Tom war so überrumpelt, dass er ein paar Sekunden brauchte, um zu begreifen, dass sie nicht mit ihm sprach, sondern mit ihren Gästen.

»Rufen Sie uns an, wenn Sie etwas brauchen, Rebecca«, sagte der Ehemann, der schätzungsweise in ihrem Alter war – Anfang dreißig. Seine Frau wollte auch noch etwas sagen, aber schon wieder begannen ihre Tränen zu fließen, und sie schüttelte nur resigniert den Kopf.

Die ganze Zeit wandte Tom den Blick nicht von Rebecca. Groß und hoch aufgerichtet stand sie inmitten des schluchzenden Wirrwarrs. Alles an ihr war frappierend, nichts war maßvoll. Ihr Haar war tiefschwarz, ihre Nase nicht kurz und niedlich stumpf wie bei den Vogue- und Elle-Mädels, mit denen er in New York ausging, sondern kraftvoll und irgendwie stolz. Am meisten fesselten ihn diese Augen; sie waren von glasklarem Grün. Die Farbe war anders als bei ihrem Vater, aber der strahlende Glanz war der gleiche. Sie schienen zu lodern, aber nicht von der Trauer, die er erwartet hatte, sondern von etwas anderem, von etwas, das sie sehr stark unter Kontrolle hatte. Er stellte fest, dass er nicht wegschauen konnte.

»Sie können hier hereinkommen«, sagte sie.

Er folgte ihr in ein Zimmer und versuchte hastig, das Durcheinander zu deuten, das er vor sich sah. Der blanke Holzfußboden und der ramponierte, winzige Fernsehapparat in der Ecke waren nicht weiter überraschend: Großstadt-Bohème. Aber die Bücher verblüfften ihn. Nicht die ersten zwei Regale mit zeitgenössischen Romanen neben solchen von Flaubert, Eliot und Hardy, sondern der Rest: lauter Fachzeitschriften, wie es aussah. Er warf einen Blick durch den Rest der Wohnung. Soweit er sehen konnte, war niemand sonst da. Und kein Hinweis auf einen Mann.

Sie setzte sich auf einen einfachen Holzstuhl und deutete auf die bequemere Couch gegenüber.

Er wollte anfangen zu sprechen, aber da klingelte ein Telefon. Es war ihr Handy. Sie warf einen Blick auf das Display und nahm den Anruf an, ohne zu zögern.

»Macht nichts, ich habe doch gesagt, Sie können mich anrufen. Was ist los?« Sie nickte mehrfach, während sie offenbar eine ganze Reihe von Informationen entgegennahm. »Sie ist jetzt hypotonisch, sagen Sie? Trotz der guten gram-negativen Abdeckung? Das arme Mädel, das ist das Letzte, was sie jetzt gebrauchen kann. Denken Sie daran, wir behandeln sie wegen einer AML. Ich würde ihr Vancomycin geben und der Intensivstation sagen, dass sie womöglich blutdruckerhöhende Medikamente braucht. Und – Dr.Haining? Halten Sie mich auf dem Laufenden.«

Tom betrachtete die Regale. Jetzt sah er, womit sie vollgestopft waren: Anscheinend war es ein kompletter Satz des Journal of Paediatric Oncology. Er wartete, bis sie ihr Telefon zugeklappt hatte, und fing dann noch einmal an. Inzwischen hatte er seine Eröffnungsworte noch einmal revidiert. »Dr.Merton, Sie wissen, warum ich hier bin. Ich bin heute Morgen nach New York gekommen, weil ein schwerwiegender Fehler begangen wurde.«

»Nach London. Sie sind hier in London.« Sie schenkte ihm ein kurzes Lächeln – ein bisschen schief, mit scharfen Zähnen zwischen vollen Lippen. Er befürchtete, dass er sie anstarrte, und er spürte, wie sein Pulsschlag sich beschleunigte.

»Verzeihung. Nach London. Ja.« Er versuchte sich zu sammeln und diese Besprechung durchzuziehen wie jede andere. Behalte deine Zielvorgaben im Kopf: Die Frau ist ohne Anerkenntnis einer Haftungspflicht zu beschwichtigen. »Der Generalsekretär der Vereinten Nationen hat mich unmittelbar nach dem Eintreten dieser Tragödie gebeten, herzukommen und Ihnen für das, was mit Ihrem Vater passiert ist, sein persönliches Mitgefühl und Bedauern auszusprechen. Er spricht für die gesamte –«

»Sie können sich die Rede sparen.« Sie sah ihm ins Gesicht, und ihre Augen waren trocken. »Ich brauche keine Rede.«

Er hatte damit gerechnet, dass sie zusammenbrechen, dass sie Trost und Zuspruch brauchen oder ihm in rechtschaffener Wut alle möglichen Beschimpfungen an den Kopf werfen würde. Das hier war in seinem Plan nicht vorgesehen. »Das ist keine Rede.« Tom hob die Hände von seinem Aktenkoffer.

»Gut. Ich will keine Aneinanderreihung von Platitüden. Ich will Antworten.«

»Okay.«

»Fangen wir an. Wie um alles in der Welt kann es sein, dass irgendein Polizeiorgan einen achtundsiebzigjährigen Mann nicht erkennt, wenn es ihn sieht?«

»Nun, die Identifizierung ist eine der Schlüsselfragen, die hier –«

»Und was zum Teufel ist aus dem guten alten Schuss ins Bein geworden? Sogar ich weiß, dass die Polizei auf die Beine zielt, wenn sie einen Verdächtigen bewegungsunfähig machen will.«

»Das übliche Verfahren im Fall eines mutmaßlichen Selbstmordattentäters ist der gezielte Schuss in den Kopf –«

»Eines Selbstmordattentäters? Fuck you!«

Diese Obszönität verschlug ihm die Sprache. Es wurde sehr still. »Hören Sie –«

»Fuck you.« Jetzt sprach sie leiser.

»Ich kann verstehen, dass Sie –«

»Haben Sie jemals einen achtundsiebzig Jahre alten Selbstmordattentäter gesehen, Mr.Byrne?«

»Hören Sie. Vielleicht wäre es hilfreich, wenn ich Ihnen Schritt für Schritt berichte, was sich am Montagmorgen ereignet hat, soweit es uns bekannt ist.« Er klang nicht wie er selbst, wenn er auf die schwerfällige Juristensprache zurückgriff, die er nicht ausstehen konnte. Es fiel ihm schwer, sich zu konzentrieren; jedes Mal, wenn er die Frau nur ansah, geriet er aus dem Tritt.

»Okay. Mein Dad macht einen kleinen Rentnerurlaub und beschließt, sich wie ein Tourist zu benehmen und das Hauptquartier der UN zu besichtigen. Und dann?«

Tom holte einen Stapel Unterlagen hervor, die er mitgebracht hatte, chronologische Aufstellungen und FBI-Berichte, die er und Sherrill von Allen bekommen hatten. Damit würde er wenigstens den Anschein einer vollständigen Offenlegung wahren können. Er hatte solche Fälle im Laufe der Jahre oft genug erlebt, um zu wissen, dass es vor allem die mangelnde Offenheit war – das Gefühl, dass die Behörden die Wahrheit verschleierten –, was die trauernden Hinterbliebenen in Rage brachte. Er hatte sich vorgenommen, Rebecca Merton jedes Detail zu berichten, ihr die Abfolge der Ereignisse und jede Augenblicksentscheidung exakt zu schildern, bis sie ihrem Verlust zum Trotz eingestehen müsste, dass es sich um einen tragischen, aber unbeabsichtigten Irrtum handelte und dass die Sicherheitsorgane der UN in einem Dilemma gehandelt hatten: Wie konnten sie das Risiko auf sich nehmen, dass ein Selbstmordattentäter Dutzende oder Hunderte von unschuldigen Menschen tötete? In der aufrichtigen Überzeugung, dass sie viele andere Menschenleben retteten, hatten sie eines beendet. Er musste sie dazu bringen, das zu akzeptieren.

»Kommen Sie mir nicht mit irgendeiner Präsentation, Mr.Byrne. Versuchen Sie nicht, mich mit Papieren zuzuschütten und mit technischem Kram zu blenden. Ich bin Ärztin, und diese Tricks kenne ich.«

»Also schön.« Tom legte die Unterlagen weg und beugte sich auf der Couch vor. »Sagen Sie mir, wie wir helfen können.«

»Ich will eine Entschuldigung.«

»Natürlich empfinden die Vereinten Nationen tiefstes –«

»Nicht von Ihnen. Vom Chef. Ich will eine persönliche Unterredung mit dem Generalsekretär. Ich will, dass er mir in die Augen sieht und zugibt, was die Vereinten Nationen getan haben. Das war kein kleiner Patzer. Da wurde mein Vater umgebracht. Grundlos. Und das erfordert eine umfassende Entschuldigung, und zwar von dem Mann an der Spitze persönlich.«

Tom erinnerte sich an Hennings einzige Bedingung: kein Wirbel, keine Fototermine. »Hören Sie, gestern hat es eine Tragödie gegeben. Das wissen wir. Und die Vereinten Nationen möchten zeigen, dass ihnen das Ausmaß dieser Tragödie bewusst ist. Das würden wir gern durch eine Geste zeigen, vielleicht indem wir Ihnen einen Fonds zur Verfügung stellen, den Sie nach Ihrem Gutdünken verwenden können. Es könnte ein Gedächtnis-«

»Moment, ich glaube, ich habe Sie nicht verstanden. Was haben Sie gerade gesagt?« Noch einmal blitzte dieses schiefe Lächeln auf.

»Ich habe gesagt, die Vereinten Nationen sind bereit, Sie für den Tod Gerald Mortons durch eine einmalige Zahlung zu entschädigen.« Sofort bereute er das Wort »einmalig«.

»Mein Gott.« Sie schüttelte den Kopf, und ihre vollen Lippen färbten sich langsam dunkelrot, als treibe der Zorn das Blut hinein. »Vielleicht haben diese Idioten am Ende doch recht. Die UN sind also nicht nur anti-israelisch, sie sind auch antisemitisch.«

Tom runzelte die Stirn. »Verzeihung?«

»Verzeihung reicht da nicht, Mr.Byrne. Denken Sie etwa tatsächlich so über uns? Glauben Sie, Sie können uns mit Blutgeld bestechen?«

»Ich verstehe nicht –«

»Sie glauben, so sind die Juden? Wir lassen unsere Eltern umbringen, solange der Preis stimmt?«

»Ich hatte doch keine Ahnung –«

»Ganz recht. Sie haben keine Ahnung.«

Wieder klingelte ihr Handy. Er bemühte sich, zu verarbeiten, was sie gerade gesagt hatte, aber als sie aufstand, sah er nur noch ihre Figur. Sie war schlank, aber nicht mager. Selbst in der formlos getragenen Jeans und einem weiten schwarzen Top konnte er sehen, dass sie nicht den Körper der anorektischen Puppen hatte, denen man in Manhattan begegnete, sondern den einer wirklichen Frau.

»Hi, Nick. Wie geht’s ihr? Wie sieht das Thorax-Röntgenbild aus? Das ist nicht gut.« Sie nickte wieder und antwortete der Stimme am anderen Ende mit zustimmendem Murmeln. »Hört sich an, als entwickelte sie ein akutes Lungenversagen. Das würde ich bei Streptokokkensepsis befürchten. Gut, sagen Sie den Eltern, ich rufe sie nachher an. Nach allem, was sie durchgemacht haben, müssen sie eine vertraute Stimme hören. Danke, Nick.«

Er versuchte sie nicht anzustarren, aber er kämpfte auf verlorenem Posten. Die intensive Präsenz dieser Frau schien allen Sauerstoff im Zimmer zu verbrennen. Er spürte ein Schmetterlingsflattern in der Brust, als ob sein Herz zitterte. Das musste am Kaffee liegen, sagte er sich, oder am Schlafmangel oder am Jetlag. Aber er konnte nicht wegschauen.

Gerald Merton war also Jude gewesen. Daran hatte Tom nicht einen Augenblick lang gedacht. Nichts hatte ihn darauf bringen können: nicht der Name, nicht der Pass – Geburtsort: Kaunas, Litauen – und vor allem nicht der Leichnam. Tom Byrne wusste, wie ein beschnittener Penis aussah, und Mertons war keiner.

Sie beendete ihr Gespräch und drehte sich zu ihm um. »Ich muss gehen. Ein Notfall in der Klinik.«

»Das tut mir leid.«

»Ja, das tut es sicher. Aber ich glaube auch nicht, dass wir noch mehr zu besprechen haben, oder?« Sie wandte sich ab und verschwand in der Küche. Er hörte das Klirren der Autoschlüssel, die sie an sich raffte.

Er wandte sich dem Stapel der unbenutzten Dokumente zu, der neben ihm auf der Couch lag, und fing an, sie in seinen Aktenkoffer zurückzulegen, als er es sah: ein kleines schwarzes Notizbuch auf einem Beistelltisch. Einen Moment lang glaubte er, es sei sein eigenes Moleskin-Notizbuch. Aber als er genauer hinschaute, erkannte er, dass es dicker war. Es gehörte ihr. Er folgte einem Impuls und schob es in seinen Koffer. Er würde sagen, er habe es versehentlich mitgenommen; so hätte er einen Vorwand, noch einmal zurückzukommen.

Dann stand er auf und folgte Rebecca Merton die Treppe hinunter und aus dem Haus.

»Hier ist meine Karte«, sagte er und verbarg erfolgreich seine Überraschung, als sie sie annahm. »Wenn Ihnen doch noch etwas einfällt, über das Sie sprechen möchten, rufen Sie mich an.«

Sie studierte die Karte kurz und sah ihn dann wieder an. Die smaragdgrünen Augen durchbohrten ihn. »Sie sind also nicht mal ein UN-Jurist. Sie sind ein Mietling. Der Mann, den sie beauftragen, ihre Schmutzarbeit zu erledigen. Goodbye, Mr.Byrne. Ich glaube nicht, dass wir uns noch einmal wiedersehen.«