Tom sah das Dilemma, in dem der Detective sich schon nach wenigen Minuten befunden haben musste. Rebecca und er waren offensichtlich seriöse Leute, eine Ärztin und ein Rechtsanwalt, und sie hatten sich seriös verhalten und sofort die Polizei alarmiert. Unter gewöhnlichen Umständen hätte man ihnen für diese staatsbürgerliche Tat einfach gedankt und sie nach Hause geschickt.

Aber da war die vertrackte Sache mit der Haustür. Niemand kam einfach nach Hause, ohne seine Haustür ordentlich zu verschließen. Nach Henry Goldman musste noch jemand anders ins Haus gekommen sein, und das ließ vermuten, dass er nicht einfach eines natürlichen Todes gestorben war. Und dann Rebeccas Anruf: Warum hatte sie gemeint, einen Mord melden zu müssen?

Folglich war der Detective in einer Zwickmühle. Er konnte von der Grundannahme ausgehen, dass hier ein Verbrechen geschehen war, und Tom und Rebecca als nützliche Zeugen behandeln. Er würde sich natürlich äußerst höflich zeigen, ohne aber die Möglichkeit aus den Augen zu verlieren, dass die beiden die Mörder sein könnten. Das war eine eiserne Regel bei jeder Mordermittlung: Man durfte niemanden ausschließen.

Aber in diesem Vorgehen lag ein Risiko. Wenn er sie am Ende wegen Mordes verhaften wollte, wären die Informationen, die er gesammelt hatte, während er sie als bloße Zeugen befragte, damit kompromittiert. Die Befragung von Verdachtspersonen war eine ganz andere Sache: Man hatte sie in aller Form zu warnen und ihnen ihre Rechte vortragen, und ein Anwalt musste anwesend sein. Sosehr es dem Detective also gefallen würde, wenn Tom Byrne und Rebecca Merton redeten, ohne ihre Zunge zu hüten – er würde es nicht für alle Zeit tun können. Und das war das Dilemma des Polizisten, wie Tom wusste.

Ein greller Lichtstrahl strich über die Zufahrt. Das musste Julian sein. Ohne auf Erlaubnis zu warten, drehte Rebecca sich um und ging auf seinen Wagen zu. Tom sah den bangen Gesichtsausdruck des Polizisten: Wenn er Rebecca als potentielle Verdächtige betrachtete, konnte ihm nichts daran liegen, dass sie mit dem Sohn des Verstorbenen plauderte und ihm ihre Version der Ereignisse einblies.

»Ich sage Ihnen, was wir vielleicht tun sollten«, erklärte der Detective unvermittelt. »Wir sollten alle zum Revier fahren. Da können wir uns unterhalten und Ihre umfassende Zeugenaussage zu Protokoll nehmen, und morgen wird sich schon zeigen, wie das alles aussieht.«

»Nach der Obduktion, meinen Sie.«

»Ja. Danach dürfte alles klarer sein. Habe ich recht, Mr.Byrne?«

 

Dann ging alles sehr schnell. Tom war sicher, die Polizei wollte die Zeit, die Rebecca mit Julian verbrachte, auf ein Minimum beschränken.

»Wir haben einen Wagen hier. Wollen wir Sie nicht gleich zum Revier fahren?«, fragte der Detective.

»Das ist nicht nötig. Wir haben selbst ein Auto.«

»Aber Sie haben heute Abend ein traumatisierendes Erlebnis gehabt. Nach unseren Leitlinien für den Umgang mit Opfern stehen traumatisierte Personen häufig zu sehr unter Schock, um zu fahren. Auch wenn sie es selbst nicht merken.«

Tom fügte sich, aber er wurde den Verdacht nicht los, dass der Detective vor allem die – wenn auch widerrechtliche – Absicht verfolgte, den Saab rasch in Augenschein zu nehmen, bevor die keineswegs Verdächtigen Gelegenheit hatten, ihn zu säubern.

Man brachte sie auf das Revier Kentish Town, eine scheußliche, knastähnliche Bude mit Leuchtstoffröhren in allen Räumen und harten Plastikstühlen. Sie wurden einzeln befragt, wie Tom es erwartet hatte. Und genauso erwartungsgemäß vernahm der leitende Detective ihn als Ersten. Ihm fiel rasch auf, dass Rebecca Merton etwas mit einem Ereignis aus den Nachrichten zu tun hatte. Tom erklärte, sie seien aus eben diesem Grund zu Goldman gefahren; er sei ein alter Freund ihres Vaters gewesen. Zu seiner großen Erleichterung verfolgte der Polizist diesen Punkt nicht weiter. Zweifellos sparte er sich alle Fragen in dieser Richtung für den Tag auf, da Tom und Rebecca offiziell zu Mordverdächtigen befördert wären, statt nur Gegenstand inoffiziellen Argwohns zu sein. Dann könnte er sie ausführlich dazu vernehmen.

Die Aussicht darauf erfüllte Tom mit Grausen. Als wäre die ganze Sache nicht schon kompliziert genug. Wo um alles in der Welt sollte er anfangen? Bei der Waffe in Gerald Mertons Hotelzimmer? Bei seinen Aufzeichnungen? Bei DIN? Und wie wollte Rebecca erklären, dass sie den Einbruch in ihrer Wohnung nicht angezeigt hatte?

Tom musste an Jay Sherrill denken. Er wusste, er sollte ihn anrufen und wenigstens so tun, als halte er ihn auf dem Laufenden. Aber was zum Teufel sollte er sagen. »Oh, hi, Jay. Hören Sie, komischerweise helfe ich jetzt auch der hiesigen Polizei bei ihren Ermittlungen. Ist das kein verrückter Zufall?« Es würde allzu weit hergeholt klingen, allzu verrückt. Er hatte Sherrill bereits ein Bröckchen hingeworfen, als er ihm erzählt hatte, Merton habe einst selbst das Gesetz in die Hand genommen. Der Rest musste warten. Dieses Rätsel, davon war Tom jetzt überzeugt, mussten er und Rebecca allein lösen – ohne jede Hilfe oder Einmischung durch irgendeine Polizeibehörde, sei sie in London oder in New York.

»Hier entlang, bitte.« Ein jüngerer Polizist führte sie zu einem elektronischen Apparatismus, wie man ihn auf amerikanischen Flughäfen fand: Man drückte den Finger auf eine Glasscheibe und ließ sich die Abdrücke abnehmen.

»Warum müssen wir das tun?« Toms Frage brachte ihm einen wütenden Blick von Rebecca ein. »Werden diese Abdrücke in einer Datenbank gespeichert? Wie lange?«

Der Detective lächelte. »Einmal Bürgerrechtsanwalt, immer Bürgerrechtsanwalt, was, Mr.Byrne?« Sie hätten nichts zu befürchten, sagte er dann; das Verfahren diene nur dazu, sie bei den Ermittlungen auszuschließen und der Polizei zu ermöglichen, sämtliche im Haus gefundenen Fingerabdrücke zu identifizieren. »Das ist freiwillig; Sie können nein sagen, wenn Sie wollen. Aber wenn Sie ja sagen, wäre das hilfreich.« Alle Details würden nachher vernichtet werden, und nein, die Abdrücke würden in keiner nationalen Datenbank gespeichert werden.

Tom war nicht beruhigt. Wenn jemand in Goldmans Haus eingedrungen war, hatte er vermutlich die elementaren Vorsichtsmaßnahmen ergriffen und Handschuhe getragen. Folglich würden alle Fingerabdrücke an der Tür, den Wänden, dem Schreibtisch und Goldman selbst von Rebecca und ihm stammen.

Schließlich, etwa dreieinhalb Stunden, nachdem sie an Hampstead Heath entlanggefahren waren, teilte der Detective ihnen mit, er hoffe den Obduktionsbericht am nächsten Morgen in den Händen zu haben. Wenn Goldman eines natürlichen Todes gestorben war und keine Spur von Gift oder Betäubungsmittel in seiner Blutbahn gefunden wurde, würde man auch nicht wegen Mordes ermitteln. Tom und Rebecca würden nichts mehr von ihm hören. Und damit entließ er sie.

Sie traten hinaus in die kühle Luft einer herbstlichen Nacht und begriffen, dass sie kein Auto hatten. Tom wollte eben ins Revier zurückgehen und sich die Nummer der nächsten Minicab-Zentrale geben lassen, als ein Taxi vorbeikam. Das orangegelbe Licht auf dem Dach verhieß Rettung. Sie hielten es an, ließen sich auf den Rücksitz fallen und fuhren ostwärts.

Tom hatte Kopfschmerzen. Seit Sonntagabend hatte er nur ein paar Stunden Schlaf gefunden – dank einer Kombination aus den Fantonis, Miranda und einem Transatlantikflug –, und jetzt war es offiziell Mittwochmorgen. Außerdem war er nicht mehr dreißig. Aber die Erschöpfung resultierte nicht aus bloßem Schlafmangel; sie reichte tiefer. Es war eine Müdigkeit, die aus langer, anhaltender Frustration erwuchs, aus dem fortgesetzten Ringen mit einem Problem, das sich nicht lösen ließ.

Sie waren beide zu müde zum Reden. Er schaute aus dem Fenster. Sosehr London sich auch verändert haben mochte, nachts war es immer noch tot. Nicht die Gegenden, die man den Touristen zeigte, im West End und im Theatre District, aber das London der Londoner, die Stadtteile, in denen die Leute wohnten. Das war immer noch einer der augenfälligen Unterschiede zu New York: die Abwesenheit von Delis, Coffeeshops und Buchläden, die bis tief in die Nacht hinein geöffnet waren.

Ein paar Stunden zuvor war auf der Stoke Newington Church Street wahrscheinlich Hochbetrieb gewesen. Männer mit Fahrradhelmen waren mit einer Einkaufstüte aus dem Bio-Supermarkt gekommen, Paare hatten die Regale des auf »internationales Kino« spezialisierten DVD-Verleihs durchstöbert. Tom konnte sich die Leute vorstellen, die hier lebten: alternative Anwälte und linke NGO-Mitarbeiter. In einem anderen Leben hätte er leicht selbst dazugehören können. Aber jetzt war niemand mehr unterwegs – nur ein paar letzte Nachtschwärmer, die aus den Pubs kamen, und eine Straßenkehrmaschine, die wie ein träges Untier blinkend und piepend am Bordstein entlangfuhr.

Er wollte nicht hier sein, wollte nicht schon wieder über die gehirnerschütternden Temposchwellen auf den Straßen der London Borough of Hackney holpern. Er hatte wieder in Rebeccas Wohnung oder – ein etwas ehrgeizigeres Projekt – in sein Hotel fahren wollen, und sei es nur, um ein bisschen zu schlafen, aber Rebecca hatte dieses Ansinnen augenblicklich zurückgewiesen. Im Polizeiwagen hatte er versucht, ihre Hand zu berühren, aber sie hatte ihn weggeschoben – nicht wirklich wütend, aber mit einer unterdrückten Gereiztheit, als sei jetzt nicht der richtige Augenblick dafür. Er fragte sich, ob sie ihn missverstanden hatte, ob sie glaubte, er fordere eine Verbundenheit ein, die noch nicht sicher war, statt dass er sie nur trösten wollte.

Sie hatte einen Riesenschrecken bekommen, das war klar. Rebecca Merton, zweifellos abgehärtet durch ein paar Jahre in der Unfallambulanz, hatte wohl kaum viel Erfahrung mit der Polizei und dem Gesetz. Schon bei den bloßen Worten – Vernehmung, Zeuge, Tatort – verloren die meisten Leute den Kopf. Daher der Fehler, den sie am Telefon begangen hatte, als sie die Polizei anrief.

Aber Rebecca war auch vorher schon angeschlagen gewesen, als sie in Henry Goldmans imposante Zufahrt eingebogen waren. Tom vergaß immer wieder, dass noch keine achtundvierzig Stunden vergangen waren, seit ihr alter Vater – wie es aussah, ihr einziger Verwandter – erschossen worden war, ein paar tausend Meilen weit entfernt und unter immer noch rätselhaften Umständen. In ihre Wohnung war gewaltsam eingebrochen worden, und jetzt war ein alter Freund der Familie tot, nur wenige Stunden nachdem er die geheime Existenz einer tödlichen Schattenorganisation offenbart hatte, in der ihre beiden Väter eine Rolle gespielt hatten. Vielleicht könnte er versuchen, sie damit zu beruhigen, dass Henry Goldmans Tod sicher nur ein Zufall gewesen war, dass er schon mit Brustschmerzen aus dem Wagen gestiegen war, nicht mehr die Kraft gehabt hatte, seine Haustür zu verschließen, und mit der Hand auf dem Herzen in sein Arbeitszimmer gewankt war, um dort zusammenzubrechen. Er konnte zu bedenken geben, dass sie mehr Informationen brauchten, ehe sie voreilige Schlüsse zogen. Aber ihn selbst hatte die gleiche flaue Angst gepackt wie sie, als sie den Toten gefunden hatten. Ganz sicher war der alte Anwalt umgebracht worden – und Rebecca konnte die Nächste sein.

Irgendjemand da draußen war auf der Jagd nach Informationen über das Leben und die seltsame Laufbahn Gerald Mertons. Sie hatten Rebeccas Wohnung auf den Kopf gestellt, um sie zu finden, und sicher waren sie aus demselben Grund zu Henry Goldman gekommen. Waren nicht auch er und Rebecca deshalb nach Canary Wharf und dann nach Hampstead gefahren – weil Goldman einer der wenigen noch lebenden Männer war, die detaillierte Kenntnisse über DIN besaßen? Die Frage, die ihm im Kopf herumging, war die: Hatten die Verfolger unabhängig von ihnen beiden von Goldmans Kenntnissen gewusst – oder hatten sie einfach Rebecca beschattet? Mittlerweile hielt er es für wahrscheinlich, dass sie schon seit gestern Morgen verfolgt wurden und dass die Einbrecher nur deshalb in ihre Wohnung hatten eindringen können, weil sie sie beobachtet hatten und wussten, dass sie nicht zu Hause war.

»Eins habe ich mir inzwischen zusammengereimt«, sagte er schließlich und brach damit das erschöpfte Schweigen, das zwischen ihnen herrschte, seit sie das Polizeirevier verlassen hatten. »Der Feueralarm.«

»Was ist damit?«

»Das war kein Zufall. Dieses Timing.«

»Wie meinst du das?«

»Das ist eine alte Taktik. Die Trotzkisten haben es dauernd gemacht, als ich Student war. Wenn eine Versammlung nicht so läuft, wie sie wollen, lösen sie einfach den Alarm aus. Versammlung geschlossen, der Kampf geht weiter.«

»Du meinst, Henry Goldman hat den Feueralarm ausgelöst, weil ihm unsere Fragen nicht gefielen?« Sie schaute ihn an, als sei er ein besonders begriffsstutziges Kind.

»Nicht er.«

»Aber sonst war niemand dabei, Tom.«

»Niemand sonst war im Raum, zugegeben. Aber das heißt nicht, dass niemand zugehört hat.« Er dachte an die berüchtigte Abstimmung über die Zweite Resolution vor dem Irak-Krieg, als die sechs unsicheren Kandidaten im UN-Sicherheitsrat – die »Swing Six«, wie man sie nannte – herausfanden, dass sie von den Briten und den Amerikanern abgehört worden waren. »Ich weiß nicht, wie sie es angestellt haben, aber sie haben es getan.«

»Und wer sind ›sie‹?«

»Ich wünschte, das wüsste ich.«

Toms Handy klingelte. Um diese Nachtzeit konnte es nur New York sein. Er schaute auf das Display: Henning.

»Hi.«

»Du klingst nicht erfreut, mich zu hören.«

»Tut mir leid. Die letzten paar Stunden waren ziemlich heavy.« Tom schloss die Augen. Ihm graute bei dem bloßen Gedanken daran, dass Münchau herausfinden könnte, was passiert war: ein UN-Vertreter wegen Mordverdachts im Gewahrsam der Metropolitan Police. Nicht genug damit, dass die UN in den Tod eines alten Juden verwickelt waren – jetzt mussten sie noch in eine zweite Mordaffäre geraten. Wie lange würde er es verheimlichen können?

»Na, vielleicht muntert dich das hier auf. Deine ehemaligen Kollegen haben eine Reihe von Namen geliefert.«

»Namen?«

»Dein Greisenclub, du erinnerst dich? Zweiundsiebzig und älter?«

»Ach, das. Ja.« Das hatte er glatt vergessen. Dieser Anruf bei Henning, diese Eingebung – ihm war, als sei das Jahre her.

»Konzentration, Tom.«

»Entschuldige, ich höre zu. Was hast du da?«

»Na ja, es ist ein vorläufiges Resultat, aber sie sagen, sie wären überrascht, wenn sie noch jemanden fänden.«

»Weiter.« Jetzt, nachdem er gezwungen war, seinen Verstand wieder in Gang zu setzen, war er gespannt: Ein alter Deutscher, ein potentielles Ziel für die letzte Operation des DIN, und die ganze Sache wäre geklärt.

»Zunächst mal wird es dich nicht überraschen, wenn du erfährst, dass bei den festen UN-Mitarbeitern keiner dabei ist. Pensionierung mit sechzig, streng und ohne Ausnahme.«

»Ja.«

»Aber wir haben drei Besucher gezählt, die über zweiundsiebzig sind. Alle diese Woche in der Stadt.«

Tom nickte; sein Puls schlug schneller.

»Die Chinesen haben einen Dolmetscher-Veteranen mitgebracht. Li Gang. Der Legende zufolge hat er zwischen Mao und Nixon gedolmetscht, aber das glaube ich nicht. Ich meine, sie haben –«

»Und die andern zwei?«

»Der Präsident des Staates Israel ist hier. Er ist vierundachtzig.«

»Und der Dritte?«

»Der Außenminister der Elfenbeinküste. Zweiundsiebzig. Seit den siebziger Jahren anscheinend immer mal wieder auf diesem Posten.«

»Danke, Henning.«

»Nicht zu gebrauchen?«

»War nur so ein Gefühl.«

Tom musste lächeln; die Sache entbehrte nicht einer gewissen Ironie. Es war ihm schon öfter aufgefallen: Das Schicksal hatte anscheinend Humor. Wenn man drei Leute nennen sollte, die höchstwahrscheinlich keine Nazi-Kriegsverbrecher waren, konnte man kaum bessere finden als die Vertreter Chinas, der Elfenbeinküste und – damit wirklich kein Zweifel aufkommen konnte – Israels. Das war nicht nur eine Sackgasse. Es war eine mit einer Ziegelmauer verschlossene Sackgasse.

Inzwischen waren sie in der Kyverdale Road angekommen, wo Gerald Merton gewohnt hatte. Rebecca hatte darauf bestanden: Wenn sie das, was Goldman ihnen hatte sagen wollen, nicht von Goldman selbst hören konnten – und das konnten sie nicht mehr –, mussten sie feststellen, ob ihr Vater irgendeinen Hinweis oder eine Spur hinterlassen hatte.

Als sie vor dem Haus hielten und das Taxi bezahlten, fragte Tom sich, ob sie jetzt zum ersten Mal seit dem Tod ihres Vaters herkam. Er machte sich darauf gefasst, zu sehen, wie Rebecca schon wieder von einem emotionalen Güterzug gerammt wurde. Wie viel konnte ein einzelner Mensch ertragen?

Er sah zu, wie sie einen Schlüsselbund hervorholte, einen Schlüssel auswählte und ins Schloss schob. Im Hausflur hielt sie sich nicht auf, sondern ging geradewegs die mit einem dünnen Läufer bedeckte Treppe hinauf. Es roch wie erwartet: abgestanden und muffig. Im dritten Stock nahm sie Kurs auf die erste Tür an der Treppe. Tom sah, dass ihre Hände zitterten, als sie aufschloss. Sie schaltete das Licht an und schrie auf.

Tom spähte an ihr vorbei. Die Wohnung war ein Chaos; sie war genauso gründlich durchwühlt worden wie Rebeccas eigenes Apartment. Die Kissen waren aufgeschlitzt, und Bücher lagen auf dem Boden verstreut wie Gefallene auf einem Schlachtfeld. Sogar den Teppich hatten sie aufgerollt und die schmutzigen, staubverkrusteten Dielen darunter freigelegt. Mindestens zwei ragten ein wenig in die Höhe, als habe man sie aufgestemmt und dann wieder festgedrückt. An den Wänden hingen zwei Bilder, eine Collage in der Diele und eine schlechte Chagall-Imitation, die anscheinend einen geigespielenden Rabbiner darstellte, im Wohnzimmer. Beide hingen sehr schief.

Trotz des Lichts herrschte in der Wohnung hartnäckige Düsternis. Schwere braune Vorhänge verdeckten die Fenster. Tom watete durch den Trümmerhaufen und versuchte sich vorzustellen, wie es hier ausgesehen hatte. Die kleine Küche war in gebrochenem Weiß gehalten; die Geräte waren Museumsstücke aus den siebziger Jahren. Ein einfacher Zwei-Personen-Tisch stand an der Wand. Auf dem Boden daneben, gleichfalls unversehrt, lagerten eine Großpackung mit zwölf Kartons Orangensaft und eine ebenso mit Zellophan verschweißte Palette mit Baked-Beans-Konserven. Gershon Matzkin hatte offensichtlich nie vergessen, was er im Ghetto von Kowno gelernt hatte: Man musste Vorräte anlegen, für alle Fälle.

Tom sah ein Radio, eine Vase und mehrere gerahmte Fotos; bei fast allen war das Glas zerbrochen. Er betrachtete einen Urlaubsschnappschuss aus der Nähe: Ein sonnengebräunter Mann ohne Hemd hatte den rechten Arm um eine Frau und den linken um ein Mädchen gelegt, und sie saßen im hellen Sonnenschein an einem Tisch im Straßencafé. Das Mädchen war etwa zwölf Jahre alt und schlaksig; sie bestand vor allem aus Ellenbogen und knochigen Schultern. Aber die kristallgrünen Augen waren schon da unübersehbar. Auch die Frau war dunkelhaarig, aber ihre Augen waren anders als die ihrer Tochter, wärmer und dunkler.

Tom konzentrierte sich auf Gershon. Er sah mindestens zehn Jahre älter aus als seine Frau und war bereits kahl, und die üppige Behaarung auf seiner Brust glänzte silbern. Aber sein Körper war bemerkenswert in Form; die Muskeln waren fest und gut definiert, und Brust und Bauch wirkten hart und flach. Seine Augen leuchteten so hell wie die seiner Tochter.

Tom kehrte ins Wohnzimmer zurück und untersuchte die zerfetzten Überreste des abgenutzten Sessels am Fenster. Daneben stand ein Tisch mit einem Telefon und einem Kassettenradio, einem klobigen Relikt aus den Achtzigern. Ein großer Schrank mit Glastüren war ausgeräumt worden; überall auf dem Boden lagen Kerzenständer, diverser Nippes aus Silber, ein paar Bücher und noch mehr Familienfotos. Eins davon fiel Tom ins Auge: Rebecca, mit breitem Lächeln und einem Doktorhut. Sie hatte das ganze Leben noch vor sich.

Er fand sie im Schlafzimmer, wo sich ein weiterer deprimierender Anblick bot. Kleider lagen auf dem Teppich verstreut, Schranktüren waren weit aufgerissen. Jede Sockenschublade war ausgekippt worden, und Krawatten baumelten herum wie eine vergessene Partydekoration. Tom rechnete damit, dass sie auf das Bett fallen und in Tränen ausbrechen würde, aber stattdessen kehrte sie zurück ins Wohnzimmer. Sie sah erleichtert aus. »Sie sind noch hier.«

Sie kniete nieder und wühlte in den gerahmten Fotos auf dem Boden. Tom hockte sich dazu und suchte instinktiv nach irgendwelchen Bildern aus den vierziger Jahren, der Anfangszeit des DIN. Vielleicht würden sie eins finden, das den halbwüchsigen Gershon Matzkin in seiner zusammengewürfelten Uniform im Wald zeigte, womöglich mit seiner Geliebten und Leidensgenossin Rosa. Aber auf den meisten sah man nur Gershons Nachkriegs-Ich, eingewandert in Großbritannien: den neugeschaffenen Gerald Merton.

Rebecca betrachtete eins dieser Bilder aufmerksam. Es hatte diesen eigentümlichen stumpfen Orangeton, der anscheinend alle Farbfotos aus den Siebzigern überzog, und es zeigte fünf strahlende Männer. Vier von ihnen trugen große, kantige Brillen. Tom erkannte Gerald; seine breiten Koteletten waren graumeliert. Alle fünf hatten schwarze Schlipse umgebunden, aber sie trugen kein Jackett. Der am rechten Rand hob ein Glas.

»Joe Tannenbaum. Er muss kurz nach dieser Aufnahme gestorben sein«, sagte Rebecca leise. »Und Geoffrey Besser; er ist seit ungefähr zehn Jahren tot.« Ihr Zeigefinger schwebte über dem letzten Mann auf dem Foto, der fröhlich auf das Wohl des Fotografen trank. »Aber an ihn kann ich mich nicht erinnern.«

»Was ist das für ein Foto?«

»Das waren die besten Freunde meines Vaters.«

Tom sah ihr prüfend ins Gesicht und suchte nach einem Anzeichen von Nostalgie oder wehmütiger Erinnerung. Aber sie hatte die Stirn gerunzelt.

»Das verstehe ich nicht. Was suchst du denn?«

»Entschuldige, ich hätte es sagen sollen. Das hier dürfte 1976 auf der Hochzeit meines Cousins entstanden sein. Und diese Gruppe hier« – sie hielt das Foto schräg, damit er es besser sehen konnte – »das ist der Poker-Club.«

Tom wich einen Schritt zurück und trat dabei auf einen Bildband über Jerusalem. Auf dem Bild waren fünf Männer mittleren Alters zu sehen; ihre Wangen wurden schlaffer, ihre Köpfe kahler, und wahrscheinlich lachten sie über einen schlechten Witz. Fünf Überlebende des Infernos, die ein neues Leben in London gefunden hatten: Gerald Merton mit seiner Reinigung, Henry Goldmans Vater, der Großhändler für Damenoberbekleidung. Wenn man dieses Foto anschaute, würde man niemals ahnen, wozu diese Männer fähig gewesen waren – zu einem zielstrebigen, unerbittlichen Feldzug des gezielten Tötens, der sie über mehrere Kontinente geführt hatte. Und niemand würde etwas von der Hölle wissen, durch die sie hatten gehen müssen, um so weit zu kommen.

»Da ist Henry Goldmans Vater. Der hier.« Sie zeigte auf den Mann, und ihre Stimme war immer noch leise. »Der Einzige, den ich nicht kenne, ist dieser hier. Sid Soundso hieß er.«

Tom studierte den Mann, auf den sie deutete, den mit dem erhobenen Glas. Jetzt, da er die Geschichte dieser Bruderschaft kannte … täuschte er sich, oder sah er wirklich noch etwas anderes in diesen fünf Gesichtern? In Geralds Augen lag eine Wachsamkeit, die auf jedem Foto erkennbar war, das Tom gesehen hatte. Aber auch im Blick der anderen Männer war sie zu sehen. Etwas Stahlhartes unter der Oberfläche, trotz des scheinbar leutseligen Lächelns. Und dann sah er es.

»Das hier – ist es das, was ich glaube?« Er zeigte auf einen verschwommenen grauen Fleck am Unterarm des Mannes namens Sid, an dessen Nachnamen Rebecca sich nicht erinnern konnte. Er hatte die Ärmel aufgekrempelt, und seine Stirn glänzte von Schweiß – vielleicht nach einem anstrengenden Tanz. Tom war einmal auf einer jüdischen Hochzeit gewesen, bei einem Studienfreund. Diese traditionellen Tänze waren ziemlich schweißtreibend.

»Ja, das ist es. Sid war in Auschwitz.« Ihr Finger schwebte über dem verschwommenen Bild einer Nummer, eintätowiert in den Arm eines Mannes, der auf einer dreißig Jahre zurückliegenden Hochzeit das Glas hob.

Tom starrte dem Mann in die Augen, die hinter den dicken, anscheinend getönten Brillengläsern kaum sichtbar waren. Welches Grauen hatten sie gesehen? Hatten die Bilder sich eingebrannt? Sah Sid sie auch jetzt, an diesem Abend des Tanzens, der verschwitzten Oberhemden und der Trinksprüche?

»Sid Steiner! So hieß er. Sid Steiner.«

»Lebt er noch?«

»Ich habe keine Ahnung. Aber ich glaube, wir sollten es herausfinden.«