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Der Taxifahrer schüttelte den turbanumwickelten Kopf und brummte, er werde so weit fahren, wie er könne, aber die Straße sei seit einer Stunde völlig blockiert. »Im Radio kam was über einen Terroranschlag. Waren Sie an 9/11 hier?«
Tom gab ihm einen Zehn-Dollar-Schein, stieg an der 39th Street aus und ging zu Fuß, so weit es ging. Er sah das Aufgebot der Polizeiwagen, die roten Blinklichter und dahinter die gleißenden Scheinwerfer des Fernsehens, die ein Gewirr von Trucks mit Satellitenschüsseln anstrahlten. An sich war das in der Woche der Generalversammlung nichts Außergewöhnliches. Vermutlich war der russische Zar – wie sollte man den Mann sonst nennen? – in der Stadt, oder es ging um irgendeinen aus der üblichen Riege von afrikanischen, zentralasiatischen und nahöstlichen Despoten, die nach New York kamen, um sich im Glanz des Podiums der Generalversammlung zu sonnen, während sie von Glück sagen konnten, dass sie nicht in Den Haag im Knast saßen.
Aber jetzt sah er eine Polizistin, die am vordersten Eingang zur UN-Plaza stand und die Leute zurückwies. Am Zaun entlang spannte sich mehrere Blocks weit ein gelb-schwarzes Plastikband; es sah aus, als umschließe es den gesamten Komplex wie die Schleife an einem Weihnachtsgeschenk: POLIZEILICHE ABSPERRUNG ZUTRITT VERBOTEN.
Er ging weiter und sah, dass auch alle folgenden Eingänge verschlossen waren. Am Publikumseingang drängte sich eine Meute von Reportern, Fotografen und Kameraleuten. Tom war groß genug, um über ihre Köpfe hinwegsehen zu können: Mitten auf der mit Steinplatten gepflasterten Fläche vor dem Eingangsfoyer der Security stand ein kleines Zelt aus grüner Plane. Ringsherum bewegten sich Polizisten, ein einzelner Fotograf und ein Spurensicherungsteam in Overalls, Masken und weißen Latexhandschuhen.
Tom schlängelte sich zwischen den Autos hindurch über die Straße. Vor ihm erhob sich der Trump World Tower, ein Phallussymbol aus Beton, und ein Hochhaus mit einer feucht und schlaff herabhängenden schwarz-rot-goldenen Flagge: die deutsche UN-Gesandtschaft. Das Nation’s Café war gleich nebenan.
Er sah Henning Münchau sofort: Mit ernster Miene studierte er die Weltkarte im Kunststoff der Tischplatte. Komisch, wie leicht es war, mächtige Männer schrumpfen zu lassen. Im UN-Gebäude war Münchau eine Gestalt, die von jedem, der ihr begegnete, mit ehrerbietigem Kopfnicken begrüßt wurde, wenn sie die Korridore durcheilte. Aber setzte man ihn woanders hin, war er ein ganz gewöhnlicher New Yorker Anzugträger mit Aktenkoffer und schütterem Haar.
Zu Toms Überraschung erhob Henning sich sofort beim ersten Blickkontakt und ließ seinen Kaffee stehen, ohne ihn anzurühren. Er schaute zur Tür: Komm mit. Was zum Teufel war hier los?
Als sie draußen waren, zog Henning fragend die Brauen hoch. Es dauerte zwei Sekunden, bis Tom die mimische Gebärde verstanden hatte. »Natürlich«, sagte er schließlich. Münchau war ein Raucher von der Sorte, die niemals eigene Zigaretten bei sich hatte: Wenn man keine kaufte, dann rauchte man eigentlich auch nicht – das war seine Überzeugung. Tom zog eine Packung Drum-Tabak – eine der wenigen Konstanten in den letzten Jahren seines Lebens – aus der Jackentasche. Er nahm einen kleinen blauen Umschlag mit Zigarettenpapier heraus, und mit wenigen geschickten Bewegungen seiner Finger hatte er ein glattes, dünnes Stäbchen gezaubert, das er Henning reichte. Er drehte eine für sich, und dann zündete er beide mit einem einzigen Streichholz an.
»Verdammt, so ist es besser«, sagte Henning. Noch immer sog er die Wangen ein und wollte den ersten Zug nicht ausatmen. Er schaute Tom durchdringend an, als sehe er ihn zum ersten Mal. »Ist lange her. Geht’s gut?«
»Ging nie besser.«
»Freut mich.« Henning nahm noch einen tiefen Zug. »Denn du siehst beschissen aus.«
Tom lachte, was bei Henning ein breites Grinsen auslöste. Dieses Lächeln war der Grund gewesen, weshalb Tom den Mann sofort gemocht hatte, als sie einander vor all den Jahren kennenlernten. Das und die spezielle Münchau-Mundart, ein makelloses Englisch mit australischer Melodie und der dazu passenden derben Ausdrucksweise. Tom hatte miterlebt, wie sie entstanden war: Sie waren zusammen bei der von Australien geleiteten Ost-Timor-Mission gewesen. Ihre Freundschaft war ein Erbe dieser gemeinsamen Erfahrung. Dass aus dem Justitiar ein sehr seltener Vogel geworden war – ein hessischer Doktor der Jurisprudenz mit dem Mundwerk eines Bondi-Surfers – war ein Zweites.
»Du vermisst deinen alten Laden also nicht? Die Arbeit für die Staatenfamilie und all das?«
»Nein, ich vermisse ihn nicht. Also, Henning, wir haben beide viel zu tun. Was brauchst du?«
»Es geht um diesen … « Er zögerte. »Um das, was heute Morgen hier passiert ist.«
»Was ist denn los? Ich hab die Polizeiabsperrung gesehen und –«
»Du weißt es nicht? Mein Gott, Tom, all diese fetten Industriehonorare, und du kannst dir kein Radio leisten? Vor ungefähr zwei Stunden wurde hier ein Mann erschossen, ein mutmaßlicher Terrorist.«
»Okay.«
»Nicht okay.« Henning blies eine Rauchwolke von sich und spähte dann nach links und rechts. Flüsternd und mit eindringlichem Blick fuhr er fort. »Hat sich herausgestellt, dass wir den Falschen erwischt haben.«
»Er war kein Terrorist?«
»Anscheinend haben wir einen Rentner im Wintermantel erschossen.«
»Was heißt ›wir‹?«
»Komm ja nicht auf die Idee, zu quasseln, Tom. Das meine ich ernst, Alter. Kein verdammtes Wort, zu niemandem. Die Medien wissen noch nichts.«
»Ist doch klar.«
»Der Schütze gehört zu unserer eigenen verdammten Security.«
»Oha.«
»Das kann man wohl sagen.« Henning nahm einen langen letzten Zug und sog das Leben aus der dünnen, handgedrehten Zigarette. Dann warf er den Stummel weg. »Ein unglaubliches Pech. Der Geheimdienst des NYPD hat uns auf eine Verdachtsperson aufmerksam gemacht, die einen Waffenhändler aufgesucht hatte. Dicker schwarzer Mantel, schwarze Mütze. Zufällig das, was der alte Knabe anhatte, als er seinen Morgenspaziergang machte.«
»Pech für alle Beteiligten, würde ich sagen.«
Henning funkelte Tom an. »Das hier, Tom, wird der größte Albtraum werden, der seit dem verfluchten Oil-for-Food-Programm über diesen Laden hereinbricht. Kannst du dir vorstellen, was die Amerikaner daraus machen werden? Kannst du dir vorstellen, was morgen in der New York Post steht? ›Die Vereinten Nationen – jetzt töten sie Greise auf den Straßen von New York.‹«
»Ihr habt euch genau die richtige Woche ausgesucht.«
»Na ja, wir haben ja nur jeden Regierungschef der Welt hier, vom König von Preußen an abwärts. Ist nicht gerade der Anfang, den Viren sich gewünscht hat, was? Stell dir vor, wie der neue Generalsekretär seine erste Vollversammlung auf den Knien verbringt und sich entschuldigt.«
»Er weiß es?«
»Ich hab dich gleich von da aus angerufen. Die letzte Stunde haben wir mit seinem Kabinettschef und sämtlichen UGS im Lagezentrum gesessen. Der Generalsekretär war nicht da; er hat sich auf irgendeinem Society-Frühstück den Schwanz lutschen lassen. Das Gebäude ist komplett abgeriegelt. Nur UGS dürfen raus.«
»Und was hast du vor?«
»Tja, darüber wollte ich mit dir sprechen.«
»O nein!«
»Warte, bis ich fertig bin, Tom. Ich weiß, du hast gesagt, du arbeitest nie wieder für uns. Das verstehe ich.«
»Gut. Dann wirst du auch verstehen, wenn ich sage: ›War nett, dich wiederzusehen, Henning, aber jetzt muss ich gehen.‹«
»Aber du sollst nicht für die UN arbeiten.«
»Sondern?«
»Sondern für mich. Betrachte es als eine persönliche Gefälligkeit. Ich glaube, ich habe das Recht, dich darum zu bitten.«
Tom sah Henning prüfend ins Gesicht. Dies war das einzige Argument, dem er nichts entgegenzusetzen hatte, die gleiche unabweisbare Tatsache, die ihn veranlasst hatte, die freudenspendende Miranda/Marina im Stich zu lassen und geradewegs herzukommen. Es stimmte: Er stand in Hennings Schuld. »Was brauchst du?«
»Das einzig Gute an dieser Situation ist: Der Tote war Brite.«
»Wieso ist das gut?«
»Die Briten werden als Einzige keinen Affenzirkus veranstalten, weil die Amis einen ihrer Staatsbürger umgebracht haben. Innerhalb der USA sind es die roten Schwuchteln von den UN, die hier Mist gebaut haben. Überall anderswo auf der Welt wird man Amerika die Schuld geben. Schießwütige Cowboys und das ganze Zeug. Aber nicht die britische Regierung. Eure Jungs werden den Schwanz einziehen und das Ganze schlucken.«
Tom hätte gern widersprochen, aber das konnte er nicht. Er erinnerte sich an die Kampagne zur Freilassung britischer Staatsbürger in Guantánamo. Die britische Regierung hatte dazu kaum einen Piep von sich gegeben, um die Amerikaner nicht zu verärgern.
»Und? War es denn ein Amerikaner, der geschossen hat?«
»Nein. Ein Portugiese. Er heißt Tavares.«
Tom überlegte. »Und was soll ich für dich tun?« Er sah die komplexe Dokumentation vor sich, die anlässlich eines Tötungsfalls auf dem internationalen Territorium der UN erstellt werden müsste. Er konnte sich vorstellen, welche Zuständigkeitsprobleme sich dabei auftaten: Wer würde die Ermittlungen übernehmen, das NYPD oder die Sicherheitsorgane der UN? Wer würde die Leitung haben? Hennings Antwort überraschte ihn.
»Als Erstes möchte ich, dass du die Jungs vom NYPD, die an dem Fall dran sind, im Auge behältst. Inzwischen dürften sie den Toten gesehen haben; sie werden wissen, dass wir Mist gebaut haben. Du musst ihnen über die Schulter gucken. Nur für diesen ersten Tag: Ich hab meine Eier da rausgehängt und ein Riesending daraus gemacht; also kann ich jetzt keinen Grünspecht damit beauftragen, wenn wir nicht wie Blödmänner aussehen wollen. Verschaff dir einen Eindruck von dem, was sie machen, und dann gibst du die Sache ab.«
»Und dann?«
»Dann musst du diese ganze Kiste zunageln, Tom. Schaff sie aus der Welt. Die Blamage ist einfach zu groß. Es darf nicht sein, dass die trauernde Familie ein Foto ihres Großvaters in die Fernsehkameras hält und verlangt, dass der verdammte Generalsekretär und alle möglichen anderen Leute ins Gefängnis kommen. Du musst nach England fliegen, die Familie ausfindig machen und tun, was nötig ist, um die Sache aus der Welt zu schaffen. Leg dir einen englischen Akzent zu. Das volle Programm.«
»Ich brauche mir keinen englischen Akzent zuzulegen.«
»Noch besser. Spiel den charmanten Briten, bitte sie überschwänglich um Entschuldigung, biete ihnen eine fette Entschädigung – was immer sie wollen. Sie sollen nur keinen Wirbel machen. Keine Fotos vom Generalsekretär oder ähnlicher Blödsinn. Der Mann ist neu. Wir dürfen ihn nicht damit in Verbindung bringen.«
Tom zog an seiner Zigarette. Er sah, welche Interessen dahintersteckten: Nach seinem Weggang gab es im Büro des Justitiars keinen Briten mehr. Außerdem war es wahrscheinlich hilfreich, einen externen Anwalt dafür zu gewinnen: Es brachte eine Armlänge Distanz, so dass die UN weniger Schmutz abkriegen würden, wenn Tom zu miesen Tricks greifen müsste, um Resultate zu erzielen.
Dabei war es kaum ein hochklassiger juristischer Auftrag. Er brauchte nicht mit Juristen des Außenministeriums oder Diplomaten zusammenzuarbeiten. Wahrscheinlich würde er es nur mit irgendeinem Londoner Aasgeier zu tun bekommen, einem Anwalt, der verzweifelt darauf aus war, den Vereinten Nationen einen Topf voll Bargeld abzuluchsen. Eine ziemliche Verschwendung angesichts seiner beruflichen Laufbahn: elf Jahre als Anwalt für internationales Recht bei den Vereinten Nationen, und vorher unter anderem Prozessanwalt bei einer Firma in der Londoner City und drei Jahre Dozent am University College in London.
»Es gibt jede Menge Briten, die das übernehmen könnten, Henning. Vielleicht nicht auf dem Toplevel, aber gleich darunter. Absolut fähige Anwälte. Warum ich, Henning?«
»Weil du zuverlässig bist.«
Tom zog die Brauen hoch. Ein Anwalt, der aus dem UN-Dienst ausgeschieden war, wie er es getan hatte, war nicht das, was man dort als zuverlässig bezeichnen würde. Komm schon, sagten seine Augenbrauen. Sag die Wahrheit.
»Okay, du bist nicht im konventionellen Sinn zuverlässig. Aber du bist jemand, auf den ich mich verlassen kann.«
Toms Gesicht verriet, dass Schmeicheleien hier nicht weiterführten.
Henning seufzte resigniert. »Du weißt, wie sie sind, die jungen Anwälte hier, Tom. Herrgott, vor nicht allzu langer Zeit waren wir beide doch genauso. Voll von idealistischem Bullshit über die UN als ›ultimativem Garant der Menschenrechte‹ und diesem ganzen Quatsch.«
»Und?«
»Und davon können wir im Moment nichts gebrauchen. Wir brauchen jemanden, der tut, was getan werden muss.«
»Du brauchst einen Zyniker.«
»Ich brauche einen Realisten. Außerdem hast du keine Angst davor, das Buch der Regeln hin und wieder zur Seite zu legen. In diesem Fall könnte es nötig sein.«
Tom sagte nichts.
»Vor allem weiß ich, dass die Interessen der Vereinten Nationen für dich an oberster Stelle stehen.« Die Andeutung eines Lächelns, das um Hennings Mundwinkel spielte, verriet, wovon er redete. Er konnte nicht riskieren, sich mit einem britischen Anwalt einzulassen, der – wie sollte man es ausdrücken? – seine beruflichen Bündnispflichten aus den Augen verlor. Es bestand immer die Gefahr, dass ein Brite einen seiner alten Kommilitonen im Außenministerium oder im Commonwealth Office anrief, nur um sie auf dem Laufenden zu halten. Ein Lunch in Whitehall, eine kleine Plauderei – was schadete das? Aber bei Tom Byrne, dem Absolventen der Sheffield Grammar School und der University of Manchester, bestand diese Gefahr nicht. Man konnte sich darauf verlassen, dass er die Vereinten Nationen nicht an das Netzwerk seiner Old Boys verriet, und zwar aus einem einfachen Grund: Er hatte kein Netzwerk von Old Boys.
»Du kennst mich: Ich bin ein Weltbürger.«
»Ich wusste, ich kann mich auf dich verlassen, Tom.«
»Du hast eine Menge für mich getan, Henning. Das hab ich nicht vergessen.«
»Danach sind wir quitt. Wirklich. Und das soll übrigens nicht heißen, dass du nicht anständig bezahlt wirst.«
»Nicht nach dem beschissenen UN-Tarif?«
»Hierfür gibt es einen separaten Etat, Tom. Aus dem Notfallfonds.«
»Ich soll der Familie also geben, was sie haben will.«
»Yep. Deine Aufgabe ist es, dafür zu sorgen, dass nach dem heutigen Tag kein Mensch je wieder etwas über den toten alten Mann hört. Wenn er begraben wird, will ich, dass die ganze Geschichte mit ihm begraben wird.«