21
Zum Glück hatte Tom seinen BlackBerry stummgeschaltet; Rebecca hatte nicht gehört, wie Sherrills Textnachricht gekommen war, und dies war nicht der richtige Augenblick, um ihr zu sagen, was darin stand. Außerdem bestätigte es nur seinen Verdacht, von dem er ihr schon erzählt hatte: dass ihr Vater mit einer Killerwaffe in New York gewesen war.
Vor allem wollte er die Stimmung nicht zerstören, die sich im Zimmer ausgebreitet hatte, ausgelöst durch diese flüchtige Umarmung und dann durch die Botschaft an der Pinnwand, die er entdeckt hatte, die Erinnerung an das Andenken der toten Mutter. Schweigen erfüllte den Raum, eine Stille, die sie irgendwie miteinander verband. Gelegentlich schaute Rebecca ihn an, ohne etwas zu sagen, und stocherte dann wieder in den inzwischen aufgeweichten Sandwiches herum, die ihre Freunde am Morgen mitgebracht hatten.
»Ihre Mutter – war sie das Mädchen, von dem ich im Buch Ihres Vaters gelesen habe?« Es war die erste Gelegenheit, über das Gelesene zu sprechen.
»Wie bitte?«
»Rosa. War sie Ihre Mutter?«
»O nein. Das ist eine lange Geschichte.«
»Ich habe Zeit.«
Sie lächelte, und die Wärme dieses Lächelns strahlte über den Tisch und durchströmte ihn. »Ich habe Rosa nie kennengelernt. Aber sie und mein Vater sind nach dem Krieg zusammengeblieben. Und sie kam hierher, nach England.«
»Aber?«
»Aber ich bin nicht sicher, dass sie sich auf normale Weise liebten. Sie klammerten sich aneinander. Sie brauchten einander.«
Einen kurzen Augenblick lang sah Tom zwei halbwüchsige Kinder vor sich, die ein unsagbares Grauen erlebt hatten. Junge Körper, alte Gesichter.
»Sie hatten keine Kinder. Ich vermute, sie war unfruchtbar. Die fortgesetzte Unterernährung und die emotionale Traumatisierung in der frühen Pubertät hat den normalen Eisprung verhindert.«
»Ist das eine medizinische Vermutung?«
Das schiefe Lächeln schimmerte kurz auf und verschwand wieder.
»Mein Vater sagte immer, das Licht sei ausgegangen. Sie habe kein Licht mehr in sich gehabt.«
»Vielleicht hatten Sie beide recht.«
Sie sah ihn an, und der X-Men-Powerstrahl leuchtete mit halber Kraft auf. »Sie starb 1966. Mein Vater war noch relativ jung. Er trauerte um sie, aber er war nicht der Mann, der allein leben konnte, und ein paar Jahre später lernte er eine Frau kennen, hier in London. Sie heirateten, und ein paar Jahre danach kam ich zur Welt. Da war er sechsundvierzig.«
»Hat es etwas bedeutet, einen Dad zu haben, der schon ein bisschen älter war?«
»Nicht so viel, wie es bedeutete, einen Dad zu haben, der den Holocaust überlebt hatte.«
Tom nickte. Er akzeptierte die Zurechtweisung; ihm war klar, dass er es vermieden hatte, dieses Wort auszusprechen.
»Außerdem«, fuhr sie fort, »war er immer äußerst fit. Er hat sehr auf sich geachtet.«
Das habe ich gesehen, dachte Tom; er erinnerte sich an die Obduktion ihres Vaters.
»Hat die Kriegserfahrung – hat das Erlebnis des Holocaust irgendwelche körperlichen Spuren an ihm hinterlassen?«
»Er hatte keine Nummer am Arm, wenn Sie das meinen. Manchmal wünschte ich, er hätte eine gehabt.«
»Wie meinen Sie das?«
»Na, das erwarten die Leute doch, oder? Holocaust-Überlebender: Tätowierung am Arm. Aber das haben sie nur in Auschwitz gemacht. Wussten sie das? Nur dort haben sie die Juden mit einer Nummer markiert.« Sie sprach jetzt schneller, und ihre Stimme veränderte sich. »Aber mein Vater war nie in Auschwitz oder einem anderen Vernichtungslager. Deshalb konnte man es ihm nicht ansehen. Man konnte nicht durch bloßes Anschauen erkennen, was er durchgemacht hatte. Und er konnte es nicht mit einem Wort vermitteln. Er konnte nicht einfach sagen: Ich war in Treblinka. Oder in Sobibor. Oder Belzec. Oder Majdanek. Wohlgemerkt, nicht viele konnten das sagen, denn kaum einer ist da herausgekommen. Kaum jemand hat diese Lager überlebt. Also musste mein Vater den Leuten entweder die ganze Geschichte erzählen – von dem Dorf und dem brennenden Stall und den Pogromen in Kowno, von seiner Mutter, die an der Decke hing, vom Ghetto und von den Gruben –, oder er konnte gar nichts sagen. Meistens entschied er sich dafür. Er schwieg. Er hielt keine Reden. Er nahm an keiner der Erinnerungstouren teil. Er ging nie zurück.«
Sie schwieg nachdenklich.
»Ich habe Ihre Frage nicht beantwortet.« Jetzt war ihr Tonfall der gleiche wie der, den er am Telefon gehört hatte: Dr.Rebecca Merton. »Sie haben nach körperlichen Spuren gefragt. Es gab welche.«
»Nämlich?«
»An seinem linken Fuß. Ihm fehlten drei Zehen. Ich glaube, sie sind ihm damals im Wald erfroren. Als er bei den Partisanen kämpfte. Das steht in seinem Buch: dass sie in der bitteren Kälte Filzpantoffeln tragen mussten. Sie hatten keine Stiefel. Sie mussten warten, bis jemand starb, und sie ihm dann wegnehmen.«
»Und hat ihn das beeinträchtigt? Ich meine, die fehlenden Zehen.«
»Eigentlich nicht. Er hat leicht gehinkt. Als hätte er auf einer Seite eine schwere Tasche zu tragen. Aber es hat ihn nicht daran gehindert, sich in Form zu halten. Er ist geschwommen, gelaufen, hat Gewichte gestemmt.«
Es hatte keinen Sinn, es bei Andeutungen zu belassen. Er musste sie geradeheraus fragen. »Ich habe gehört, Ihr Vater trug eine Art Metallschiene am Bein. Sie war vor das Schienbein gebunden. Warum?«
Sie sah ihn an, lange und prüfend. »Ich habe meinen Vater regelmäßig gesehen, auch vor seiner Abreise nach New York, und ich kann Ihnen sagen, mit seinem Bein war alles absolut in Ordnung. Sie müssen sich da irren.«
Tom wollte sie nicht weiter bedrängen. Er musste die Metallschiene, die er mit eigenen Augen gesehen hatte, einfach auf die immer länger werdende Liste der Rätsel setzen, die mit diesem Fall verbunden waren.
»Und Sie?«, fragte sie und trug die Teller zur Spüle. »Haben Sie Familie hier?«
»Meine Mutter wohnt in Sheffield. Mein Vater ist tot.«
»Werden Sie sie besuchen, während Sie hier sind?«
»Das glaube ich nicht. Früher war ich ein pflichtbewusster Sohn. Heute spare ich mir die Nostalgie für Weihnachten auf.«
Das Telefon klingelte; diesmal war es das Festnetz – ein weiterer Kondolenzanruf. Rebecca nahm das schnurlose Telefon vom Tisch und ging hinaus in die Diele.
Als sie draußen war, ließ Tom den Blick durch die verwüstete Küche schweifen. Wer auch immer hier gewesen war, hatte keine Gnade gekannt. Mit brutaler Effizienz hatten sie alles auf den Kopf gestellt. Zwischen seinem Abschied von Rebecca vor der Haustür und ihrem Anruf, mit dem sie ihn zurückbeordert hatte, war nicht mehr als eine Stunde vergangen. Es war ihnen gelungen, diese Wohnung in weniger als sechzig Minuten komplett auseinanderzunehmen. Was hatten sie gesucht? Hing dieser Einbruch mit den tödlichen Schüssen an der UN-Plaza zusammen, oder konnte es ein zufälliges Zusammentreffen sein? So oder so – ein unsichtbarer und brutaler Feind hatte jetzt Rebecca Merton im Visier. Der bloße Gedanke brachte ihn in Rage.
Er blickte auf und sah sie atemlos in der Küchentür stehen.
»Das habe ich gerade unten gefunden, auf der Fußmatte.« Sie hielt einen großen weißen Umschlag hoch. »Persönliche Zustellung.«
»Was ist es?«
Sie gab ihm den Umschlag und setzte sich so dicht neben ihn auf die Bank, dass ihre Oberschenkel sich berührten. Er konnte sie riechen, und ihr Duft durchflutete ihn mit Begierde. Mühsam konzentrierte er sich. Der Umschlag enthielt zwei Blätter Papier. Sie fühlten sich weich an, beinahe samtig vom Alter, und sie waren mit einer einzelnen Heftklammer zusammengehalten. Sie trugen die unverkennbare Druckschrift einer mechanischen Schreibmaschine. Es war schwer zu erkennen, aber es konnte sich um Kopien handeln, um altertümliche Matrizenabzüge. In Manchester hatte Tom einen Professor gehabt, der ganz offenkundig seit den fünfziger Jahren dieselben Lektürelisten verteilte: In seinen Seminaren hatte Tom ein solches Dokument zum letzten Mal in den Händen gehalten.
Es gab keinen Titel, keine erklärende Überschrift. Auf der ersten Seite stand nur eine Namensliste, anscheinend alphabetisch geordnet:
Wilhelm Albert
Wilhelm Altenloch
Hans Bothmann
Hans Geschke
Paul Giesler
Odilo Globocnik
Richard Glücks
Albert Hohlfelder
Friedrich Wilhelm Krüger
Kurt Mussfeld
Adalbert Neubauer
Karl Puetz
Christian Wirth
Sämtliche Namen waren säuberlich mit Tinte durchgestrichen – jeweils zwei Linien, die ein X bildeten, wie ein Häftling die Tage im Kalender ausstrich. Tom nahm sich das zweite Blatt vor. Die Schrifttype war eine etwas andere, und die Namen waren nicht in alphabetischer Reihenfolge:
Hans Groetner
Hans Stuckart
Joschka Dorfman
Otto Abetz
Theo Dannecker
Karl-Friedrich Simon
Fritz Kramer
Jacob Sprenger
Georg Puetz
Herbert Cukors
Alexander Laak
Auch diese Namen waren durchgestrichen, aber nicht so säuberlich; die Striche waren nicht gleichförmig, und die Tinte hatte nicht dieselbe Farbe. Es sah aus, als sei die erste Liste auf einen Sitz markiert worden, die zweite dagegen zu verschiedenen Gelegenheiten im Laufe der Zeit.
Davon abgesehen enthielt das Dokument in seiner Hand keinerlei Hinweis. Aber je länger Tom es anschaute, desto sicherer war er, dass diese Liste zumindest das Geheimnis um Gershon Matzkin aufklären würde.