28
Als der Feueralarm losging, verstummte das Gespräch. Eine Sekretärin steckte den Kopf zur Tür herein und sagte, sie bedaure sehr, aber sie müssten das Gebäude sofort evakuieren. Henry Goldman fasste sich, packte seine Unterlagen in einen ledernen Aktenkoffer und folgte der Sekretärin nach draußen.
Dort drängelten sich die Angestellten; zwei oder drei zogen leuchtfarbene Westen über, und alle waren nervös. Tom und Rebecca eilten zu Fuß die fünfzehn Treppen hinunter, und beide wagten nicht, allzu viel über das zu sagen, was sie soeben gehört hatten. Einer der Feuerwehrhelfer warf einen Blick auf ihre Besucherausweise und führte sie zu einem Treffpunkt abseits der Roderick-Jones-Mitarbeiter. Dort mussten sie zwanzig Minuten in der frühabendlichen Kühle warten, und Tom nutzte die Gelegenheit im Freien, um schnell eine Zigarette zu rauchen. Er bot Rebecca auch eine an, und die akzeptierte sie gierig. Natürlich. Die meisten Ärzte, die er kannte, rauchten zwanzig Stück am Tag. Aber sie sagte noch immer nichts.
Ohne Vorankündigung, ohne dass ein Pfiff oder eine Sirene ertönte, getrieben nur von dem Herdeninstinkt, der jede Menschenmenge erfasst, setzten die Leute sich in Bewegung und gingen langsam zurück zum Gebäude. Anscheinend war es ein Fehlalarm gewesen.
Kurz darauf waren sie wieder in dem Konferenzzimmer im sechzehnten Stock. Die Sekretärin kam herein.
»Kann ich Ihnen helfen?«, zwitscherte sie, als habe sie die beiden noch nie gesehen.
»Wir waren doch vor dem Alarm hier. Haben mit Mr.Goldman gesprochen.« Rebecca lächelte.
»Oh, aber Mr.Goldman ist leider gegangen.«
»Gegangen?«
Die Sekretärin zuckte die Achseln. »Ich habe angenommen, Ihre Besprechung wäre zu Ende.«
Auf Toms Bitte rief sie unten bei der Security an und ließ in der Tiefgarage nachsehen: Jawohl, Mr.Goldmans Parkplatz sei leer. »Das hätte er früher niemals getan, das kann ich Ihnen sagen«, erklärte die Frau. »Nutzt die Gelegenheit, um früher Feierabend zu machen. Die meisten Partner gehen nie vor zehn, elf Uhr nach Hause, und die Sekretärinnen müssen Schichtdienst machen! Mr.Goldman war einer der Schlimmsten. Vor seiner Pensionierung natürlich.«
Tom schaltete in den Charme-Modus und ließ sein Lächeln in voller Wattzahl aufstrahlen. »Und das eben war ein regulärer Probealarm?«
»O nein. Die haben wir nur montags. Ich dachte, vielleicht war es ein Kurzschluss; das war’s jedenfalls beim letzten Mal. Aber ich habe eben mit Janice gesprochen – sie ist eine unserer Brandschutzbeauftragten –, und sie sagt, jemand hat einen dieser Notalarm-Kästen im Kellergeschoss aufgebrochen. Hat mit diesem Plastikhammer die Scheibe eingeschlagen.«
»Du meine Güte«, sagte Tom.
»Man sollte meinen, so etwas kostet eine Geldstrafe«, sagte die Sekretärin. »Anscheinend hat die Security keine Ahnung, wer es war, aber sie sehen sich schon die Videoüberwachungsbänder an.«
»Ein munterer Streich vielleicht«, sagte Tom und verfiel in die Ausdrucksweise, die der Dekan an der Uni in Manchester benutzt hatte, wenn er und seine Kommilitonen mit den Feuerlöschern herumgespritzt hatten. »Von einem der jüngeren Mitarbeiter.«
Die Sekretärin sah ihn entsetzt an. »Aber so jemanden haben wir hier nicht«, sagte sie, und Tom glaubte es sofort. Aber die Erinnerung an seine Studentenzeit hatte eine neue Intuition hervorgebracht, und die ließ ihm jetzt keine Ruhe mehr.
Rebecca hatte keine Lust, die Plauderei mit Henry Goldmans Sekretärin länger als nötig fortzusetzen. Sie verabschiedeten sich und verließen das Gebäude. Tom ließ Rebecca vorausgehen und rief rasch bei Jay Sherrill an. Er mochte den Kerl nicht, aber zumindest sollte es so aussehen, als kooperiere er. Mertons Holocaust-Vergangenheit würde er nicht erwähnen: Henning hatte ihm gesagt, er solle es nicht tun, und das war ihm ganz recht; Sherrill würde vielleicht einen Zusammenhang mit der Waffe herstellen und der DIN-Geschichte selbst auf die Spur kommen, und bevor Tom sich versähe, würde die ganze Sache außer Kontrolle geraten. Den Informationsfluss zu steuern, das war das Geheimnis des Erfolgs bei der UN gewesen. Henning Münchau hatte eine Kunstform daraus gemacht.
»Hallo, Detective Sherrill. Tom Byrne, in London.«
»Haben Sie was zu der Waffe, die wir gefunden haben?«
»Zufällig ja, ich habe etwas.«
»Und was?«
»Es ist noch unklar, nichts Handfestes. Aber möglicherweise hat Merton früher einer Art bewaffneter Gruppe angehört.«
»Oha. Was für einer Art bewaffneter Gruppe?«
»Es ist noch unklar. Aber es könnte sein, dass er einer Gruppe von Vigilanten angehört hat. Von Leuten, die das Gesetz selbst in die Hand genommen und Verbrecher bestraft haben.«
»Mit ›bestraft‹ meinen Sie –«
»Ja, Detective Sherrill. Das meine ich. Aber das ist lange her, und ich bin nicht sicher, ob es Licht auf den Fund im Hotelzimmer oder auf den Russen wirft –«
»Nein, aber trotzdem. Es wäre brauchbar. Was für Beweise haben Sie?«
»Nur eine oder zwei Andeutungen in ein paar Schriftstücken, die Merton hinterlassen hat. Nichts Explizites.«
»Ist irgendeiner aus dieser Gruppe je verurteilt worden?«
»Keiner, soweit ich weiß.«
»Sind sie noch aktiv?«
»Das ist die Eine-Million-Dollar-Frage. Ich melde mich, wenn ich mehr habe.«
Er trennte die Verbindung und sprintete hinter Rebecca her, die eben den Saab aufschloss. Kaum saß sie am Steuer, ließ sie einen Schwall von aufgestauter Luft los. »Mein Gott, war das frustrierend! Endlich ist er so weit, dass er uns etwas erzählen will, das wir noch nicht wissen, und da fangen Sie an zu schwadronieren!«
»Ich habe nicht schwadroniert, ich habe nur klargestellt –«
»Ich will nicht mehr darüber reden.«
» – dass das Recht manchmal –«
»Im Ernst.« Sie funkelte ihn an. »Ich will nicht mehr darüber reden.« Und damit fuhr sie vom Parkplatz und in den Verkehr hinaus. Ihr wütendes Schweigen erfüllte den Wagen.
Die Argumente, die Tom vortragen wollte, gingen ihm im Kopf herum, aber er kam nicht sehr weit. Rebecca hatte wahrscheinlich recht; er hatte Goldman tatsächlich kopfscheu gemacht. Ein elementarer Fehler, den er da begangen hatte: Er hatte seine eigenen Ansichten über einen Fall vorgetragen, für den sie völlig irrelevant waren. Es war nur darum gegangen, einem Zeugen Informationen zu entlocken. Er wusste, dass es ein Fehler gewesen war, aber was ihn verunsicherte, war nicht die Tatsache, dass er ihn begangen hatte – sondern weshalb er es getan hatte.
Das Tageslicht schwand zusehends, Rebecca umklammerte verbissen das Lenkrad und schaute starr geradeaus auf die Straße. Tom blickte ins Leere. Keiner von ihnen achtete auf den Außenspiegel auf Toms Seite. Hätten sie es getan, hätten sie vielleicht das Manöver des Mercedes gesehen, der drei Wagen hinter ihnen fuhr: Es ließ deutlich erkennen, dass er ihnen folgte.