58
»Ich gebe zu, ich gehe hier ein enormes Risiko ein. Manche halten mich für tollkühn.« Mit unbestimmter Gebärde deutete er zur Tür, und Tom vermutete, er meinte die jungen Assistenten, die im Nachbarzimmer herumwimmelten. »Man sagt, ich sei während meiner gesamten Laufbahn immer vorsichtig gewesen. ›Vorsichtig‹ ist die freundliche Formulierung. Einer meiner Biographen bevorzugte den Ausdruck ›feige‹. ›Die Kühnheit seiner Rhetorik stand immer im umgekehrten Verhältnis zu der Courage seines Handelns. In einer Nation von Kämpfern hatte er das große Pech, als Feigling geboren zu sein.‹ So lautet das vollständige Zitat.«
Tom sah zu Rebecca hinüber; hoffentlich konnte sie sich einen Reim auf diese bizarre Szene machen. Aber sie starrte den Präsidenten nur an, als warte sie auf seine Erklärungen.
Und dann fiel ihm Münchaus Liste wieder ein, die Liste aller über zweiundsiebzigjährigen Teilnehmer der UN-Vollversammlung, um die Tom ihn gebeten hatte. Den chinesischen Dolmetscher und den Außenminister der Elfenbeinküste hatte er gleich beiseitegewischt. Und er hatte keinen zweiten Gedanken daran verschwendet, als Henning gesagt hatte: »Der Präsident des Staates Israel ist hier. Er ist vierundachtzig.«
Henning. Tom legte eine Hand an die Stirn. Er schämte sich. Auf das plumpste Klischee war er hereingefallen, er hatte seinen alten Freund – den Mann, der ihm eine zweite, dritte und vierte Chance gegeben hatte, als er abgestürzt war und seine übrigen Kollegen ihn abgeschrieben hatten – als Schuldigen verdächtigt. Er hatte sich geirrt. Weil Henning Deutscher war, hatte Tom entschieden, er müsse im Dienst der Nazis stehen, selbst wenn das bedeutete, eine Bande von Gorillas mit Lauschangriffen und Einbrüchen in ganz London zu beauftragen. Nie wieder würde er Henning Münchau in die Augen sehen können.
Der Präsident war inzwischen von dem Panoramafenster herübergekommen. Er ging an der Couch vorbei und zog sich einen einfachen Stuhl mit einem rot-weiß gestreiften Chintzbezug heran. Als er sich hingesetzt hatte, holte Tom tief Luft. Dieses Bild war ihm vertraut von hundert verschiedenen Fotos auf den außenpolitischen Seiten der Zeitungen. Was fehlte, war nur der dazu passende Stuhl ihm gegenüber, auf dem ein amerikanischer Außenminister oder ein pro-westlicher Araberführer saß. Tom wartete fast darauf, dass der alte Mann die Hand hinüberstreckte und einen langgezogenen Händedruck für die Kameras zelebrierte.
»Aber die Leute beurteilen mich falsch. Ich war immer vorsichtig insofern, als ich immer alles kalkuliert habe. Jeden Schritt, den ich je getan habe. Manchmal ergab diese Kalkulation, dass Kühnheit oder Tapferkeit notwendig war. Sogar Tollkühnheit. In diese Kategorie fällt unser Meeting hier.«
»Sie reden dauernd von einem Meeting.« Tom war froh und erleichtert, als er seine eigene Stimme hörte. Die Wut, die sein Blut zum Kochen gebracht hatte, war ohne sein Zutun hervorgebrochen. Gut so. »Aber Sie haben uns entführen lassen, um uns herzubringen. Sie haben uns betäuben und gewaltsam festhalten lassen. Das hier ist kein Meeting. Es ist ein Verbrechen.«
»Wie ich schon sagte, Mr.Byrne. Ich gehe ein hohes Risiko ein. Aber ich hoffe, Sie werden bald verstehen, warum ich das tun muss. Wie so vieles von dem, was mein Land getan hat und vom Rest der Welt missverstanden wurde, ist auch dies ein Fall, in dem wir eine bedauerliche Tat begangen haben, damit wir etwas viel Schlimmeres nicht tun mussten.«
»Bedauerlich? Bedauerlich? Was Sie getan haben –«
»Mr.Byrne.« Der Präsident hob einen Zeigefinger. Tom hätte nicht erklären können, warum, aber es funktionierte: Es brachte ihn zum Schweigen, wie die erhobene Handfläche eines Politikers einen feindseligen Interviewer verstummen lassen konnte. »Bitte lassen Sie mich erklären. Es gibt da etwas, das ich wissen muss. Präziser ausgedrückt, ich muss wissen, ob Sie es wissen. Die einfachste Methode – und es gibt Leute, die sie ohne Zögern angewandt hätten – hätte darin bestanden, jemanden zu Ihnen zu schicken, der Sie auf eine Weise darüber befragt hätte, die Sie dazu gebracht hätte, es ihm zu sagen. Drücke ich mich verständlich aus?« Er wartete nicht auf eine Antwort. »›Robuste Vernehmung‹ nennen die Amerikaner so etwas. Ich habe keine Ahnung, welchen Fachausdruck unser Geheimdienst heutzutage verwendet. Ich war zu lange weg von diesen Dingen, von der Front, sozusagen. Ich habe heute eine zeremonielle Funktion; ich zünde die Chanukka-Kerzen an, ich überreiche Auszeichnungen, ich gehe zu den Beerdigungen von Staatsmännern, die jünger waren als ich.« Wieder dieser wehmütige Ausdruck. »Ich musste eine Gefälligkeit einfordern, damit diese Operation durchgeführt wurde. Sie haben es um der alten Zeiten willen für mich getan.
Wie dem auch sei – ich will sagen, es gab Abkürzungen, die wir hätten nehmen können, um herauszufinden, was Sie wissen. Wir hätten Sie direkt und auf eine wenig nette Weise danach fragen können. Aber das wollte ich nicht. Nicht bei einer Tochter der Shoah.« Zum ersten Mal schaute er Rebecca wirklich an.
Tom sah, dass sie seinem Blick standhielt. Wusste sie womöglich, wovon der alte Mann sprach?
»Sie haben es aus Freundlichkeit getan?«, fragte sie jetzt. »Wollen Sie das damit sagen?«
»Ich muss mich entschuldigen, Dr.Merton. Besonders bei Ihnen. Natürlich erwarte ich nicht, dass Sie das, was ich getan habe, als Freundlichkeit empfinden. Ebenso wenig, wie irgendjemand Israel Behutsamkeit zugutehält, wenn unsere Soldaten sich in ein Schlangennest begeben und zu Fuß nach Terroristen fahnden, wenn sie Haus für Haus durchsuchen, eine verminte Tür nach der anderen öffnen und dabei Dutzende ihrer Kameraden verlieren, während die Amerikaner – und übrigens auch die Briten, Mr.Byrne – es vorziehen, aus fünftausend Metern Höhe Bomben abzuwerfen. So macht man es doch im Irak oder in Afghanistan, oder? Viel sauberer als das, was wir tun.
Deshalb – nein, Dr.Merton, ich erwarte keinen Dank. Aber Sie müssen wissen, dass das, was Sie in den letzten zwei Tagen erleiden mussten, nur geschehen ist, weil ich mich geweigert habe, die Alternative auch nur in Betracht zu ziehen. Ich habe unter zwei Übeln das geringere gewählt.«
»Sie haben jemanden umgebracht. Sie haben einen Freund meines Vaters ermordet. Henry Goldman ist durch Sie gestorben!«
Der Präsident senkte den Kopf. »Ich muss Sie noch einmal um Verzeihung bitten. Das war niemals beabsichtigt. Es war ein schrecklicher Unfall. Sie sind Ärztin. Wie ich höre, haben Sie den Toten gefunden. Ich hoffe, Sie haben ihn untersucht. Ich hoffe, Sie haben gesehen, dass Henry Goldman eines natürlichen Todes gestorben ist. An einem Herzinfarkt.«
»Den Sie verursacht haben!«
»Er hatte ein schwaches Herz, und er hat einen großen Schreck bekommen. Aber er sollte nicht sterben. Denken Sie daran, auch er war ein Sohn der Shoah. Ich habe niemals gewollt, dass ihm etwas zustößt.«
Tom fragte sich, ob das alles nur das Theaterspiel eines Politikers war. Wenn ja, war es sehr gut. Aber er hatte schon viel diplomatischen Bullshit auf hoher Ebene miterlebt, und das hier war anders. Da war etwas ganz anderes in den Augen des Präsidenten: die Trauer eines alten Mannes.
»Ich weiß nicht, wie ich diese Tragödie wiedergutmachen kann. Aber ich möchte es gern tun. Und nach seinem Tod habe ich entschieden, dass es genug war. Es war an der Zeit, Ihnen offen entgegenzutreten. Keine Spielchen mehr. Wir mussten uns von Angesicht zu Angesicht sehen.«
Tom geriet schon wieder in Rage. »Und da haben Sie sich gedacht, Sie betäuben uns einfach und –«
Der Präsident hob die Stimme. »Was hätte ich denn sonst tun sollen? Es gab keine Möglichkeit, mit Ihnen in Kontakt zu treten, ohne mich zu offenbaren. Keine andere Möglichkeit für ein persönliches Treffen. Aber das musste stattfinden. Sie werden es gleich verstehen. Sie werden sehen, wie ich diesen Schritt kalkuliert habe.«
»Aber wenn wir diesen Raum verlassen haben, werden wir jedem Reporter, der uns zuhören will, erzählen, was Sie getan haben. Dann sind Sie erledigt.«
»Natürlich habe ich dieses Risiko in Betracht gezogen. Und ich bin zu dem Schluss gekommen, dass es nicht so groß ist, wie Sie jetzt andeuten. Denn wie wollten Sie das alles beweisen?«
Tom zögerte. Die Ereignisse der letzten Stunden – er wusste gar nicht, wie viele es gewesen waren –, gingen ihm durch den Kopf. Er dachte an Starbucks, an das Treffen mit Richard. Zeugen würden nur gesehen haben, wie Rebecca und er freiwillig hinausgingen. Die Droge, die Richard ihnen in den Kaffee getan hatte, hatte sie nachgiebig und gehorsam werden lassen. Es hatte keine Szene gegeben; sie waren freiwillig in seinen Wagen gestiegen.
Und dann? Für das, was danach gekommen war, hatte Tom keine Belege. Nicht die Krankenhaushemden, ja, nicht einmal irgendein Stück Papier aus der Klinik. Wie wollte er beweisen, dass sie dort gewesen waren?
Da fiel es ihm ein. Vor Aufregung fing er fast an zu schreien. »Aber wir sind in New York! Und es gibt keinerlei Unterlagen darüber, wie wir hergekommen sind! Wie wollen Sie das erklären? Ohne Bordkarte, ohne Stempel im Pass?« Er wusste, dass er zu laut sprach.
»Ich fürchte, für all das ist gesorgt worden. Wenn Sie von hier fortgehen, wird man Ihnen Ihre Pässe zurückgeben, und sie werden alle nötigen Stempel enthalten. Und wenn Sie wieder zu Hause sind, Dr.Merton, werfen Sie einen Blick in Ihre Kontoauszüge. Sie werden sehen, dass Sie den Bargeldbetrag für zwei Tickets nach New York abgehoben haben. Es gibt auch zwei Bordkartenabschnitte. Mein junger Mitarbeiter sagt, Sie haben sogar Vielfliegermeilen bekommen.« Er lächelte kaum merklich. »Die Technologie heutzutage macht so vieles möglich. Für Ihren Vater, für ihn und seine Freunde, gab es nur das, was sie mit Tinte und Papier fälschen konnten. Und sie haben trotzdem Bemerkenswertes geleistet.«
Tom sprang auf und tat einen Schritt vorwärts. Er stand dicht vor dem Präsidenten und überragte ihn turmhoch, aber der alte Mann – dessen Biograph ihn als Feigling bezeichnet hatte – schien kein bisschen Angst zu haben.
»Ich werde Sie nicht beleidigen, Mr.Byrne, indem ich Sie daran erinnere, wie riskant es ist, ein Staatsoberhaupt körperlich zu attackieren. Zumal wenn es vierundachtzig Jahre alt ist. Nicht einmal ein sehr guter Rechtsanwalt wie Sie könnte sich da herausreden.«
Tom wich zurück, aber er blieb stehen. »Was Sie da erzählen, ist völlig unwichtig. Sie haben zugegeben, dass Sie unsere Entführung veranlasst haben, dass Sie für den Einbruch in Rebeccas und in der Wohnung ihres Vaters verantwortlich sind, und dass Sie an Henry Goldmans Tod mitgewirkt haben. Wir brauchen der Welt nur zu erzählen, was Sie bereits gestanden haben!«
»Und wer sollte Ihnen glauben?«
Tom war verblüfft. »Was zum Teufel soll das heißen?«
»Wer sollte einem Mafia-Knecht wie Ihnen glauben? Einem bezahlten Dienstboten des organisierten Verbrechens, einem Laufburschen der Familie Fantoni aus Newark, New Jersey? Der man, falls Sie es vergessen haben, organisierte Erpressung zur Last legt, Geldwäscherei, Rauschgifthandel, natürlich Prostitution – muss ich noch weiterreden?«
Tom schluckte sichtbar und angestrengt. Er spürte Rebeccas Blick auf sich, und er konnte sie nicht anschauen. Sein Gesicht glühte.
»Oh, das tut mir leid. Vielleicht ist das etwas, das Sie Dr.Merton noch nicht anvertraut haben. Ich habe wohl mehr Einzelheiten preisgegeben, als unbedingt nötig war. Ich bitte um Verzeihung. Der springende Punkt ist: Niemand wird Ihnen glauben, was Sie erzählen. Einem Rechtsanwalt, der erst durchgedreht ist und dann seine Seele an Don Corleone verkauft hat.«
Rebeccas Stimme war leise, aber sie bebte vor Zorn. »Ihre Gorillas haben uns offensichtlich etwas injiziert. Spuren davon werden in unserem Blutkreislauf nachweisbar sein. Und wir werden Einstiche in der Haut haben.«
»Und Sie sind sicher, dass Sie darauf hinweisen möchten, Dr.Merton?«
Tom drehte sich um und sah, dass Rebecca blass geworden war. »Wovon sprechen Sie?«
»Ich rede davon, dass Sie wahrscheinlich etliche Einstiche in Ihrer Haut haben.«
Sie schüttelte ungläubig den Kopf. »Das ist zehn Jahre her. Woher wissen Sie –«
»Man kann über jeden alles herausfinden, wenn man es wirklich will. Im Grunde läuft die Arbeit eines Geheimdienstes nur darauf hinaus. Sie haben sich in der Vergangenheit gewohnheitsmäßig Drogen injiziert, und das bedeutet –«
»Ich habe es nicht gewohnheitsmäßig getan! Ich habe mir Drogen injiziert, aber ich war niemals süchtig!«
»Ist das Ihre klinische Definition?«
»Es war ein Fehler. Es ging mir sehr schlecht –«
»Das ist mir gleichgültig. Ich habe liberale Ansichten in diesen Dingen. Aber es könnte Ihre Position – als Ärztin, meine ich – ein wenig kompliziert machen. Drücken wir es einmal zurückhaltend aus.«
Tom ließ sich auf seinen Stuhl fallen. Ausgerechnet Rebecca. Das hätte er niemals vermutet. Wie unglücklich musste sie gewesen sein, dass sie so weit gegangen war. Er dachte an das, was sie über das Aufwachsen in ständiger Dunkelheit gesagt hatte. Er streckte die Hand zu ihr hinüber und griff nach der ihren. Es war das erste Mal, dass sie sich berührten, seit sie dieses Zimmer betreten hatten.
Er begriff, dass der alte Mann sie in die Enge getrieben hatte. Keiner von ihnen konnte jemandem etwas erzählen. Wenn sie es täten, würde man sie für paranoid halten – verrückt wie die Leute, die E-Mails an die überregionale Presse schickten und behaupteten, sie seien von Außerirdischen entführt worden, oder die Königliche Familie habe es auf sie persönlich abgesehen. Sie waren gründlich ausmanövriert worden. Tom sank auf seinem Stuhl zusammen und wartete auf den nächsten Schlag.
Rebecca sprach wieder, leiser als vorher. »Ich verstehe das nicht. Sie waren der Führer Israels. Wir haben alles über Sie in der Schule gelernt. Wie können Sie der Feind meines Vaters sein?«
Der alte Mann seufzte und stand langsam auf. Zum ersten Mal sah man ihm sein Alter an. Mit bedächtigen Schritten ging er zurück zum Fenster. Die Stadt funkelte in der Morgensonne.
Ohne sich umzudrehen, fing er leise an zu sprechen. »Sie haben recht, wenn Sie diese Präliminarien jetzt hinter sich lassen wollen. Wir haben die Grundregeln geklärt. Es wird Zeit, dass wir zum Kern der Sache kommen. Sprechen wir über DIN.«