Er wusste nicht, ob er vorschlagen sollte, in die Wohnung ihres Vaters zurückzukehren. Es war schon schwer genug für sie, sich inmitten seiner Hinterlassenschaften aufzuhalten, und noch schwerer war es, in dieser verwüsteten Umgebung zu sein, die sie unterschwellig daran erinnerte, dass ihr Vater nicht den Tod eines alten Mannes hatte sterben dürfen, sondern umgebracht worden war.

Außerdem machten sie es ihren Verfolgern leicht, wenn sie an einen Ort zurückkehrten, den diese bereits im Visier hatten. Trotzdem wusste er, dass diese Logik einen Haken hatte. Denn wenn diese Leute vorhatten, sie zu töten, warum hatten sie es dann nicht einfach getan? Moralische Skrupel konnten nicht der Grund sein; das zeigte Henry Goldmans Leichnam. Mangelnde Gerissenheit war es sicher auch nicht; wer immer die Beschatter sein mochten, sie taten es mit solcher Effizienz, dass sie über alle ihre Bewegungen in den letzten vierundzwanzig Stunden informiert gewesen waren, sie hatten ihr Gespräch mit Goldman so genau verfolgt, dass sie es im entscheidenden Augenblick hatten beenden können, und nach allem, was er wusste, war ihnen nichts von dem entgangen, was er und Rebecca seitdem herausgefunden hatten.

Rebecca Merton und er wurden offensichtlich von jemandem als Feinde betrachtet, aber diese Leute hatten sich weder zu erkennen gegeben noch irgendwelche Forderungen gestellt. Tom konnte nur vermuten, dass er und Gershon Matzkins Tochter eine ähnliche Rolle spielten wie der russische Waffenhändler in Brighton Beach. Man ließ sie laufen, sie sollten tun, was immer sie taten, während ihre Beobachter sie beobachteten. Sollten sie sie irgendwo hinführen? Sollten sie etwas herausfinden, was diese Leute noch nicht wussten? Könnte das die Erklärung für den Umschlag sein, der am Tag zuvor auf rätselhafte Weise in Rebeccas Wohnung gekommen war? War es ein Freund oder ein Feind gewesen, der ihn gebracht hatte?

Sie verließen das Internet-Café und stiegen in den 76er-Bus, und Rebecca nahm ihm die Entscheidung ab. »Die Antwort ist irgendwo in seiner Wohnung, da bin ich sicher.«

»Aber sie haben sie von oben bis unten durchsucht. Meinst du nicht, wenn etwas da gewesen wäre, hätten sie es gefunden?«

»Nein. Deshalb war ja alles vollständig verwüstet. Weil sie es nicht gefunden haben. Wenn sie es gefunden hätten, hätten sie nicht anfangen müssen, die Kissen aufzuschlitzen.«

Das leuchte nicht ein, wollte Tom erwidern, aber da klingelte Rebeccas Telefon. Er richtete sich auf. Sie schaute auf das Display und schüttelte den Kopf: Es hatte nichts mit ihnen zu tun.

»Nick, hi. Nein, macht nichts, ich kann sprechen.« Sie nickte. »Okay, das hört sich gut an. Hoffen wir, dass sie jetzt ein bisschen mehr Glück hat. Behalten Sie ihren Zustand im Auge, und wenn er sich weiter bessert, wechseln Sie die Infusionen und geben Sie dem Transplantationsteam grünes Licht. Die Operation bei ihrem Bruder können wir für nächste Woche ansetzen. Melden Sie sich bald wieder.«

Tom hörte nur mit halbem Ohr zu. Er konzentrierte sich stattdessen auf einen Mann in den Zwanzigern mit iPod-Ohrhörern, der eben eingestiegen war. Tom versuchte zu sehen, ob sie wirklich in einen Player eingestöpselt waren – oder in etwas anderes.

Rebecca steckte das Telefon ein und nahm die Diskussion mit Tom genau da wieder auf, wo sie unterbrochen worden war. »Jedenfalls können wir sonst nichts tun. Wir haben keinen Plan B.« Sogar jetzt, allem andern zum Trotz, durchströmte ihn dieses »wir« mit kribbelnder Wärme.

Und so fuhren sie zurück zur Kyverdale Road, um zu sehen, ob die Einbrecher – so unwahrscheinlich es auch war – etwas übersehen hatten. Auf Zehenspitzen gingen sie in der Wohnung umher, hoben auch das allerletzte Foto auf, und untersuchten jeden Zierrat, auch das, was zerbrochen war. Rebecca blieb im Schlafzimmer; sie durchsuchte die Jacken ihres Vaters und wühlte in allen Taschen. Tom sah methodisch die Bücher des alten Mannes durch. Er fasste jedes einzelne beim Rücken und schüttelte es für den Fall, dass irgendeine längst vergessene Notiz aus dem Jahr 1946 zwischen den Seiten steckte.

Die ganze Zeit dachte er dabei an das, was wenige Stunden zuvor in diesem Zimmer passiert war. Nicht nur an den Sex, sondern auch daran, wie sie ein paar Minuten danach endlich alle Zurückhaltung aufgegeben hatte. Sie hatte sich in all dem schuldig gefühlt, ja, aber wenn Tom sich hätte aussuchen können, wo er jetzt sein wollte, dann wäre es noch einmal dieser Moment, in dem sie beide nackt beieinanderlagen und die Wahrheit sagten.

Er blätterte in den Seiten des Antiques Roadshow Compendium von 1981, als ihm etwas auffiel. Ein Zettel mit einer vergilbten Handschrift, unentzifferbar. Tom konnte nur ein paar Buchstaben lesen, und sicher war lediglich, dass es keine normalen englischen Wörter waren. Vielleicht waren es Namen, deutsche Namen.

»Rebecca! Komm her!«

Sie kam herübergerannt und war Sekunden später bei ihm. Sie nahm ihm das Blatt aus der Hand und hielt es dicht vor die Augen. Tom atmete schneller.

Schließlich sah sie ihn lächelnd an. »Das sind Namen, ja. Vielleicht sogar deutsche Namen. Das Dumme ist, es sind die Namen von Reinigungsflüssigkeiten. Das ist eine von seinen alten Einkaufslisten.«

Tom zerknüllte den Zettel und ließ sich mit geschlossenen Augen in einen Sessel fallen. Als er sie wieder öffnete, sah er Rebeccas eisigen Blick.

»Nicht da.«

»Was?«

»Da sollst du nicht sitzen.«

»Warum nicht?«

»Das ist Dads Sessel.«

Tom sprang sofort auf und versuchte so zu tun, als habe es den Augenblick gar nicht gegeben. »Okay. Was wissen wir jetzt?«

»Wir wissen, dass mein Vater, Sid Steiner, Goldman und andere Leute des DIN umhergezogen sind und Nazis umgebracht haben. Sie haben es in zwei Phasen getan, unmittelbar nach dem Krieg im besetzten Deutschland und noch einmal in den fünfziger und sechziger Jahren in der ganzen Welt. Und wir wissen jetzt, dass ihre größte Operation die mit der Nürnberger Bäckerei war, bei der sie vielleicht Tausende Nazis getötet haben.«

»Okay.«

»Jetzt müssen wir herausfinden, wieso irgendetwas davon heute noch eine Bedeutung haben kann. Selbst wenn DIN vorhatte, noch einen letzten Nazi zu töten – und offenbar vermutest du, dass mein Vater deshalb in New York war –, ist es damit jetzt vorbei. Mein Vater wurde … aufgehalten.« Sie schwieg kurz. »Und er war der Letzte. Er war immer der Jüngste. Nach ihm kommt niemand mehr. Goldman hatte nicht vor, etwas zu tun. Warum also wurde er umgebracht? Warum all das hier?« Sie deutete auf das Bild der Verheerung ringsum.

»Damit der Name nicht herauskommt«, mutmaßte Tom. »Vielleicht ist es ein Nazi, den alle Welt vergessen hat. Vielleicht lebt er unter falschem Namen. Oder dein Vater kannte seine Adresse. Wenn ich ein Nazi wäre und wüsste, dass Gerald Merton hinter mir her war, dann würde ich auch dafür sorgen wollen, dass er keine Hinweise hinterlässt.«

»Nein, das kann’s nicht sein.« Rebecca nagte an ihrer Unterlippe. »Vergiss nicht, Goldman wollte uns noch etwas erzählen.«

»Vielleicht war es der Name.«

»Was – und ein Nazi aus der Geriatrie hätte uns bespitzelt? Wäre in mein Haus eingebrochen, hätte alles auf den Kopf gestellt und –«

»Dafür gibt es Leute, die man beauftragen kann.« Tom richtete sich auf. »Was ist das?«

»Oh.« Rebecca drehte sich zu dem Bild in der Diele um. Es war ein abstraktes Gemälde, in dem fensterlosen Raum kaum beleuchtet, und von einem Garderobenständer halb verdeckt, eine formlose Ansammlung von Grau- und Schwarztönen, mindestens einen Meter breit und einen halben Meter hoch, mit dick aufgetragener Farbe. Tom hatte es bisher noch nicht beachtet. Die Einbrecher anscheinend auch nicht; es sah aus, als hätten sie es nicht angerührt.

»Das hat Rosa gemalt. Ich glaube, es ist das Einzige, das mein Vater von ihren Sachen behalten hat. Als Kind habe ich es gehasst, weil es so düster und deprimierend ist. Meine Mutter konnte es auch nicht ausstehen; er musste es im Keller aufbewahren.«

»Aber als er wieder allein wohnte, hat er es an die Wand gehängt. Das ist interessant, nicht wahr?«

»Vielleicht hatte er das Gefühl, er sei ihr etwas schuldig. Ich weiß es nicht.« Rebecca trat näher an das Bild heran. »Als Kind war mir der Gedanke an Rosa immer zuwider. Du weißt schon – ›die Frau, die vor Mummy kam‹ und all das. Aber wenn man es anschaut, wird einem klar, wie furchtbar ihr Leben war. Als sie starb, war sie jünger, als ich heute bin.«

»Wie heißt es? Ich meine, das Bild?«

»Es heißt Aleph. Siehst du die grauen Linien? Sie bilden ungefähr ein Aleph. Den ersten Buchstaben des hebräischen Alphabets.«

»Stimmt.«

Jetzt standen sie beide da und betrachteten das Gemälde, und die Umrisse des Buchstabens traten klar hervor. Tom versuchte, sich die Welt vorzustellen, in der diese beiden jungen Leute, ein Junge und ein Mädchen, vor sechzig Jahren gelebt hatten. Eine Welt der Massaker, des endlosen Sterbens und der Grausamkeit. Diese Welt, so hatten sie geglaubt, könne nur durch weiteres Sterben gerettet werden. Er sah Gershon in der Bäckerei vor sich: Zweifellos hatte er gebetet, das vergiftete Brot möge die Lippen des Mannes berühren, der seine geliebten Schwestern ermordet hatte.

Und dann ging ihm ein Licht auf. Eine Idee explodierte in seinem Kopf mit solcher Wucht, dass er sie kaum fassen konnte.

Er drehte sich zu Rebecca um und fasste sie beim Arm. »Was hast du vorhin gesagt, als wir darüber diskutierten, ob wir herkommen sollten? Im Bus?«

»Ich habe gesagt, wir müssten herkommen, weil wir vielleicht etwas übersehen haben –«

»Nein, nicht das, noch etwas anderes. Sprich weiter.«

»Ich habe gesagt, wir haben keine andere Möglichkeit –«

»Das ist es!«

»– keinen Plan B.«

»Genau! Das ist es: Plan B. Was in der Bäckerei passierte, war gar nicht die Hauptsache. Es war Plan B. So hat Sid es genannt.«

»Ich dachte, B steht für Bäckerei.«

»Ich ja auch. Für Brot oder für Bäckerei. Das habe ich zu Sid gesagt, erinnerst du dich? Und er antwortete: ›Nein. Wieder falsch.‹ Ich dachte, es ist die Demenz, aber als er über die Operation in der Bäckerei sprach, war er völlig klar. Er erinnerte sich doch sogar an das exakte Datum! Begreifst du nicht? Er hat die Wahrheit gesagt! Natürlich. Überleg doch – warum sollten all diese Juden aus Polen und Litauen ein deutsches Wort als Codenamen benutzen? Das hätten sie nicht getan. Sie hätten etwas Hebräisches genommen, genau wie bei dem Namen ihrer Organisation. Goldman hat uns gesagt, DIN sei Hebräisch für ›Gericht‹. Was ist das hebräische Wort für Brot?«

»Lechem

»Genau. Da ist kein B. Und wie heißt der zweite Buchstabe des hebräischen Alphabets?«

»Bet

»Siehst du! Plan Bet. Plan B. Und es hieß so, weil es einfach Plan B war. Es war der Ersatzplan.«

»Und was war der eigentliche Plan?«

Tom lächelte. »Plan A.«

»Oh. Bravo, Sherlock.«

»Oder, wie DIN ihn vielleicht eher genannt hätte, Plan Aleph.«

Langsam drehten sie sich beide um und betrachteten Rosas Assemblage aus unheilvollem Schwarz und nächtlichem Grau.