abgelegenen Gegenden in Flussnähe gefunden.“
Sie las aus mehreren Dokumenten, die vor ihr auf dem Boden lagen, und beugte sich vorsichtig darüber, um sie nicht zu beschmutzen. Allmählich begann sie das Ausmaß ihrer Erschöpfung zu spüren. Ihr Blick verschwamm, als sie die hingekritzelten Notizen des Gerichtsmediziners las. George Tillie war nicht so präzise gewesen, wie er hätte sein sollen. Nur im Paltrow-Bericht wurde erwähnt, dass der Körper gesäubert worden war und man wenig Rückstände fand. In beiden Berichten stand nichts von Olresten auf der Stirn oder sonst am Körper.
Maggie sah zu Nick, der sich gegen den Aktenschrank lehnte und sich die Augen rieb. Sein Haar war wirr vom vielen Hindurchfahren mit den Fingern. Seine Hemdsärmel waren bis zu den Ellbogen aufgerollt und zeigten muskulöse Unterarme. Er hatte die Krawatte abgelegt und die oberen Knöpfe seines zerknitterten Hemdes geöffnet. Dabei kam genug seiner Brust zum Vorschein, dass sie nervös wurde. Sie nahm einen Bericht vom Boden auf und versuchte sich zu konzentrieren.
„Der Wilson-Junge andererseits ...“
„Ich weiß“ , fiel Nick ihr ins Wort und beugte sich vor. „Seine Hände waren mit Klebeband vor dem Körper gefesselt. Keine Stricke. Er wurde erstochen, keine Hinweise auf Strangulierung. Ihm wurde die Kehle nicht durchschnitten. Der Täter benutzte sein Jagdmesser. Obwohl es eine Menge Stichwunden gab ...“ „Zweiundzwanzig.“
„Zweiundzwanzig Stichwunden, aber keine Einschnitte.“ „Der kleine Wilson wurde außerdem mehrmals missbraucht.“ „Und seine Leiche wurde in einem Abfallbehälter im Park gefunden und nicht am Fluss. Mein Gott, wenn ich das alles höre, wird mir schlecht.“ Er schob seine Pizza beiseite, nahm die Cola, trank die Dose leer und wischte sich den Mund mit dem Handrücken. „Okay, da gibt es eine Menge Unterschiede, aber könnte Jeffreys nicht seine Vorgehensweise verändert haben? Sogar der Missbrauch, könnte man das nicht als ... ich weiß nicht ... als Eskalation betrachten?“
„Ja, könnte man. Aber denken Sie an die Reihenfolge: Harper, Wilson, Paltrow. Es wäre sehr ungewöhnlich, wenn der Mörder seine Vorgehensweise verändert, eskalieren lässt, um dann wieder auf die ursprüngliche zurückzukommen. Er benutzt ein Messer mit einer schmalen Klinge, vielleicht ein Filetiermesser, dann wechselt er zu einem Jagdmesser, und dann nimmt er wieder das Filetiermesser? Die Morde sind im Stil unterschiedlich. Der Harper- und Paltrow-Mord sind sehr sorgfältig im Detail ausgeführt. Beide Jungen wurden von jemand umgebracht, der sich Zeit ließ, und es genießt, Schmerz zu bereiten. Dem Mord an Danny Alverez sehr ähnlich. Der Mord an Bobby Wilson jedoch wirkt, als wäre er in der Hitze des Augenblicks geschehen, zu emotionsgeladen und zu leidenschaftlich, um auf Details zu achten.“
„Wissen Sie, ich hatte immer das Gefühl, das alles war viel zu einfach damals“ , sagte Nick müde. „Ich habe mich gefragt, ob mein Dad bei dem ganzen Medienzirkus nicht was übersehen hat.“
„Was meinen Sie damit?“
„Nun ja, man hört von Dingen, die in der Aufregung verloren gehen, weil man auf eine Verurteilung drängt. Mein Dad steht gern im Mittelpunkt. In dem Jahr, als ich als Quarterback für die UNL zu spielen begann, kam er bei jedem Spiel zu mir in die Garderobe. Er bestand darauf. Meine Mom sagte, er täte das, weil er so stolz auf mich sei. Aber er begrüßte immer erst die Kamerateams, ehe er mich überhaupt zur Kenntnis nahm.“
Maggie lauschte geduldig und wartete ab, als er schwieg. Nick und sein Vater hatten offenbar eine komplizierte Beziehung. Anscheinend sprach er nicht gern darüber, doch sie hatte das deutliche Gefühl, dass er ihr etwas Wichtiges zu sagen versuchte, das den Fall Jeffreys betraf. Glaubte Nick wirklich, sein Vater habe den Fall manipuliert?
Schließlich sah er sie an, als hätte er ihre Gedanken gelesen.
„Verstehen Sie mich nicht falsch. Ich sage nicht, dass mein Dad einen Fall manipulieren würde. Er ist ein sehr respektierter Mann, seit vielen Jahren. Ich weiß auch, dass ich meine Wahl zum größten Teil dem Umstand verdanke, dass ich Antonio Morrellis Sohn bin. Ich sage nur, dass mir alles ein bisschen zu glatt ging damals, als mein Dad Jeffreys fing. An einem Tag kam ein anonymer Hinweis, und am nächsten plappert Jeffreys bereits sein Geständnis aus.“
„Was war das für ein anonymer Hinweis?“
„Ich glaube, es war ein Telefonanruf. Ich weiß nicht mehr genau. Damals lebte ich nicht mehr hier. Ich lehrte bereits an der UNL, deshalb sind meine Kenntnisse über den Fall aus zweiter Hand. Steht denn nichts in den Berichten?“
Maggie suchte in verschiedenen Akten. Sie hatte die meisten gelesen und konnte sich nicht erinnern, dass irgendwo ein Telefonanruf erwähnt worden war. Aber sie hatte auch keine Telefonauflistungen gesehen, nicht mal von einer Hotline.
„Ich habe nichts über einen anonymen Tipp gelesen“ , sagte sie und reichte ihm die Akte mit der Aufschrift: „Jeffreys‘ Verhaftung“ . „An was erinnern Sie sich?“
Er schien verwirrt. Sie war jedoch sicher, dass er nicht an seinem Erinnerungsvermögen zweifelte, sondern an seinem Vater. Sie beobachtete, wie er die Berichte mit der Unterschrift Antonio Morrelli überflog.
„Die Berichte Ihres Vaters sind sehr detailliert, besonders der über die Verhaftung. Er schließt sogar das Beweisstück ein, das sie im Kofferraum von Jeffreys Chevy Impala gefunden haben.“ Sie überflog ihre eigenen Notizen und las die Liste. „Sie fanden eine Rolle Klebeband, ein Jagdmesser, einen Strick ... Moment mal.“
Sie hielt inne, um sich zu vergewissern, dass sie die Liste richtig abgeschrieben hatte. „Eine Knabenunterhose, die später identifiziert wurde als die von ...“ Sie sah zu Nick, der in der Liste des Berichtes dieselbe Stelle gefunden hatte und dasselbe las wie sie. Sie sahen sich an und hatten denselben Gedanken.
Sie fuhr fort: „Eine Knabenunterhose, die später identifiziert wurde als die von Eric Paltrow.“
Maggie blätterte den Bericht des Gerichtsmediziners durch, um sich zu vergewissern, dass sie sich nicht irrte, obwohl sie schon wusste, was sie finden würde.
„Eric Paltrows Leiche wurde mit einer Unterhose bekleidet gefunden.“
Nick schüttelte ungläubig den Kopf.
„Ich wette, sogar Jeffreys war verblüfft, wie viel Zeugs man in seinem Kofferraum gefunden hat.“
Sie sahen sich an, und keiner mochte laut sagen, worauf sie soeben gestoßen waren. Ronald Jeffreys waren zwei Morde angehängt worden, die er nicht begangen hatte. Und es bestand eine große Chance, dass die Manipulation der Beweise von jemand aus der Abteilung des Sheriffs begangen worden war.