13. KAPITEL

Christine Hamilton versuchte den Artikel zu überarbeiten, den sie in ihr Notizbuch gekritzelt hatte, während sie so tat, als kenne sie den genauen Stand des Fußballspiels unten auf dem Spielfeld. Die Holztribünen waren schrecklich unbequem, gleichgültig, wie sie ihr Gewicht verlagerte. Sie wollte eine Zigarette rauchen und kaute stattdessen auf der Kappe ihres Stiftes.

Ein plötzliches Aufbrausen von Applaus, Johlen und Pfeifen veranlasste sie, gerade noch rechtzeitig den Kopf zu heben, um die Mannschaft der Zehnjährigen im roten Trikot sich triumphierend mit erhobenen Händen gegenseitig abklatschen zu sehen. Wieder war ihr ein Tor entgangen, doch als der kleine rothaarige Junge aus dem Trubel zu ihr aufschaute, lächelte sie und machte das Siegeszeichen mit dem Daumen nach oben, als hätte sie den Spielzug verfolgt.

Er war um einiges kleiner als seine Mannschaftskameraden, doch ihr schien er viel zu schnell zu wachsen. Dass er seinem Vater mit jedem Tag ähnlicher wurde, machte es auch nicht besser.

Sie schob sich die Sonnenbrille auf das windzerzauste Haar. Die Sonne verschwand hinter der Baumreihe, die den Park säumte. Zum Glück waren die meisten Wolken vorübergezogen, ohne weiteren Regen abzuladen. Schlimm genug, dass sie am Sonntagnachmittag so taten als ob.

Sie hatte sich allein auf die obere Tribünenreihe gesetzt, fernab von den anderen Fußballmüttern und -vätern. Sie machte sich nichts aus diesen besessenen Eltern, die Mannschaftstrikots trugen und den Trainer beschimpften. Später würden sie ihm dann auf den Rücken klopfen und ihm zu einem weiteren Sieg gratulieren.

Christine blätterte eine Seite um und wollte sich wieder ihrem Artikel widmen, als sie drei der anderen geschiedenen Fußballmütter miteinander tuscheln sah. Anstatt das Spiel zu verfolgen, deuteten sie auf die Seitenlinie. Christine drehte sich, folgte ihrer Blickrichtung und entdeckte sofort, was sie abgelenkt hatte. Der Mann, der an der Seitenlinie entlangging, entsprach einem Klischee: groß, dunkelhaarig, gut aussehend. Er trug enge Jeans, ein Sweatshirt mit dem Namenszug der Nebraska Cornhuskers auf der Brust und sah aus wie die ältere Version des College Quarterback, der er einmal gewesen war. Er beobachtete das Spiel, während er die Seitenlinie entlang schritt, nein glitt. Christine wusste allerdings, dass er sich der Aufmerksamkeit, die er auf den Rängen erregte, durchaus bewusst war. Als er schließlich in ihre Richtung sah, winkte sie und genoss die neidvollen Blicke der anderen Frauen, als er ihr zulächelte und zu ihr auf die Tribüne kam.

„Wie steht‘s?“ fragte Nick und ließ sich neben ihr nieder.

„Fünf zu drei, glaube ich. Dir ist schon klar, dass ich von jeder geschiedenen, schmachtenden Fußballmutter hier beneidet werde, oder?“

„Da siehst du mal, was ich alles für dich tue, und du zahlst es mir mit solchen Gemeinheiten heim.“

„Gemeinheiten? Ich war noch nie gemein zu dir“ , sagte sie zu ihrem jüngeren Bruder. „Jedenfalls nicht richtig.“

„Das habe ich nicht gemeint, und das weißt du auch.“

Sie setzte sich gerade hin, bereit sich zu rechtfertigen, da ein leises Schuldgefühl an ihr nagte. Ja, sie hätte ihn anrufen sollen, ehe sie die Geschichte in die Redaktion gegeben hatte. Aber was, wenn er sie aufgefordert hätte, den Artikel nicht zu bringen? Immerhin hatte sie sich damit auf die andere Seite der Redaktionstür katapultiert. Anstatt hilfreicher Haushaltstipps hatte sie in den letzten beiden Tagen zwei Leitartikel mit ihrem Namenszug verfasst. Und ab morgen saß sie an ihrem eigenen Schreibtisch in der Lokalredaktion.

„Wie wäre es, wenn ich es wieder gutmache? Dinner morgen Abend? Ich mache Spaghetti mit Fleischbällchen und Mamas Geheimsauce.“

Er sah sie an und warf einen Blick auf ihr Notizbuch. „Du begreifst es einfach nicht, was?“

„Ach komm schon, Nick. Du weißt, wie sehr ich darauf hin gearbeitet habe, aus der ,Leben heute‘-Ecke herauszukommen. Wenn ich den Artikel nicht gebracht hätte, hätte es jemand anders getan.“

„Wirklich? Und hätte dieser Jemand auch einen Officer zitiert, der ihr privat etwas anvertraut hatte?“

„Er hat mir nicht gesagt, dass es vertraulich war. Falls Gillick etwas anderes behauptet, lügt er.“

„Ich wusste gar nicht, dass es Eddie war. Mein Gott, Christine, du hast gerade eine anonyme Quelle preisgegeben.“

Ihr wurden die Wangen warm, und sie wusste, dass ihre normalerweise blasse Haut puterrot war. „Verdammt, Nick. Du weißt, wie sehr ich mich bemühe. Ich bin ein bisschen eingerostet. Aber ich kann eine richtig gute Reporterin sein.“

„Wirklich? Ich halte deine Berichterstattung für verantwortungslos.“

„Jetzt mach aber mal einen Punkt! Nur weil sie dir nicht gefällt, ist sie noch nicht verantwortungslos!“

„Und was ist mit der Schlagzeile?“ presste Nick hervor. Sie konnte sich nicht erinnern, ihn je so zornig erlebt zu haben. Er wich ihrem Blick aus und beobachtete die rennenden Jungen auf dem Spielfeld. „Wie kommst du dazu, diesen Mord mit Jeffreys in Verbindung zu bringen?“

„Es gibt auffallende Ähnlichkeiten.“

„Jeffreys ist tot“ , flüsterte er und sah sich um, ob jemand sie hören konnte. Er faltete die Hände vor dem rechten Knie und stieß rhythmisch mit einem Fuß gegen die Bankreihe vor ihnen. Ein nervöser Tick, den Christine seit der Kindheit kannte.

„Werde erwachsen, Nick. Jeder mit einem Funken Verstand wird diese Tat mit denen von Jeffreys in Verbindung bringen. Ich habe nur geschrieben, was viele denken. Willst du behaupten, ich liege falsch?“

„Ich will sagen, dass wir keine Panik in der Stadt brauchen, die gerade wieder an die Sicherheit ihrer Kinder zu glauben beginnt.“ Er verschränkte die Arme vor der Brust, da er nicht zu wissen schien, was er mit den geballten Händen tun sollte. „Du hast mich wie einen verdammten Idioten hingestellt!“

„Verstehe. Darum geht es also. Die Panik in der Stadt ist dir völlig egal. Du machst dir nur Gedanken, wie du in der Öffentlichkeit dastehst. Warum überrascht mich das nicht?“

Er sah sie wütend an. Einen Moment hatte es den Anschein, als wolle er sich rechtfertigen, doch dann blickte er nur schweigend aufs Spielfeld. Sie hasste es, wenn er ihre billigen Seitenhiebe kommentarlos hinnahm. Schon als Kind hatte er nicht gewusst, wie er sich gegen ihre Beleidigungen zur Wehr setzen sollte - ihre Geheimwaffe. Offenbar wurde sie alt, denn plötzlich bedauerte sie, ihn gekränkt zu haben.

Zugleich wurde sie jedoch ungehalten über die Art und Weise, wie er die Dinge anging. Immer suchte er den Weg des geringsten Widerstandes. Aber schließlich, warum auch nicht? Nick schien alles zuzufliegen, von Job-Angeboten bis zu Frauen. Und er flatterte mühelos und ohne Gewissensbisse von einer zur anderen, ohne lange nachzudenken. Als ihr Vater den Sheriffposten damals aufgab, hatte er darauf bestanden, dass Nick sich darum bemühte. Der hatte seine Professur an der Uni ohne zu zögern aufgegeben. Zumindest war ihr kein Zögern aufgefallen, obwohl sie wusste, dass er als umschwärmte lebende Legende gern an der Uni war.

Ohne Schwierigkeiten - und eigentlich auch vorhersehbar - war er zum Bezirkssheriff gewählt worden. Allerdings gab Nick als Erster zu, dass er das Amt nur seinem Namen und dem legendären Ruf seines Vaters verdankte. Jedoch schien ihm das nichts auszumachen. Er nahm die Dinge, wie sie kamen.

Sie hingegen hatte sich alles erarbeiten müssen, besonders, seit Bruce fort war. Jedenfalls verdiente sie das Glück, in der Nachrichtenredaktion zu sein, und wollte sich dafür nicht entschuldigen.

„Es ist ein Nachahmungstäter. Findest du nicht, dass die Bevölkerung gewarnt werden muss?“ fragte sie ernsthaft, obwohl sie sich nicht rechtfertigen wollte. Sie meldete Nachrichten und wusste, was sie tat. Die Öffentlichkeit hatte ein Recht auf Information.

Nick antwortete nicht. Stattdessen stellte er beide Füße auf die vordere Bankreihe, stemmte die Ellbogen auf die Knie und stützte das Kinn auf die geballten Hände. Inmitten von Jubel und Gejohle saßen sie eine Weile schweigend da. Nick war verändert, und das beunruhigte sie.

Nach einer kleinen Ewigkeit sagte er schließlich: „Danny Alverez war nur ein Jahr älter als Timmy.“ Sein Blick war starr geradeaus gerichtet.

Christine sah Timmy über das Feld wirbeln und andere Jungen umspielen, die größer waren als er. Er war schnell und agil und nutzte seine geringe Größe zu seinem Vorteil. Timmy sah fast aus wie Danny auf dem Schulfoto aus der Zeitung. Beide hatten rotblondes Haar, blaue Augen und Sommersprossen. Wie Danny war Timmy klein für sein Alter.

„Ich habe den Nachmittag in der Pathologie verbracht.“ Seine Stimme riss sie aus ihren Gedanken.

„Warum?“ fragte sie wie beiläufig, sah aufs Spielfeld, beobachtete Nick jedoch aus den Augenwinkeln. Sie hatte ihn noch nie so bedrückt erlebt.

„Bob Weston hat uns einen Experten besorgt, um ein Profil des Täters zu erstellen - Spezialagentin Maggie O‘Dell aus Quantico. Sie kam heute Morgen an und konnte es nicht abwarten, mit der Arbeit zu beginnen.“ Er warf Christine einen Blick zu und mochte seinen Augen nicht trauen, als er sah, wie sie etwas in ihr Buch notierte. „Mein Gott, Christine!“ brauste er auf, dass sie zusammenzuckte. „Kann man dir nichts mehr anvertrauen?“

„Wenn du es vertraulich behandelt haben möchtest, musst du es mir sagen.“ Sie beobachtete, dass er sich die Wange rieb, als hätte sie ihn geschlagen. „Außerdem weiß morgen sowieso jeder über Agentin O‘Dell Bescheid, wenn sie anfängt, Fragen zu stellen. Worüber machst du dir Sorgen, Nick? Eine Expertin hinzuzuziehen, ist doch eine gute Sache.“

„Ist es das? Oder stehe ich nicht eher so da, als wüsste ich nicht, was ich tun soll?“ Er sah sie finster an. „Wage nicht, das zu schreiben.“

„Entspann dich. Ich bin nicht dein Feind, Nicky.“ Sie bemerkte, wie die Jungen zwischen dem üblichen Händeschütteln Freudentänze aufführten. Das Spiel war vorüber, und es wurde langsam dunkel. Die Laternen im Park gingen eine nach der anderen an. „Weißt du, Dad hat sich nie gescheut, mit den Medien zusammenzuarbeiten.“

„Ich bin nicht Dad!“ Jetzt hatte sie ihn verärgert. Sie wusste, dass sie keine Vergleiche anstellen sollte, aber sie mochte auch nicht wie ein verantwortungsloser Schreiberling behandelt werden. Außerdem, wenn er nicht verglichen werden wollte, hätte er vielleicht nicht in die Fußstapfen des Vaters treten sollen. Wie gewöhnlich wiegelte sie bei dem Thema ab.

„Ich sage nur, dass Dad wusste, wie er die Medien einsetzen musste, damit sie ihm halfen.“

„Damit sie halfen?“ fragte Nick ungläubig zurück und sprach so laut, dass er den Jubel ringsum übertönte. Er sah sich rasch um, beugte sich zu Christine hinüber und fügte mit gesenkter Stimme hinzu: „Dad nutzte die Nachrichtenmedien, weil er gern im Rampenlicht stand. Es gab so viele Lecks in seinem Department, dass Jeffreys’ Verhaftung an ein Wunder grenzt.“

„Was für Lecks? Wovon sprichst du?“

„Egal.“ Er blickte auf ihr Notizbuch.

Christine verdrehte die Augen und fragte sich, ob er nur einen Köder auswarf. „Aber sie haben Jeffreys verhaftet, und Dad hat den Fall gelöst“ , erinnerte sie ihn.

„Ja, sie haben Jeffreys verhaftet, und der gute alte Dad hat die Lorbeeren eingeheimst.“

„Nicky, niemand verlangt von dir, dass du sein sollst wie er. Du glaubst immer, du müsstest ihm nacheifern.“ Okay, jetzt war es heraus, sie hatte sich verplappert. Gespannt beobachtete sie seine Reaktion.

Er schüttelte nur den Kopf, die Andeutung eines frustrierten Lächelns um den Mund, als denke er, dass sie ihn einfach nicht verstand.

„Hast du dich jemals gefragt ...“ Er zögerte, blickte auf das Spielfeld und war mit den Gedanken weit weg. „Ist dir nie aufgefallen, dass alles zu glatt ging ... sehr einfach und bequem war?“

Das war nicht die Erwiderung, die sie erwartet hatte. Die Abendluft wurde kühl, und Christine begann zu frösteln. Sie rieb sich die Arme und versuchte ihrem Bruder in die Augen zu sehen. Er begann ihr Sorgen zu machen mit seinem unterdrückten Zorn und den ernsten Anspielungen. Für gewöhnlich scherzte Nick herum und nahm nichts allzu ernst, schon gar nicht ihr geschwisterliches Geplänkel. Hatte die Erwähnung des Vaters seinen Stimmungswandel ausgelöst? Nein, da steckte etwas anderes dahinter. Was wusste er? Was hatte ihren unbekümmerten, selbstsicheren kleinen Bruder so eingeschüchtert?

„Nick, was meinst du damit?“

„Vergiss es“ , sagte er, beendete das Thema, stand auf und streckte sich.

„Onkel Nick! Onkel Nick! Hast du gesehen, wie ich das Tor geschossen habe?“ rief Timmy, die Tribünentreppe hinaufstürmend.

„Und ob ich das gesehen habe“ , log er.

Sie beobachtete, wie freundlich und entspannt lächelnd er ihren kleinen Sohn auf die Arme nahm und an sich drückte.

Christine wusste, dass ihr Bruder etwas verbarg, und sie musste herausfinden, was es war.