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Die meisten Treffer waren in deutscher Sprache, der erste ein Artikel aus der Frankfurter Allgemeinen Zeitung, in dem Henning Münchaus Berufung zu den Vereinten Nationen gemeldet wurde; das Gleiche stand in mehreren Auszügen aus der juristischen Fachpresse. Auf Englisch fand sich ein Interview mit The World, der Zeitschrift der United Nations Association in Großbritannien, und eine Kalendernotiz aus dem New York Observer, in der berichtet wurde, Münchau habe von der Manhattaner Stadtverwaltung eine Vorladung erhalten, weil er es versäumt hatte, einen Strafzettel für falsches Parken zu bezahlen. Nicht das, was Tom suchte.
Er ließ das Gesicht in die Hände sinken. Es gab da etwas, das ihm nicht einfallen wollte. Denk nach. Denk nach.
Mit geschlossenen Augen versuchte Tom, sich das Büro des Justitiars vorzustellen. Das luxuriöse Vorzimmer mit den beiden Sekretärinnen und dem Blick durch das Fenster auf den East River. An Hennings Tür hing ein Schild. Tausend Mal war er daran vorbeigegangen, ohne je richtig hinzuschauen. Langsam nahm es vor seinem geistigen Auge Gestalt an, und die einzelnen Lettern traten hervor. Da war es: W. Henning Münchau.
W.
Jetzt fiel es ihm wieder ein, wie sie beide in der Warteschlange vor der Passkontrolle gestanden hatten, als sie Dili in Ost-Timor verlassen wollten. Sie hatten ihre Pässe getauscht, und Henning betrachtete Toms Foto und machte sich über den sichtbaren Verfall lustig.
»Ein so hübsches Kerlchen warst du. Was ist passiert, he, Tommy?«
Tom hatte auf Münchaus Foto nichts gesehen, was ihm Gegenmunition geliefert hätte: Der Mann war anscheinend nicht gealtert. Aber zum ersten Mal hatte er den vollen Namen seines Kollegen gelesen.
»Ah, wir haben einen Kaiser in unserer Mitte. Ich muss schon sagen. Meine Herren, ich bitte um Ruhe für Kaiser Wilhelm Henning Münchau!«
Henning hatte gesagt, er solle die Klappe halten. Tom hatte sich damals nichts dabei gedacht. Aber als ihm die Erinnerung jetzt noch einmal durch den Kopf ging, fragte er sich, ob Henning vielleicht aus einem besonderen Grund aufgehört hatte zu lächeln.
Er gab den Namen bei Google ein.
Wieder waren die beiden ersten Einträge in deutscher Sprache. Sie stammten aus Fachzeitschriften, und Hennings Name erschien auf einer langen Liste zusammen mit anderen: wahrscheinlich die Bekanntgabe diverser Auszeichnungen und Beförderungen.
Er musste die Suche eingrenzen. Ohne weiter darüber nachzudenken – damit er es sich nicht anders überlegen konnte –, tippte er den Namen in die Suchmaske: Wilhelm Henning Münchau. Aber jetzt fügte er noch ein Wort hinzu: Nazi.
Die Suchmaschine brauchte weniger als eine Sekunde, um die ganze Welt zu durchstöbern und den Satz zu finden, vor dem Tom gegraut hatte. Aber da stand es, schon in den ersten paar Worten des Eintrags in der Trefferliste. Er stammte von der Website des Department of History an der University of Maryland.
Hauptsturmführer Wilhelm Henning Münchau, 1898–1975. Dienst in den SS-Totenkopfverbänden. 1966 von einem westdeutschen Gericht wegen seines Einsatzes in Theresienstadt (Terezin) zu einer Haftstrafe auf Bewährung verurteilt.
Tom klickte den Link auf dem Wort »Totenkopfverbände« an und gelangte auf die Website des »Museums der Toleranz«. Dort stand die Erklärung: SS-Einheiten im Einsatz als Bewacher von Konzentrationslagern. Der Name geht auf das Totenkopfsymbol auf dem Kragenspiegel ihrer Uniform zurück. Eine Eliteeinheit innerhalb der Elitetruppe der SS.
Tom scrollte bis zum Ende des Eintrags: … beauftragt mit der Ermordung von Juden und Partisanen.
Er schob seinen Stuhl zurück und griff instinktiv nach dem Tabak in der Innentasche seines Jacketts. Wenn man noch irgendwo in London rauchen durfte, dann sicher in einem Loch wie diesem. Mit einer Hand, und ohne den Blick vom Bildschirm zu wenden, drehte er sich eine Zigarette und steckte sie zwischen die Lippen. Schon das – noch bevor er ein Streichholz angerissen hatte – wirkte wie ein beruhigender Nikotinstoß.
Gütiger Himmel. Welcher Teil seines Gehirns war dafür verantwortlich, dass er nicht schon früher daran gedacht hatte? Hatte er es vollständig verdrängt? Es war doch unmittelbar vor seiner Nase gewesen. Sowie er Gershon Matzkins Tagebuch aufgeschlagen hatte, hätte er zumindest daran denken müssen. Jeder andere wäre darauf gekommen. Er hatte den Auftrag bekommen, den Fall um einen alten Nazi-Jäger zu vertuschen, und zwar ausgerechnet von einem Deutschen! Man musste nicht voller Vorurteile sein, um den Zusammenhang zu sehen; dazu genügte der gesunde Menschenverstand. Wie hatte er so dumm sein können? Er hatte sein Urteilsvermögen durch seine persönliche Zuneigung zu Henning trüben lassen und die nächstliegende Richtung für seine Fragen nicht gesehen. Seine Freundschaft zu Henning hatte seine Synapsen daran gehindert, das potentielle Interesse eines deutschen Diplomaten an der Verdrängung der Nazi-Vergangenheit wenigstens mit einem Zucken zur Kenntnis zu nehmen. Vielleicht lag es auch daran, dass er Henning gar nicht mehr als Deutschen wahrnahm, sondern eher als eine Art quasi-australischen Weltbürger.
Seine Gedanken überschlugen sich, als sie versuchten, mit den Implikationen Schritt zu halten. Es musste ja bedeuten, dass Henning ihn getäuscht hatte, als er ihn mit dieser Mission betraute. Er hatte so getan, als wisse er nichts über Gerald Merton, aber alles, worauf es ankam, war ihm bekannt gewesen, einschließlich des Motivs, das den alten Mann angetrieben hatte.
Aber das war noch das wenigste. Der oberste Justitiar der Vereinten Nationen hatte es irgendwie zuwege gebracht, eine Geheimdienstoperation in einer ausländischen Hauptstadt zu leiten und die Wohnung Gerald Mertons und seiner Tochter ausfindig zu machen und zu verwüsten, gar nicht zu reden von dem Lauschangriff auf Henry Goldman und seiner Ermordung. Wie kam Münchau zu so viel Macht? Oder war er nur ein Teil von etwas viel Größerem?
Als Erstes hatte Tom leise Enttäuschung empfunden. Genauer gesagt, Enttäuschung über Gershon Matzkin. Er hatte mehr von ihm erwartet. Es schien unter seiner Würde zu sein, nach New York zu fahren, nur um den Sohn oder – was wahrscheinlicher war – den Enkel eines Nazi-Verbrechers aufzuspüren. Tom hatte wider Willen Verständnis für die Entschlossenheit des DIN gehabt, die Schuldigen zu jagen, aber das hier – die Vergeltung der Sünden der Väter an ihren Kindern und Kindeskindern –, war nicht mehr zu verteidigen. Einen Sinn ergab das nur, wenn es nicht bloß um Henning Münchau und seinen Nazi-Großvater ging, sondern um eine Angelegenheit, bei der der UN-Jurist – Toms alter Chef und guter Freund – nur eine kleine Rolle spielte.
Er drehte sich zu Rebecca um; er hatte damit gerechnet, dass sie ihm über die Schulter spähte und die kurz zusammengefasste Geschichte des Herrn Münchau Senior las, die noch immer auf dem Monitor leuchtete. Aber Rebecca schaute nicht auf seinen Bildschirm. Sie starrte auf ihren eigenen. Und sie war bleich.
»Was ist?«
Sie zeigte nur auf den Schirm, auf dem ihre Facebook-Seite geöffnet war, und deutete auf die Abteilung »Freunde« auf der linken Seite.
»Das verstehe ich nicht.« Tom wurde wieder einmal bewusst, dass Rebecca zehn Jahre jünger war als er, aber auch, dass die letzte Welle der Internet-Revolution großenteils an ihm vorbeigegangen war. Alle anderen mochten dabei soziale Networks gebildet haben, aber auch heute noch bestand seine eigene persönliche Beziehungswelt aus den Models, mit denen er ausging, den Mafia-Leuten, für die er arbeitete, und dem in Großbritannien geborenen Schneider, den er in der Spring Street entdeckt hatte: Keine dieser Beziehungen spielte sich online ab.
Rebecca ging mehrere Seiten zurück. Tom war abgelenkt; er hatte einen neuen Kunden bemerkt.
»Siehst du den hier?« Sie zeigte auf ein Viereck, in dem kein Foto, sondern ein Fragezeichen zu sehen war. »Er wollte sich schon kürzlich mit mir befreunden.«
»Sich mit dir befreunden?«
»So läuft das bei Facebook. Jedenfalls habe ich zugestimmt.« Sie sah Toms ungläubigen Gesichtsausdruck. »Da haben sich viele Leute gemeldet, hauptsächlich um mir ihr Beileid wegen Dad auszusprechen. Es war einfacher, überall ja zu sagen.«
Tom las, was der neue »Freund« geschrieben hatte. Irgendwie kam es ihm bekannt vor.
»Sieh dir die Status-Updates an.«
Tom überflog die Liste. »Jay … ist beim Essen in York. Zoe … kann’s nicht erwarten, dass Feierabend ist und sie einen ordentlichen Drink nehmen kann.« Sein Blick wanderte wieder vom Bildschirm hinüber zu dem Mann, der jetzt am Ende der Reihe saß. Weiß, mit iPod-Ohrhörern, die ihm über den Kragen hingen.
Rebeccas Zeigefinger holte ihn zurück zu der Liste der Statusmeldungen auf der Facebook-Seite und führte ihn zu Nummer fünf. »Das ist er.«
Richard muss Rebecca dringend sehen – damit er ihr erklären kann, was los ist.