34. KAPITEL
Das eisige Wasser lähmte seinen Körper. Die Haut brannte, die Muskeln schmerzten, und seine Lungen drohten zu platzen. Er hielt den Atem an und ließ sich dicht unter der Wasseroberfläche treiben. Der Fluss trug ihn wild wogend dahin. Er wehrte sich nicht gegen seine Kraft und Schnelligkeit, sondern ließ sich als Teil von sich aufnehmen.
Sie waren nah. So nah, dass er die Lichtkegel der Taschenlampen auf dem Wasser tanzen sah. Zur Rechten, zur Linken und genau über seinem Kopf. Rufe erschallten, Stimmen voller Panik und Konfusion.
Niemand war hinter ihm hergetaucht. Niemand wagte sich in den schwarzen Fluss. Niemand außer Spezialagentin Maggie O‘Dell, die nicht loskam. Sie hatte sich nett in dem kleinen Geschenk verfangen, das er für sie gefunden hatte. Geschah ihr recht, wenn sie sich einbildete, ihn überrumpeln zu können, sich anzuschleichen und ihn in eine Falle zu locken. Das Luder hatte bekommen, was es verdiente.
Ein Lichtkegel fand sie, und die Suche am Ufer hörte auf. Vorsichtig streckte er den Kopf über Wasser, um nach Luft zu schnappen. Die nasse Maske lag wie ein Spinnennetz an seinem Gesicht. Doch er wagte nicht, sie zu entfernen.
Der Fluss trug ihn weiter. Er sah Männer das Ufer hinabschlittern, alberne ausrutschende Schattengestalten, die im Licht tanzten. Er lächelte zufrieden. Es würde Spezialagentin O‘Dell nicht gefallen, erst gefangen und hilflos zu sein und nun auch noch gerettet werden zu müssen. Würde sie schockiert feststellen, wie viel er über sie wusste, diesen weiblichen Teufel, der sich einbildete, seine Nemesis zu sein? Glaubte sie wirklich, in seine Gedankengänge eindringen zu können, ohne dass er dasselbe bei ihr versuchte? Endlich hatte er einen ebenbürtigen Gegner gefunden, der ihn auf Trab hielt, anders als diese Kleinstadttölpel.
Etwas schwamm neben ihm, klein und schwarz. Er ekelte sich, bis er merkte, dass es nichts Lebendiges war, sondern Plastik. Er griff danach und erschrak, als das Ding aufklappte und ein Licht anging. Ein Handy! Ein Jammer, es hier verrotten zu lassen. Er stopfte es tief in seine Hosentasche und manövrierte sich näher ans Ufer. Nach wenigen Sekunden hatte er seine Markierung gefunden und packte den gebogenen Ast, der über dem Wasser hing. Der ächzte unter der Last, brach jedoch nicht.
Die Strömung drückte seinen Körper mit Respekt einflößender Kraft. Er akzeptierte sie und nutzte sie zu seinem Vorteil. Mit schmerzenden Fingern krallte er sich an dem Ast fest und zog sich hoch.
Rinde splitterte ab, und er drohte abgetrieben zu werden. Nur noch knapp ein Meter. Seine Füße berührten Land, eiskaltes, schneebedecktes Land. Die Füße waren taub, doch mit den schwieligen Sohlen konnte er sich ausgezeichnet festhalten. Er rannte durch das eisbedeckte Meer aus Gras. Es knisterte und klirrte wie Glas, während kleine Eiszapfen brachen. Er rang keuchend nach Atem, verlangsamte sein Tempo jedoch nicht. Silbriger Schnee schwebte durch die rabenschwarze Nacht - kleine Engel, die tanzend neben ihm herliefen.
Er fand sein Versteck. Die schneebedeckten Äste der Bäume in dem kleinen Hain bogen sich unter der Last tief herab, was dem ohnehin dichten Baldachin einen Höhleneffekt verlieh. Er erschrak durch ein sonderbares Klingeln. Sofort erkannte er das Vibrieren des Telefons in seiner Hosentasche. Er zog es heraus, starrte es einige Sekunden an, klappte es auf und schaltete es ein. Das Klingeln hörte auf, und eine ärgerliche Stimme bellte: „Hallo!“
„Ja bitte?“
„Ist das das Telefon von Maggie O‘Dell?“ wollte die Stimme wissen. Der Mann klang so wütend, dass er einen Moment daran dachte, das Gespräch zu beenden.
„Ja, das ist es. Sie hat es fallen lassen.“
„Kann ich mit ihr sprechen?“
„Sie ist anderweitig gebunden“ , erwiderte er und hätte fast laut gelacht.
„Na schön, dann sagen Sie ihr, dass ihr Mann Greg angerufen hat. Der Zustand ihrer Mutter ist ernst. Sie soll das Krankenhaus anrufen. Haben Sie das verstanden?“
„Sicher.“
„Vergessen Sie es nicht!“ raunzte der Mann ihn an und beendete das Gespräch.
Lächelnd hielt er das Telefon weiter ans Ohr und lauschte dem Wählton. Es war jedoch zu kalt, um sich über das neue Spielzeug zu freuen. Rasch zog er die schwarze Trainingshose, das Sweatshirt und die Maske aus und warf alles in einen mitgebrachten Müllbeutel, ohne es auszuwringen. An den nassen Haaren auf Armen und Beinen bildeten sich Eiskristalle, ehe er sich abnibbeln konnte und trockene Jeans und einen dicken Wollpullover anzog.
Er setzte sich auf das Trittbrett, um seine Tennisschuhe zuzubinden. Wenn es weiterhin so schneite, musste er Schuhe anziehen. Nein, mit Schuhen konnte man nicht schwimmen. Sie wirkten wie Anker. Außerdem verabscheute er es, sie schmutzig zu machen.
Wenn er doch jetzt in den schönen warmen Lexus kriechen könnte. Aber sein Fehlen heute Nacht hätte jemand auffallen können. Deshalb kletterte er in den alten Pickup, dessen Motor stotternd ansprang, und fuhr fröstelnd heim. Dabei starrte er angestrengt nach vorn, da nur ein Scheinwerfer die schwarze Nacht und weißen Schnee erhellte.