Als Erstes mussten wir uns für ein Ziel entscheiden. Dabei hatte ich natürlich nichts zu sagen; ich war ja noch ein Junge. Das übernahmen andere, die Anführer. Einer von ihnen war der Mann, den ich im Keller im Ghetto von Kowno gesehen hatte, in dieser Kerzennacht. Sein Name war David. Die beiden andern waren 1946 schon tot, getötet bei der letzten Aktion, bei der das Ghetto endgültig geleert wurde. Das wusste ich nicht mit Sicherheit, nicht damals jedenfalls, aber ich nahm es an. Wenn man nichts anderes hörte, wenn man jemanden nicht sah oder ihm auf der Straße begegnete oder ein Gerücht hörte, nahm man am besten an, dass dieser Jemand nicht mehr da war. 1946 waren alle tot.

Aber ein paar Anführer des Widerstands hatten überlebt, und sie kamen aus den abgebrannten Ghettos und den rauchenden Ruinen der Städte hervor, und sie und ein paar Leute aus den Lagern waren die Gründer des DIN. Ich war noch ein Teenager, aber ich wollte, dass sie mich als Kämpfer sahen, als einen Mann, der sich schon bewiesen hatte. Und obwohl ich noch so jung war, behandelten sie mich tatsächlich wie einen Mann. Wer erlebt hatte, was wir erlebt hatten, war kein Kind mehr, ganz gleich, wie jung er sein mochte. Die Kindheit war vorbei.

Ich gehörte also nicht zu denen, die Entscheidungen zu treffen hatten, aber ich hatte gute Ohren, und ich lauschte. Wir hockten in einem Unterschlupf in München, und eines Abends, als ich das Essgeschirr abräumte, hörte ich, dass die Kommandanten einen Ort öfter als andere erwähnten: Nürnberg.

Sie hatten erfahren, dass die Alliierten außerhalb der Stadt ein Gefängnis eingerichtet hatten, in dem Nazis zur »Vernehmung« untergebracht waren. Und zwar nicht irgendwelche Nazis, sondern die wichtigen. »Da sitzen achttausend SS-Leute«, sagte David. Seine Augen blickten dunkel und wild, und er hatte dichtes, krauses Haar. Ich habe ihn niemals lächeln sehen. »Und keine kleinen Fische«, fuhr er fort. »Sie sitzen da wegen schwerer Kriegsverbrechen. Wegen schwerer Kriegsverbrechen. Alle sind sie da: die Führungsoffiziere aus den Lagern, den Politischen Abteilungen. Gestapo, Einsatzgruppen – alle.«

Es war offensichtlich, dass ihn die Leute aus den Politischen Abteilungen am meisten interessierten. Unter ihnen befanden sich mit Sicherheit leitende Bürokraten, die mitgeholfen hatten, die Endlösung zu organisieren. So hatten die Nazis ihr Morden genannt. Sie bezeichneten es nicht als Massenmord, wenn sie Stunde um Stunde Menschen umbrachten, wie eine Fabrik ihre Erzeugnisse verarbeitet. Nein, sie nannten es »die Endlösung der Judenfrage«.

Aber ich dachte nicht an diese Bürokraten, während ich das Geschirr abwusch und so tat, als hörte ich nicht zu. Ich dachte an die Einsatzgruppen, an die mobilen Killerkommandos, die von einem Ort zum anderen gezogen waren und gemordet und gemordet und gemordet hatten. Sie waren es, die meine Schwestern bei der Neunten Festung getötet hatten.

David hatte Nachforschungen angestellt, und zwar mit Hilfe eines DIN-Freiwilligen, der nach Nürnberg gekommen war, und dieser hatte ermittelt, woher das Brot für das Gefangenenlager kam: aus einer mittelgroßen Bäckerei am Rande der Stadt. Die Anführer sprachen noch eine Weile miteinander, jetzt mit leiser, gedämpfter Stimme. Irgendwann verstummten sie ganz. Ich schrubbte gerade das Fett aus einer Pfanne, und als ich mich umdrehte, sah ich, dass sie mich alle anschauten – mit dem gleichen Gesichtsausdruck, den ich drei Jahre zuvor in dem Keller im Ghetto gesehen hatte.

 

Sie gaben mir die Adresse und sagten mir, mit wem ich in der Bäckerei sprechen sollte: mit dem Vorarbeiter. Sie hatten ihn mir beschrieben: klein, mit gewölbter Brust und einem fast immer geröteten Gesicht. Ich sollte mich ordentlich zurechtmachen, ihn aufsuchen und ihm meine Geschichte erzählen.

Die Beschreibung war gut, und ich erkannte ihn gleich, als ich hereinkam. »Ich heiße Tadeusz Radomski«, begann ich, »und ich muss das Bäckerhandwerk lernen.« Ich sei Pole, erzählte ich, und ich hätte einen Onkel in Montreal, der eine Bäckerei habe und bereit sei, mir einen Job zu geben. »Ich brauche nur noch ein Visum, aber für Kanada dauert das ein Weilchen. Während ich darauf warte, möchte ich etwas lernen. Mein Onkel sagt, ich brauche Erfahrung –«

»Tut mir leid«, sagte der Bäckereiaufseher und wischte sich seine mehlbestäubten Hände an der Schürze ab. »Wir haben keine Stelle frei.«

»Ich will gern umsonst arbeiten«, sagte ich.

»Keine Stelle frei.«

Und wie wir es in unserem Unterschlupf besprochen hatten, fuhr ich fort: »Mein Onkel sagt, ich soll Ihnen das hier zeigen.« Ich öffnete meine Segeltuchtasche, und als der Mann sah, was darin war, winkte er mich nach hinten ins Büro. Ich hatte ihm eine Flasche Scotch Whisky und zwei Tafeln Schokolade gezeigt. Neben Zigaretten war das die Währung in der Besatzungszone, und er wusste, was es wert war. »Mein Onkel sagt, das können Sie haben, und es gibt mehr, wenn ich einen Monat gearbeitet habe.« Am selben Nachmittag fing ich an zu arbeiten. Ohne Lohn.

So wurde ich Bäckerlehrling; ich lernte alles vom Teigkneten und -rollen bis zum Glasieren und Überzuckern von Kuchen. Freiwillig leistete ich zusätzliche Arbeit, schrubbte Töpfe und scheuerte die Öfen. Wenn ein Botengang erledigt werden musste, übernahm ich es. Ich sprach wenig und arbeitete fleißig. Niemand sollte sich über mich beklagen, und der Aufseher sollte mir restlos vertrauen, damit ich überall in der Bäckerei arbeiten konnte. Ich hatte die Aufgabe, genau herauszufinden, wie das System funktionierte, und zwar in jeglicher Hinsicht: Wann die Mehlzuteilungen von den Amerikanern angeliefert wurden, wo sie gelagert wurden, wann welche Schicht begann, wann sie zu Ende war, und wie die Bäckerei bewacht wurde. Vor allem sollte ich feststellen, wie die Tausende von Broten für Stalag 13, das Nazi-Gefängnis, gebacken und wann und wohin sie transportiert wurden.

Ich tat, was ich konnte, und stellte niemals eine direkte Frage. Ich hielt einfach Augen und Ohren offen. Ich plauderte mit niemandem; für mich war jeder, der dort arbeitete, ein Judenmörder, aber sie sollten denken, ich sei nur deshalb so schweigsam, weil ich ein einsamer Waisenjunge war, der hart arbeitete, um im Ausland ein neues Leben anzufangen. Seltsam, aber erst jetzt, da ich dies schreibe, wird mir klar, dass ich überhaupt nicht schauspielerte. Ich war ja genau das: ein einsamer Waisenjunge.

Und eines Tages kamen die amerikanischen Militärlaster wie gewöhnlich kurz vor dem Morgengrauen, um das Brot abzuholen. Ich hatte in der Nachtschicht gearbeitet – ich hatte mich freiwillig dafür gemeldet – und stand draußen auf der Laderampe, als ich hörte, wie sich einer der amerikanischen Fahrer beschwerte, weil sein gewohnter Partner sich krankgemeldet hatte: Er brauchte jemanden, der ihm auf der anderen Seite beim Abladen half. Der Aufseher sah mich nur einmal an und schickte mich mit einem Wink des Zeigefingers zu dem Lastwagen: »Er kommt mit.«

Und so saß ich vorn im Führerhaus neben dem Amerikaner und gab mir große Mühe, nicht seine Uniform anzustarren. Das Kaugummi, das er mir anbot, wies ich zurück, aber ich nahm eine Zigarette, obwohl ich nicht rauchte, denn ich wollte nicht aussehen wie ein Kind, das keine Zigaretten vertrug. Ich hielt sie zwischen den Lippen, saugte ab und zu daran und schaute schweigend aus dem Fenster, als wir durch den Bombenkrater namens Nürnberg fuhren. In meiner Erinnerung sehe ich heute eine Landschaft, die aussah wie die Oberfläche des Mondes. Berge von Schutt erstreckten sich endlos zu beiden Seiten der Straße, und hier und da ragte ein einzelnes Gebäude, das die Bomben verschont hatten, aus dem ganzen Rest herauf wie ein Erwachsener in einem Kindergarten.

Als wir am Stalag 13 ankamen und der amerikanische Posten am Tor uns durchwinkte, spürte ich ein Prickeln im Nacken. Dies, das wusste ich, war ein Konzentrationslager gewesen. Es war umgeben von Stacheldraht, und dahinter reihte sich eine Holzbaracke an die andere, Baracken, in denen Juden gewohnt hatten, die Sklavenarbeit leisten mussten und dann in den Tod geführt worden waren. Jetzt waren sie voll von den Männern, die sie gequält und ermordet hatten. Ich musste beide Fäuste ballen, um mich zu beherrschen und mein Zittern zu unterdrücken.

»Okay, here we go«, sagte der Fahrer; er hielt an und sprang aus dem Laster. Gestikulierend wies er mich an, die Brotwagen abzuladen; jeder enthielt ein Dutzend Bleche, und auf jedem Blech lagen zwei Dutzend Brote. Wir parkten vor der Lagerküche, und ich brauchte eine Menge Zeit zum Abladen; ich schätzte, dass wir zusammen mit den anderen Lastwagen ungefähr neuntausend Brote ablieferten. Lauter Schwarzbrote.

»Was ist mit dem Weißbrot?«, fragte ich auf Deutsch.

Der Fahrer schüttelte den Kopf und runzelte die Stirn. Er verstand mich nicht. Mit einer Kombination aus Handzeichen und einer Pidgin-Mischung aus Deutsch und Englisch gelang es mir, meine Frage an den Mann zu bringen. Schließlich nickte er und deutete nach hinten auf einen einzelnen Lastwagen, der am anderen Ende des Gefangenenlagers entladen wurde. So also wurde es gemacht: Neuntausend Schwarzbrote für die gefangenen Nazis wurden mit mehreren Lastwagen zur Gefängnisküche gebracht; einen davon hatte ich eben entladen. Und ein einzelner Laster brachte tausend Weißbrote für das amerikanische Wachpersonal zu einer anderen Küche. Der Fahrer zeigte auf das Schwarzbrot und tat, als müsse er sich übergeben. Dann deutete er hinüber zu den Weißbroten und klopfte sich auf den Magen. Er wollte mir erklären, dass die Amerikaner das grobe, schwere Schwarzbrot nicht ausstehen konnten und das weiße brauchten, wie sie es auch zu Hause bekamen.

Ich musste mich anstrengen, um mein Lächeln zu unterdrücken, als wir zur Bäckerei zurückfuhren und als ich später nach Hause ging. Als ich in der Wohnung war, die wir in Nürnberg gemietet hatten – ein neues Versteck –, konnte ich endlich einen lauten Freudenschrei ausstoßen. »Das wird einfach werden«, sagte ich. »Das wird einfach werden.«

Noch am selben Abend informierte ich die Kommandanten, voller Stolz auf die Entdeckung, die mir gelungen war. Wir brauchten uns nur um das Schwarzbrot zu kümmern; alles, was wir damit anstellten, würde die Amerikaner nicht betreffen. Es würde die einfachste und zugleich größte DIN-Operation werden.

Aber dann kam Rosa mit schlechten Nachrichten.

Wir alle mussten uns eine Arbeit suchen. Mein Freund Sid Steiner – damals hieß er mit Vornamen Solomon – hatte in München ebenfalls das Backen erlernt, denn wir hofften, wir würden die Nürnberger Operation dort wiederholen können, vielleicht sogar in derselben Nacht. Rosas Aufgabe war nicht weniger wichtig. Sie hatte den Auftrag bekommen, sich einen Freund zu suchen – nicht irgendeinen, sondern einen amerikanischen. Viele Frauen im besetzten Deutschland taten das Gleiche. Nicht alle waren Deutsche – manche waren auch Polinnen, Tschechinnen oder Ungarinnen, die in Berlin oder Nürnberg gestrandet waren wie Treibholz am Ufer. Sie freundeten sich mit jedem Mann an, der eine amerikanische Uniform trug, mit jedem, der ihnen Aufmerksamkeit schenkte, aber auch Kaffee, Zigaretten und Corned-Beef-Konserven. Diese Frauen waren verzweifelt und sparten nicht mit ihren Zärtlichkeiten. Rosas Aufgabe war es, so zu tun, als sei sie eine von ihnen. Ich hatte keine Ahnung, welche Nationalität sie dabei annehmen würde. Aber sie sah nicht besonders jüdisch aus, abgesehen von ihren toten Augen, tot nach allem, was sie gesehen hatte. Diese Augen mussten jedem auffallen, der hinschaute. Aber zum Glück schauten die Männer nicht so genau hin.

Niemand fragte, ob sie etwas dagegen hatte, sich auf diese Weise benutzen zu lassen; es war einfach ihre Pflicht. Der Befehl war ergangen, und als Kämpferin, Partisanin und jetzige Soldatin des DIN würde sie gehorchen. Auch ich wurde nicht gefragt, obwohl Rosa und ich zu der Zeit ein Paar waren. Vielleicht wusste das niemand; vielleicht nahmen die Leute an, ich sei zu jung für so etwas.

Also machte Rosa sich an den GI heran, der für die amerikanische Kantine im Stalag 13 verantwortlich war. Ob sie mit ihm ins Bett ging? Damals redete ich mir ein, dass sie es nicht tat, aber heute sehe ich etwas anders: Ich sehe ihn, wie er auf ihr liegt und auf sie einrammelt, ohne die Augen, still und glasig, in ihrem Gesicht zu sehen.

Jedenfalls – dieser Sergeant machte sich lustig über ein paar seiner Offiziere, gesundheitsbewusste Kerls aus Boston oder Neu-England. »Du wirst es nicht glauben«, sagte er, »aber sie weigern sich, amerikanisches Weißbrot zu essen. Sie wollen das braune Zeug, das die Krauts fressen!« Deshalb müsse er jeden Morgen dafür sorgen, dass einhundert Nazi-Brote vom Rest abgezweigt und an die amerikanische Küche geliefert wurden. »Verrückt, das sind sie!«

Was ich da erfuhr, war eine Katastrophennachricht. Wenn wir uns an dem Schwarzbrot zu schaffen machten, würden wir ein paar Amerikaner in Mitleidenschaft ziehen, und einen solchen Angriff würden sie nicht straflos hinnehmen. Sie würden uns jagen.

Es gab noch weitere Komplikationen. Ich stellte mir vor, dass es bei einem entspannten Bettgeflüster geschah: Rosas Boyfriend erzählte, er habe einen anstrengenden Tag gehabt. Er habe nicht nur seinen eigenen Laden am Laufen gehalten, sondern auch noch eine Stichprobenkontrolle der Gefangenenküche vornehmen müssen. Das mussten sie ungefähr einmal wöchentlich tun: Sie mussten die Küchengeräte überprüfen und sicherstellen, dass keine Messer gestohlen worden waren, und vor allem mussten sie darauf achten, dass die Lebensmittellieferungen nicht als Tarnung für Schmuggeleien benutzt wurden. Es war schon vorgekommen, dass Häftlinge Waffen und sogar Zyankali-Kapseln in einem Brot oder einem Sack Zucker versteckt hatten. Alles, was in diese Küche gebracht wurde, musste kontrolliert werden, nicht jeden Tag, aber oft. Grässlich – es verlängerte seinen Arbeitstag um Stunden! Wahrscheinlich strich Rosa dem Sergeant mitfühlend über die Stirn und dachte im Stillen schon daran, was sie den Anführern in der Wohnung erzählen würde: Es gebe keine Garantie, dass verunreinigtes Brot nicht kontrolliert, untersucht und vielleicht entdeckt werden würde.

Rosa und ich taten, was man uns sagte; wir spionierten jedes Detail aus und übermittelten es unseren Kommandanten. Ich wurde angewiesen, einen genauen Plan der Bäckerei zu liefern, einschließlich aller Abmessungen und so umfassend wie eine Architektenzeichnung. Und natürlich musste ich mehrere Brote liefern, schwarze und weiße, damit man sie studieren konnte.

So ging es zwei Monate, und dann wurden wir zu einer Besprechung gerufen. Diesmal aber war ein Mann dabei, den ich noch nie gesehen hatte. Ich erinnere mich an ihn: ein eleganter älterer Herr, der aus Paris zu uns gekommen war – aber vielleicht sah er auch nur so aus für mich, einen fünfzehnjährigen Jungen, der alles und zugleich gar nichts von der Welt wusste. Der Mann wurde nie namentlich vorgestellt, aber unsere Kommandanten behandelten ihn wie einen Experten. Und sie hatten Respekt vor ihm. Es stellte sich heraus, dass er ein erfahrener Schwarzmarkthändler war. Und er hatte Kontakt zu einem Chemiker.

David bat diesen Mann, uns zu sagen, was er wisse.

»Genossen«, begann er, und sein Akzent klang nur halb französisch, »die entscheidende Frage ist, wie wir das Gift in das Brot hineinbringen.«

Gift. Es war das erste Mal, dass jemand dieses Wort ausgesprochen hatte. Wir bevorzugten ein Codewort: Medizin. »Wenn wir die Krankheit behandeln wollen«, sagte David immer, »brauchen wir Medizin.« Wir vermieden es, laut von »Gift« zu sprechen. Warum? Weil wir fürchteten, damit unser Geheimnis zu verraten? Dass es unsere Mission verhexen und irgendwie Unglück bringen könnte? Oder wollten wir auch uns selbst gegenüber nicht ausdrücklich zugeben, was wir da vorhatten? Es war alles zusammen.

Aber jetzt, da er es ausgesprochen hatte, erfüllte es uns mit seltsamer Zuversicht. Dieser Mann, dieser Erwachsene, würde unseren verrückten Traum wahr werden lassen.

»Die naheliegende Methode«, fuhr er fort, »bestünde natürlich darin, das Gift gleich am Anfang als Zutat in die Backmischung für das Schwarzbrot zu geben. Das wäre einfach. Aber leider ist es unmöglich. Wir wissen jetzt, dass hundert dieser Brote an die Amerikaner geliefert werden. Sollten diese Amerikaner sterben, wäre das eine Katastrophe. Wir brauchen also eine andere Methode, nicht wahr?«

David fing an, auf seinem Stuhl hin und her zu rutschen.

Der Franzose griff in seine Tasche, einen übergroßen Arztkoffer aus verschrammtem braunen Leder, und mit schwungvoller Gebärde förderte er einen großen, dicken Malerpinsel zutage.

»So etwas habt ihr sicher schon bei eurem Anstreicher gesehen, oder?« Er lächelte.

»Was steckt dahinter?« David wurde ungeduldig,

»Man pinselt das Gift auf das Brot.«

»Pinseln? Damit?«

»Der junge Mann hier weiß alles darüber, da bin ich sicher.« Er deutete mit dem Kopf auf mich. »Die Kuchenbäcker nennen es ›Glasieren‹, glaube ich.«

Er nahm einen Laib Schwarzbrot vom Tisch, den ich eigens dazu vorher hingelegt hatte. »Zuerst taucht ihr den Pinsel in die Flüssigkeit – jetzt benutzen wir natürlich nur Essig –, und dann streicht ihr einmal hin, einmal her, und voilà

Es war still, als der Halbfranzose sich nach beendeter Demonstration wieder hinsetzte. Unser Anführer runzelte die Stirn. Keiner von uns wollte etwas sagen, bevor er sich geäußert hatte. Er nahm das Brot, betrachtete es und legte es wieder auf den Tisch.

»Und das genügt?«

»Ja.«

»Du bist sicher, dass man das Gift nicht schmecken kann?«

»Es hat keinen Geschmack.«

»Und keine Farbe?«

»Keine Farbe. Es ist eine Arsenmischung. Geruchlos, farblos. Ich habe es selbst schon gesehen.«

Ich war nervös, als ich mich zu Wort meldete, aber als einziger Bäcker unter den Anwesenden glaubte ich eine gewisse Autorität zu besitzen. »Wird davon die Kruste nicht weich werden?«

Der Mann aus Paris lächelte mit weitaufgerissenen Augen und zeigte mit dem Finger auf mich. »Unser junger Freund stellt eine gute Frage! Das nämlich ist für mich das größte Problem.«

David war beunruhigt. »Du meinst, er hat recht? Das Brot wird nass?«

»Für kurze Zeit. Aber nicht lange. Nach ungefähr einer Stunde ist es wieder trocken, glauben wir.«

»Ihr glaubt?«

»Wenn wirklich Feuchtigkeit zurückbleibt, ist sie so gering, dass man sich nichts dabei denken wird. Wohlgemerkt, es geht ja nicht um das Hotel Ritz. Was sollen die Nazis machen? Sollen sie den Kellner bitten, es zurückzunehmen?«

David ignorierte den Scherz und wandte sich an Rosa. »Wann fangen sie an zu frühstücken?«

»Um viertel nach sechs.«

Jetzt sah er mich an. »Und die Brote werden um fünf abgeholt?«

»Ja. Aber die meisten sind schon bis drei Uhr gebacken.«

David drehte sich zu dem Fast-Franzosen um. »Und diese Methode funktioniert?«

»In Paris gibt es eine tote Katze, die sagt, sie funktioniert sehr gut.«

Wir warteten, während David das Brot noch einmal in die Hand nahm und wieder auf den Tisch legte. Er rieb sich das Kinn. Endlich fiel das Urteil, und er sah dabei jeden von uns mit festem Blick an. »In der nächsten Vollmondnacht machen wir’s.«

 

Wie es sich ergab, entschieden wir uns dann doch nicht für die nächste Vollmondnacht, sondern warteten auf einen Samstag. Das hing mit der Art und Weise zusammen, wie wir die Operation inszenieren wollten.

Es war die Idee des Franzosen. Ich nenne ihn so, weil ich nie erfahren habe, wie er hieß. Rosa sagte, er sei Kommunist oder zumindest einer gewesen, und er habe dem Widerstand in Krakau angehört. Er hatte den Weg nach Paris gefunden, wo man einfach alles bekommen konnte: Autos, gefälschte Papiere, Injektionsspritzen, Gift. Warum er bei DIN war, welche Bitterkeit er in sich verbarg, das wusste ich nicht. Aber er verbarg sie gut mit seinem halbfranzösischen Akzent und seinen Auftritten. Nicht viele Leute bei DIN lächelten so oft wie er.

Nachdem David der Operation zugestimmt hatte, begann eine neue Diskussion: Wie? Als die Kommandanten auf die Idee zu diesem Plan gekommen waren, hatten sie angenommen, es werde ganz einfach sein: Ich würde Gift in die Bäckerei schmuggeln, und wenn niemand hinschaute, würde ich es in den Mehltrog schütten und darin verteilen – und fertig. Aber Gift auf neuntausend einzelne Brote zu streichen, das wäre eine Mammutaufgabe, selbst wenn mehrere Leute zusammenarbeiteten.

Zum hundertsten Mal musste ich den Ablauf schildern.

»Wenn die Brote aus dem Ofen kommen, werden sie auf eine Reihe von Wagen verteilt, und zwar hier.« Ich stand vor dem Tisch und zeigte auf den Plan der Bäckerei, den ich gezeichnet hatte. »Die Wagen werden dann in die Trockenkammer geschoben – hier. Und hier führt eine Tür hinaus zur Laderampe. Kurz vor fünf werden die Wagen hinausgerollt, damit die Amerikaner sie abholen können.«

Jetzt befragte David mich, wie er den Franzosen befragt hatte. »Wenn das Brot in der Trockenkammer ist, ist dann noch jemand dabei?«

»Niemals lange. Ständig gehen die Leute ein und aus.«

»Sogar um vier Uhr morgens?«

»Sogar dann.«

Er nickte. »Dann könnte niemand unauffällig mit diesem Ding arbeiten.« Er deutete auf den großen Malerpinsel, der auf dem Tisch lag. »Du müsstest ja stundenlang ungestört sein können. Verdammt!« Er schlug mit der Faust auf den Tisch.

Der Franzose sprach mich an. »Wie viele Leute arbeiten dort um diese Nachtzeit?«

»Normalerweise ungefähr zehn.«

»Normalerweise? Und wenn es nicht normal ist?«

»Samstags nachts, wenn die Arbeit fast fertig ist, also vor drei Uhr, verschwindet die Hälfte der Arbeiter. Sie gehen dann Bier trinken.«

»Und dann sind noch wie viele Leute in der Bäckerei? Fünf vielleicht, dich eingeschlossen?«

Ich nickte.

»In dem Fall, glaube ich, habe ich einen Plan.«

 

Die Vorbereitungen dauerten Wochen. Nach unserem Treffen in der Wohnung fuhr der Franzose nach Paris zurück, um den Chemiker aufzusuchen. Zusammen hatten sie ausgerechnet, wie viel Arsen wir brauchten, um neuntausend Brote damit zu bestreichen. Es nahm einige Zeit in Anspruch, diese Menge herzustellen. Dann schickte der Franzose einen Kurier – auch ein DIN-Mitglied –, der die Flüssigkeit von Paris nach Nürnberg bringen sollte. »Anders geht es nicht«, sagte er.

Als der Kurier in unserer Wohnung erschien, trug er eine amerikanische Uniform unter einem schweren Mantel. Rosa öffnete ihm die Tür, und ich weiß noch, wie ich mich darüber wunderte, dass ein Mann, der überlebt hatte, was wir alle erlebt hatten, ein Soldat des DIN, dermaßen fett sein konnte. Er war nicht nur groß, er war riesig. Aber als wir die Tür geschlossen hatten, begriff ich es sofort. Er riss sich Mantel und Jacke herunter und ich sah, dass er mindestens ein Dutzend Wärmflaschen, allesamt aus rotem Gummi, um den Leib gebunden hatte. Bevor ich ein Wort sagen konnte, sah er sich einmal um und brach dann zusammen. Er konnte das Gewicht nicht länger tragen.

In dieser Nacht verteilten Rosa und ich die Arsenmischung auf kleinere Flaschen. Wir nahmen, was wir finden konnten; Arzneifläschchen waren die besten, aber die Hauptsache war, dass sie in meine Tasche paßten. Jeden Tag nahm ich ein paar davon mit in die Bäckerei, und wenn ich unbeobachtet in der Trockenkammer war, versteckte ich sie unter den Bodendielen. Ich hatte eine Planzeichnung dieses Raums im Kopf, bei der ich mir jede einzelne Diele eingeprägt hatte; so wusste ich genau, welches Brett ich in der kurzen Zeit, die uns zur Verfügung stand, hochheben musste.

Als der Samstag heranrückte, der 13.April 1946, war ich so nervös wie nie zuvor. Ich weiß nicht, warum. Vielleicht, weil ich bis dahin immer nur für ein paar Minuten so getan hatte, als sei ich diese oder jene Person, lange genug, um an einem Posten vorbeizukommen oder in einen Zug zu steigen. Aber Tadeusz, der polnische Bäckerjunge, war ich jetzt seit ein paar Monaten. Ich gehörte zur Belegschaft der Bäckerei. Man kann aber nicht jeden Tag, Woche für Woche, mit denselben Leuten zusammenarbeiten und dabei wildfremd bleiben. Manchmal zerzauste eine der Frauen mit Haarnetz und Handschuhen mir das Haar, als wäre ich der Spielkamerad eines ihrer Söhne. Als es das erste Mal vorkam, musste ich gleich hinausrennen; ich schnappte nach Luft, als habe man mich stranguliert. (Nachher behauptete ich, es sei ein Hustenanfall gewesen.) Jetzt, da ich älter bin, verstehe ich, was ich damals nicht verstand. Vielleicht musste ich erst Vater werden, um zu wissen, was ein fünfzehnjähriger Junge an jenem Tag empfand, ein Junge, der die liebevolle Berührung einer Mutter so lange nicht mehr gespürt hatte, dass die bloße Andeutung genügte, um ihn aus der Fassung zu bringen. Ich habe schon von einem Gefangenen gelesen, der so lange eingesperrt war, dass er nach seiner Freilassung allergisch gegen frische Luft war. Vielleicht ging es mir so bei mütterlicher Liebe.

An diesem Abend sollten sie alle die Wahrheit über mich erfahren, und ich glaube, das machte mir Angst. Ich musste mich zwingen, daran zu denken, worum es bei dieser Operation ging. Ich musste an die Männer in Stalag 13 denken, an die Einsatzgruppen. Wenn ich das tat, verwandelte sich mein Herz zu Stein.

Ich sah auf die Uhr. Meine Schicht hatte um fünf Uhr nachmittags angefangen, und die Stunden zogen sich in die Länge. Ich wartete verzweifelt darauf, dass es drei Uhr wurde. Ich tat meine Arbeit und durfte mich nicht ablenken lassen. Immer wieder fragte ich mich: Wird die Giftmischung ausreichen? Werden wir genug Zeit haben? Wird dieser verrückte Plan klappen? Sogar der Franzose machte mir Kopfzerbrechen. Was wussten wir eigentlich über ihn? Konnte das alles nicht auch eine raffinierte Falle sein?

Um sieben Minuten vor drei hörte ich die Worte, auf die ich gewartet hatte, vom Aufseher persönlich. »Los, kommt, das Bier ruft!« Er und sieben andere zogen ihre Overalls aus, hängten sie auf und machten sich wie üblich auf den Weg in die Wirtschaft unten an der Straße. Sie verabschiedeten sich von mir und den anderen »Deppen«, die zurückblieben.

Wieder sah ich auf die Uhr. In genau sechs Minuten würde ich tun, was wir geplant hatten. Einstweilen musste ich an meinem Platz bleiben.

Ich wusste, was draußen vorging. Sowie sie von Manik, der auf der anderen Straßenseite aufpasste, das Zeichen bekommen hätte – sie sind weg! –, sollte Rosa aus der anderen Richtung herankommen, und zwar in einem kurzen, rot-weißen Kleid; der Himmel wusste, woher sie es hatte. Sie hatte auch Geld für einen knallroten Lippenstift bekommen. Sie sollte verlockend und verfügbar aussehen – wenn der Preis stimmte.

Ich kann mir vorstellen, wie sie auf hohen Absätzen zum Tor spaziert kam und darauf wartete, dass der Nachtwächter erschien, wie ich es vorausgesagt hatte. Sie war nicht blond, wie diese Deutschen es gern hatten, aber sie war schön, und zumindest ihr Körper war jung. Ich sehe es vor mir, wie er das Tor aufschloss und heraustrat, um Rosa von oben bis unten zu mustern. Wahrscheinlich ließ sie sich ein wenig begrapschen, um das Geschäft zu besiegeln, und als er sie befühlte und kniff, trat sie vertraulich so nah an ihn heran, dass nur noch wenige Zoll nötig waren, um ihm die Messerklinge ins Herz zu stoßen.

Dann wäre Manik auf weichen, lautlosen Sohlen aus seinem Versteck auf der anderen Straßenseite gekommen und hätte Rosa geholfen, die Leiche aus dem Weg zu schaffen. Sie hätten dem Lastwagen auf der Straße ein Zeichen gegeben. Der Wagen stammte aus dem Fahrzeugpark der britischen Armee; ein freundlich gesonnenes Mitglied der Jüdischen Brigade hätte ihn mit gefälschten Papieren angefordert, und mit ausgeschaltetem Licht wäre er auf den Hof gefahren, und Manik hätte das Tor geschlossen.

Jetzt lief ich in die Trockenkammer und von dort hinaus auf die Laderampe. Als ich ankam und die Tür aufhielt, waren sie alle schon vom Laster gesprungen, fünf Mann, die sich die Gesichter mit Stiefelwichse geschwärzt hatten. Zusammen mit Manik und Rosa waren es sieben. Alle waren bewaffnet.

Ich führte sie in die Trockenkammer, und sie drängten sich an die Tür, die in die eigentliche Bäckerei führte. Lautlos zählte David bis drei – und dann stürmten sie durch die Tür, brüllten »Achtung!« und richteten ihre Waffen auf das halbe Dutzend Bäcker, meine Kollegen, die sie drinnen vorfanden.

Ich ging nicht mit hinein, sondern spähte durch die Glasscheibe in der Tür. Die Bäcker leisteten keinen Widerstand. Sie hatten herumgesessen und entweder Karten gespielt oder sich auf den Feierabend vorbereitet; gegen eine Bande von bewaffneten Männern waren sie wehrlos. Alle hoben die Hände: eine Gruppe von Deutschen, die sich einem Trupp Juden ergaben. Es hätte ein wunderbarer Augenblick sein müssen, aber er kam drei Jahre zu spät.

Drei von uns machten sich daran, die Bäcker zu knebeln und an Händen und Füßen zu fesseln, und dann banden sie sie an Tischbeinen und Pfeilern fest.

Ich sah, wie unser Anführer sich umdrehte und nach mir suchte. Ich musste ihm zeigen, wo die Vorräte – Zucker, Mehl, Hefe – aufbewahrt wurden. Ich kam heraus und wollte ihm zeigen, wo das Lager war. Ich bemühte mich, die gefesselten Männer ringsherum nicht anzusehen, aber es war unmöglich. Ich schaute in jedes Augenpaar. Die meisten waren überrascht und verdattert, aber einige funkelten mich hasserfüllt an. Der kleine Pole hat uns also verraten. Sie konnten nichts sagen, aber das brauchten sie auch nicht.

David und ein Zweiter machten sich daran, das Lager auszuräumen; abwechselnd gingen sie zwischen Lager und Laderampe hin und her und beluden den Lastwagen, der draußen wartete. Sie ließen sich Zeit, damit diese Arbeit so lange wie nötig dauerte.

Ich stand derweil wieder in der Trockenkammer. Nachdem die Bäcker alle festgebunden worden waren, stemmte ich alle Bodendielen auf, die ich mir eingeprägt hatte, und holte die Giftflaschen aus ihrem Versteck. Vorher hatte ich einen Satz Rührschüsseln aus Metall hereingebracht, die größten, die ich hatte finden können. Rosa und ich füllten sie, so schnell wir konnten. Der Franzose hatte recht gehabt: Die Flüssigkeit war wasserklar und roch nach nichts.

Die andern vier aus unserer Gruppe zogen die Malerpinsel aus den Taschen. Der Erste tauchte die Borsten in eine der gefüllten Metallschüsseln, damit sie sich mit der Flüssigkeit vollsaugen konnten. Er sah mich an und wartete auf Anleitung. Ich führte ihn zu dem Wagen mit den übereinandergestapelten Blechen und zeigte auf das oberste Blech. Methodisch fing er an, Brot für Brot mit dem Gift zu bestreichen.

Bald hatten wir unseren Rhythmus gefunden und arbeiteten wie am Fließband; Rosa und ich sorgten dafür, dass jederzeit mindestens fünf Schüsseln mit Gift gefüllt waren, und ab und zu huschten wir zu dem einen oder anderen Versteck unter dem Fußboden, um Nachschub zu holen.

Etwa alle zehn Minuten kam David durch die Trockenkammer, aber er konnte sich nicht lange aufhalten; er musste sein Theater weiterspielen und den Lastwagen mit Mehl- und Zuckersäcken beladen. Die gefesselten und geknebelten Bäcker hinter der Tür durften ja nicht wissen, dass in der Trockenkammer noch etwas anderes im Gange war. Deshalb arbeiteten wir auch stumm und flüsterten nur gelegentlich ein paar Worte.

Der Tag war mir endlos erschienen, aber diese zwei Stunden – und als wir tatsächlich anfingen, war es noch weniger – vergingen wie im Fluge. Wir schwitzten, und jeder von uns war besessen von dem gleichen wilden Verlangen: Wir mussten so viele Brote wie möglich vergiften. Ich zählte die Bleche, die wir uns vorgenommen hatten, und kam zu dem Ergebnis, dass wir rund dreitausend Laibe mit Arsen bepinselt hatten.

Dann kam David herein und zeigte auf seine Uhr. Es war Viertel vor fünf; in fünfzehn Minuten kamen die amerikanischen Lastwagen. Er trieb uns zur Eile: Wir sollten Schluss machen. Ich versteckte die unverbrauchten Giftflaschen wieder unter den Dielen. Natürlich würde man sie irgendwann finden, aber bis dahin wäre es zu spät, und es wäre gleichgültig.

Als ich die letzte Flasche versteckte, blieb ich mit der Hand an einem Splitter hängen, der aus der Holzdiele ragte. Meine Hand fing an zu bluten. Ich drückte die Diele herunter, fest und immer fester, aber sie wollte nicht unten bleiben. Und jetzt breitete sich eine Blutlache aus.

»Komm schon!«, befahl David in durchdringendem Flüsterton und starrte mich wütend an. Es war drei Minuten vor fünf. Die Lastwagen würden jeden Augenblick kommen. Aber ich konnte noch nicht weg – nicht, solange eine Blutpfütze und eine hervorstehende Bodendiele so unübersehbar auf das Versteck mit dem Gift aufmerksam machten. Ich musste zumindest die Flasche wieder herausnehmen; dann würden die Amerikaner nichts finden, wenn sie nachschauten. Sie würden annehmen, die Eindringlinge hätten diesen Schaden angerichtet, während sie die Vorräte raubten.

Ich sah mich um. Alle andern waren verschwunden; Rosa und der Rest des Vergiftungstrupps waren draußen auf dem Lastwagen vor der Laderampe und warteten auf die Abfahrt. Nur David war noch da und ragte über mir auf. Ich lag auf den Knien und versuchte, die versteckte Flasche wieder herauszubekommen. Er sah aus, als wollte er mir einen Tritt ins Gesicht verpassen und mich dann ohnmächtig zum Laster schleppen.

Aber dann sah er das Blut und das störrische Bodenbrett, und er begriff. Er stieß mich beiseite, und mit einem mächtigen Satz ließ er sein ganzes Gewicht auf der unebenen Planke landen. Noch immer wollte sie sich nicht senken. Wir hatten jetzt weniger als zwei Minuten Zeit.

Er ging zur Seite und winkte mir, ich solle das Gift herausnehmen. Als es mir gelungen war, rollte er einen der Brotwagen heran und stellte ihn über die Diele und die Blutlache. Mehr konnten wir nicht tun.

Er marschierte hinaus zum Lastwagen. Ich war hinter ihm und schon halb draußen auf der Rampe, als ich ihn sah – auf einer der stählernen Arbeitstheken, viel zu nah bei den Broten, um keinen Verdacht zu erregen: ein übergroßer Malerpinsel, zu groß und zu grob zum Glasieren von Torten. In der Hast, mit der wir das Arsen aus den Rührschüsseln ausgespült und sie versteckt und die leeren Giftflaschen in unsere Taschen gestopft hatten, hatte irgendjemand das größte und auffälligste Werkzeug vergessen. Ich rannte zurück und schnappte den Pinsel, und als ich mich wieder umdrehte, sah ich, dass unser Anführer, der jetzt bei den andern hinten auf dem Lastwagen kauerte, mit seiner Pistole auf mich zielte.

Ich begriff sofort, dass er mich hinterrücks erschossen hätte, wenn ich auch nur eine Sekunde länger gebraucht hätte. Jede weitere Verzögerung durch mich wäre sie alle teuer zu stehen gekommen; da war es besser, mich umzubringen und mich am Tatort zurückzulassen. Das hätte nicht einmal Verdacht erregt: Der Lehrling war bei einem bewaffneten Raubüberfall auf die Bäckerei getötet worden. Als solchen hatten wir unser Unternehmen ja schließlich getarnt.

Die Amerikaner würden die Arbeiter losbinden und die naheliegenden Schlüsse ziehen. Bewaffnete Diebe, die wussten, was hier gelagert wurde, hatten säckeweise Mehl und Zucker und große Mengen Hefe gestohlen, sie hatten ihre Beute auf einen Lastwagen geladen und waren verschwunden, kurz bevor im Morgengrauen die Amerikaner kamen. Niemand würde sich darüber wundern. Nährmittel und Rohstoffe erzielten 1946 auf dem deutschen Schwarzmarkt gute Preise. Die Arbeiter würden nach Atem ringend ihre geschwollenen Handgelenke massieren und alles erzählen. »Da war einer aus dem Betrieb beteiligt«, würde der Aufseher sagen. »Dieser kleine polnische Drecksack hat sie hereingelassen.«

Die andern würden berichten, dass die Räuber sich Zeit gelassen hätten; sie hätten alles abgeräumt, was irgendwie von Wert war. Die Amerikaner würden ein paar tröstende Worte sprechen, den Kopf über den Verlust dieser teuren Vorräte schütteln und vielleicht einen Militärpolizisten herschicken, der die Sache untersuchen sollte. Aber sie würden sich von ihrer morgendlichen Aufgabe nicht abbringen lassen. Sie hatten im Stalag 13 mehrere tausend Mann zu füttern, und – ja, sieh da, wie das Glück es wollte, sind die Diebe erst nach dem Backen gekommen. Die Brote sind alle noch da, ordentlich auf den Wagen gestapelt und bereit für den Abtransport. Zumindest das Brot hatten sie nicht gestohlen. Nun, meine Herren, Sie haben unser ganzes Mitgefühl, aber wir müssen jetzt los.

So jedenfalls entsprach es dem Plan, den der Franzose sich ausgedacht hatte und den wir hin und her geschoben und gezogen, geknetet und gewalkt hatten, wochenlang, gründlicher als jedes Brot, das ich je in dieser Bäckerei gebacken hatte. David hatte den Plan von allen Seiten attackiert und sich jeden Tag neue Einwände einfallen lassen. Aber als er auf alles eine Antwort gefunden hatte – Rosa für den Nachtwächter, Manik für die Leiche –, hatte er entschieden, dass es nur so zu machen sei. Wir begingen ein alltägliches Verbrechen – alltäglich jedenfalls im chaotischen Nachkriegsdeutschland –, um ein sehr viel größeres, sehr viel edleres Verbrechen zu kaschieren. Eins, das natürlich überhaupt kein Verbrechen war.

 

Der Lastwagen fuhr nach Süden, und Manik versteckte ihn an einem einsamen Ort. Alles wäre gut, sofern man den Laster erst fände und mit dem Raub in Nürnberg in Verbindung brächte, wenn es zu spät wäre. Man würde sich zwar fragen, warum Schwarzmarktdiebe ein so kostbares Beutestück einfach irgendwo abgestellt hatten, aber mit dieser Frage konnten wir leben. Außerdem wäre dieses kleine Rätsel eine perfekte Ablenkung, eine falsche Spur, die jede Verfolgung weiter hinauszögern würde.

Wir andern stiegen ein paar Kilometer hinter der Bäckerei aus und warteten einfach am Straßenrand. Inzwischen erwachte die Stadt, Leute waren auf dem Weg zur Morgenschicht, und es dauerte nicht lange, bis zwei Taxis vorbeikamen. Wir stiegen ein, und David gab dem Fahrer ein Bündel Geldscheine und befahl ihm, uns zur tschechischen Grenze zu bringen.

Nur Rosa blieb zurück. Sie hatte noch eine letzte Aufgabe. Noch einmal sollte sie schauspielern, aber diesmal nicht die Rolle eines Flittchens oder einer Hure. Sie sollte einfach durch die stillen Wohnstraßen in der Nachbarschaft von Stalag 13 spazieren, vorbei an den Häusern, in denen die Frauen der Nazis wohnten, die dort auf ihren Prozess warteten. Sie tat so, als wäre sie eine von ihnen, und sie blieb bei ihnen stehen und fragte sie, ob die Gerüchte stimmten, dass viele der Häftlinge plötzlich erkrankt seien. Einige dieser getreuen Mädels des Reichs antworteten schluchzend, ja, das stimme: Das Lazarett sei voll von ihren tapferen Männern. Die Ärzte könnten den Ansturm nicht bewältigen; es seien mehr, als sie behandeln könnten, und alle seien ganz plötzlich von der gleichen Seuche befallen. »Was ist es denn?«, fragte Rosa dann. Ein Rätsel! Lebensmittelvergiftung, sagten die Amerikaner, aber ob man ihnen glauben könne? Aber es sei ernst. »Ich möchte Sie nicht beunruhigen, mein Kind, aber einige von ihnen ringen mit dem Tode.«

Rosa berichtete uns das alles und weitere Einzelheiten, die sie aufschnappen konnte. Ein paar Wochen zuvor hatte sie sich von dem amerikanischen Sergeant getrennt. Ich wollte gern glauben, das habe sie getan, weil sie aus ihm herausgeholt hatte, was wir wissen mussten, und danach sei sie so schnell wie möglich geflüchtet. Aber in Wahrheit, nehme ich an, hatte David es ihr befohlen; wenn sie noch länger zusammengeblieben wären, hätte der Amerikaner vielleicht Verdacht geschöpft.

Und irgendwann gab es dann offizielle Berichte in der Zeitung und anderswo. Wir glaubten nicht jedes Wort davon; es gab eine Zensur, und wir vermuteten auch, dass die Amerikaner wahrscheinlich vertuschen wollten, was passiert war. Es sähe nicht gut aus, wenn sie es nicht fertigbrächten, die Männer in ihrem Gewahrsam zu schützen.

Aber die Berichte und auch Rosas Erzählungen ließen keinen Zweifel. Die vergifteten Brote waren ins Lager gelangt, und die Nazis hatten sie zu Tausenden gegessen. Wie viele mochten gestorben sein? Das wussten wir nie mit Sicherheit. Vielleicht waren es dreihundert oder siebenhundert. Es konnten tausend gewesen sein, vielleicht auch mehrere Tausend. David meinte, auf die genaue Zahl komme es nicht an. Entscheidend sei, dass die in Nürnberg inhaftierten Nazis – und am Ende die ganze Welt – begriffen, dass die Juden ihr Schicksal nicht hingenommen hätten, sondern zurückgekommen seien, um sich zu rächen. Dass die Geschichte von Stalag 13 weiterlebe und niemand mehr sagen könne, wir hätten uns wie Lämmer zur Schlachtbank führen lassen.

Ich versuchte zu akzeptieren, was David sagte, aber ich muss bei der Wahrheit bleiben. Ich wollte und will immer noch, nach vielen Jahren, wissen, wie viele Nazis von dem Brot gegessen hatten, das ich gebacken, das ich vergiftet hatte. Wie viele es gegessen hatten und daran gestorben waren. Und vor allem wollte ich wissen, ob unter den Tausenden, Hunderten oder auch nur Dutzenden von Toten auch der Mann gewesen war, der meine Hannah, meine Leah und meine Rivvy ermordet hatte. Meine Schwestern.