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Der Tag, der ein Leben verändert oder ein Leben beendet, kommt selten mit Vorankündigung. Es gibt keine Zeichen am Himmel, keine schwarzen Raben auf einem Pfahl, keine Begleitmusik in Moll. Für Felipe Tavares, Security Officer im Gebäude der Vereinten Nationen in New York, hatte der 23.September als normaler Montag begonnen.
Er war mit dem 6:15-Zug über den Long Island Expressway gekommen, hatte sich unterwegs einen Cappuccino und ein Muffin besorgt – ein kümmerliches, mit Blaubeeren, als Zugeständnis an seine Frau –, den Jungs am Eingang mit seinem Passierschein zugewunken und war weiter ins Untergeschoss des UN-Gebäudes gegangen, in die Zentrale der Institution, in deren Dienst er seit drei Jahren stand. Dort schloss er seinen Spind auf, nahm die blaue Uniform der UN Security Force mit dem Schulterriemen und dem Messingabzeichen heraus – was noch immer ein stolzes Kribbeln bei ihm auslöste – und zog sich für die Schicht um.
Als Nächstes ging er in die Waffenkammer, um seine Dienstwaffe abzuholen. Er legte seinen Ausweis vor, eine Smartcard mit Foto, und erhielt dafür eine 9-mm-Glock, die Standardwaffe für die meisten aktiven Angehörigen dieser Miniaturpolizei, zuständig für den Schutz des internationalen Territoriums des UN-Gebäudes mit allem, was darin war. Felipe nahm die Munition aus der Gürteltasche und lud die Waffe; dabei hielt er sie gewissenhaft in den Kugelfang gerichtet – eine Sicherheitsmaßnahme für den Fall, dass sich versehentlich ein Schuss löste. Dann schob er die Waffe in den Halfter an seinem Gürtel neben seinem Schlagstock, einem P38 mit Griff, dem Pfefferspray und den Handschellen und begab sich in den »Ready Room«, um seinen Platz in der Appellreihe einzunehmen, wo er und seine Kollegen von einem Officer gemustert werden würden, der sich vergewisserte, dass seine Männer und Frauen tipptopp, nüchtern und einsatzfähig waren.
Als das erledigt war, kehrte er zurück zum Haupteingang an der 1st Avenue zwischen 45th und 46th Street. Wieder würde es, nahm er an, ein langer Tag werden, den er damit zubrachte, Passierscheine zu kontrollieren und die Fragen der Touristen zu beantworten. Warm genug war es, aber es lag Regen in der Luft; also zog er sein orange-schwarzes wasserdichtes Cape über. Die Arbeit war bestimmt wieder recht langweilig, aber das machte ihm nichts. Felipe Tavares hatte sich danach gesehnt, der Plackerei in der portugiesischen Kleinstadt zu entkommen, in der er geboren und aufgewachsen war und in der er, wenn er nichts unternommen hätte, auch gestorben wäre. Und er hatte es geschafft. Er war in New York, und das allein war aufregend genug.
Zur selben Zeit, auf der anderen Seite der Stadt in einer Nebenstraße in Tribeca, eher einer Gasse, folgte Marcus Mack seiner eigenen morgendlichen Routine: Afro-Amerikaner, Ende zwanzig, in weiten, ausgefransten Jeans und mit einem Wust von Dreadlocks, eine schmuddelige Crumpler-Computertasche über der Schulter. Er überprüfte seinen geparkten Wagen, und wer ihn beobachtete, würde vermuten, dass er lediglich stolz auf seinen aufgemotzten, wenn auch betagten Pontiac sei. Es sah aus, als sehe er nach dem Reifendruck, als er vor dem Hinterrad an der Fahrerseite niederkniete. Wahrscheinlich hätte niemand gesehen, dass er über dem Rad im Radkasten herumtastete, bis er ein mit Klebstreifen befestigtes Handy fand. Er nahm es heraus und ging weiter.
Etwa eine Minute später klingelte das Telefon, wie Marcus es gewusst hatte. Die Stimme, die er hörte, kannte er, aber er vermied es, hallo zu sagen. Er hörte vier Worte – Athens Coffeeshop, halb acht –, und dann war die Verbindung beendet. An der nächsten Ecke warf Mack das Telefon ohne weitere Umstände in den Mülleimer.
Das Café war voll, wie sein Agentenführer es gern hatte. Marcus sah ihn sofort; er saß auf einem Hocker vor dem Fenster, ein ganz gewöhnlicher Mann im grauen Anzug, der seine Zeitung las. Marcus setzte sich neben ihn und zog seinen Laptop heraus. Sie nahmen keinen Blickkontakt auf.
Das Telefon des Agentenführers klingelte, und er tat, als melde er sich, aber in Wahrheit sprach er mit Marcus, dessen Blick starr auf den Computerbildschirm gerichtet blieb.
»Wir haben Bewegung in Brighton Beach registriert. Der Russe.«
Mehr brauchte er nicht zu sagen. Marcus wusste so gut wie sein Kollege in der Einheit bei der Geheimdienstabteilung des NYPD, wer der Russe war: ein Waffenhändler, der ein Jahr zuvor entdeckt worden war. Die Abteilung hatte genug in der Hand, um ihn auf der Stelle hochzunehmen, aber von ganz oben war der Befehl gekommen: »Lasst ihn im Spiel.« Das war eine bekannte Taktik: Lass einen Schurken im Geschäft bleiben, beobachte, wer da kommt und geht, und mit etwas Glück wird er dich zu ein paar größeren Schurken führen. Wirf die Elritze wieder ins Wasser, und du fängst den Hai.
»Die Überwachungskamera hat einen Mann in Schwarz aufgenommen, der gestern Abend das Haus des Russen betreten und nach einer Stunde wieder verlassen hat. Haben ihn zum Tudor Hotel verfolgt, 42nd Street, Ecke Second.«
Marcus reagierte nicht; er klapperte weiter auf seinem Keyboard wie ein Großstadttyp herum, der gerade seine iTunes-Sammlung umsortierte. Aber er wusste, was aus dieser Lage zu schließen war. Das Tudor-Hotel lag in unmittelbarer Nachbarschaft des UN-Gebäudes, und dies war die große Woche der UN. Regierungschefs aus der ganzen Welt waren nach New York gepilgert, um vor der Vollversammlung zu sprechen. Es wimmelte von Agenten des amerikanischen Secret Service, die den Besuch des Präsidenten vorbereiteten, der in ein paar Tagen kommen würde, und schon jetzt waren mehr als hundert hochrangige Zielpersonen hier, allesamt für gefahrvolle zweiundsiebzig Stunden dicht zusammengedrängt auf eine Handvoll Blocks in Manhattan. In einer solchen Woche war alles möglich. Ein Kurde, der zu einem Anschlag auf den türkischen Ministerpräsidenten entschlossen war, ein baskischer Separatist mit der Absicht, den spanischen Premierminister in die Luft zu sprengen, und zwar vorzugsweise live im Fernsehen – alles war denkbar.
»Haben gestern Abend die Telefonzentrale im Tudor Hotel angezapft. Heute Morgen hat ein Gast bei der Rezeption angerufen und sich nach den Besuchszeiten im UN-Gebäude erkundigt. ›Stimmt es, dass Touristen den Sitzungssaal des Sicherheitsrates betreten dürfen?‹«
»Akzent?« Es war das erste Wort, das Marcus sprach.
»Teils britisch, teils ›ausländisch‹.«
»Okay.«
»Sie müssen hin. Beschatten Sie ihn.«
»Beschreibung?«
»Weiß, männlich. Eins siebzig. Dicker schwarzer Wollmantel, schwarze Wollmütze.«
»Gewicht?«
»Schwer zu sagen. Der Mantel ist unförmig.«
»Back-up?«
»Ein Team.«
Felipe Tavares war jetzt im Freien. Hinter ihm spannte sich das provisorische weiße Vordach, das als Besucherfoyer für die UN diente – nach fünf Jahren war es immer noch da. Aber noch waren wenige Touristen unterwegs; es war noch zu früh. Bis jetzt sah er hauptsächlich normale UN-Mitarbeiter, deren Ausweise wie Halsketten vor der Brust baumelten. Es gab nicht viel zu tun. Er schaute zum Himmel hinauf, der allmählich dunkler wurde. Es würde bald regnen.
Marcus postierte sich an der Ecke 42nd Street und Second Avenue – die immer noch Nelson- und Winnie-Mandela-Ecke hieß – und drückte sich in den Eingang von McFadden’s Bar. Diagonal gegenüber war das Tudor Hotel. Die ersten Regentropfen waren hilfreich; sie gaben ihm einen Vorwand, sich hier unterzustellen und nichts weiter zu tun. Außerdem bewirkten sie, dass der Portier vor dem Tudor in Cape und Schirmmütze viel zu sehr mit Regenschirmen und Taxis beschäftigt war, um einen Typen mit Dreadlocks zu bemerken, der auf der anderen Straßenseite herumlungerte.
So war es Marcus am liebsten: unbemerkt bleiben. Das war zu seiner Spezialität geworden, als er im Undercover-Einsatz beim Rauschgiftdezernat des NYPD gearbeitet hatte. Seit er vor einem Jahr zur Geheimdienstabteilung gewechselt hatte, war es geradezu zur Notwendigkeit geworden. Die tausend Männer und Frauen dieser Abteilung, die praktisch nichts anderes war als New Yorks eigener Spionagedienst – eine Hinterlassenschaft des 11.September –, hielten ihre Existenz vor jedermann geheim: vor der Öffentlichkeit, den Schurken und sogar ihren Kollegen bei der Polizei.
Er hatte fünfundzwanzig Minuten gewartet, als er ihn sah: eine schwarze Gestalt, die durch die Drehtür des Hotels kam. Gerade als er sich zu Marcus umdrehte, trat der Portier mit seinem Schirm vor und verdeckte das Gesicht des Mannes. Als der Schirm wieder weg war, hatte die schwarze Gestalt sich nach rechts gewandt. In Richtung des UN-Gebäudes.
Marcus sprach in das Mikro, das aussah, als gehöre es zum Bluetooth-Headset eines Handys. »Person hat Hotel verlassen.« Ohne eine Antwort abzuwarten, ging er los, immer ein paar Schritte hinter dem Mann auf der anderen Seite der sechs dicht befahrenen Spuren der 42nd Street. Eine knisternde Stimme in seinem Ohr kam aus weiter Ferne. »Sicher identifiziert?«
Marcus warf einen Blick hinüber. Der Mann war in den dicken dunklen Mantel eingemummelt, den der Handler erwähnt hatte; er trug eine schwarze Wollmütze, tief in die Stirn gezogen, und er war nicht mehr als einen Meter siebzig groß. Die Person passte hundertprozentig auf die Beschreibung des Mannes, der am Abend zuvor bei dem Russen gesehen worden war. Er drückte auf die Taste an dem Clip an seinem Ärmel. »Positiv. Er ist es.«
Plötzlich blickte sich der Mann in Schwarz mehrmals um, als wolle er sicher sein, dass niemand ihn beschattete. Natürlich ließen sich ausgebildete Terroristen nicht einfach verfolgen. Marcus drehte sich sofort zur Seite und schaute zu der Treppe hinüber, die zu einem kleinen städtischen Spielplatz hinaufführte. Am Rande seines Gesichtsfelds sah er, dass der Mann sich nicht mehr umschaute, sondern zielstrebig weitermarschierte.
Etwas an seinem Gang war merkwürdig. Hinkte er ein wenig? Seine Bewegungen wirkten eingeschränkt; irgendetwas behinderte ihn. Er ging wie ein Mann, der etwas Schweres bei sich trug.
Unvermittelt kam der East River in Sicht. Sie waren jetzt an der Ecke der First Avenue, und vor ihnen lag die UN Plaza. Der Regen wurde stärker, und die Sichtverhältnisse verschlechterten sich.
Der Mann in Schwarz hatte die verkehrsreiche Kreuzung erreicht. Marcus blieb auf seiner Straßenseite ein wenig zurück, aber er behielt den Mann fest im Auge. Dieser war jetzt vor dem ersten Eingang des UN-Gebäudes stehen geblieben und las das Schild: »Mitarbeiter, Delegierte und Regierungsvertreter. Nur für Korrespondenten.« Jetzt ging er weiter. Ein schwarzes Eisengitter trennte ihn von der Reihe der Fahnenstangen, die allesamt leer waren. Weiter hinten ragte das Wahrzeichen aus geschwungenem Glas und Stahl: das UN-Hauptquartier.
Marcus verfluchte seine kurze Lederjacke, die gegen diesen Wolkenbruch nicht viel ausrichten konnte. Er schlug den Kragen hoch, damit der Regen ihm nicht in den Nacken lief. Dem Mann in Schwarz schien das Wetter nichts auszumachen. Er ging am zweiten Portal vorbei, einer Einfahrt für Autos, und an einer zweiten Wachkabine aus grün getöntem Glas.
Marcus trat für einen Augenblick in den Eingang der Chase Bank. Im selben Moment fuhr ein überdimensionierter Touristenbus – zweifellos voll mit überdimensionierten Touristen – in die Zufahrt vor dem UN-Komplex zwischen der 45th und 46th Street.
»Sichtkontakt verloren, Sichtkontakt verloren!«, flüsterte Marcus eindringlich in sein Mikro.
»Ich hab ihn«, antwortete eine andere Stimme aus dem Äther sofort und in ruhigem Ton. »Person ist vor der Haupteinfahrt stehen geblieben.«
Marcus ging weiter und bemühte sich, den Touristenbus zu überholen, ohne sich zu zeigen. In seinem Headset knisterte es wieder.
»Person geht weiter.«
Okay, dachte Marcus erleichtert. Falscher Alarm. Der Mann in Schwarz hatte nicht vor, das UN-Gebäude zu betreten.
Endlich fuhr der Bus wieder ab, und Marcus hatte freie Sicht auf den Mann, der jetzt auf der First Avenue weiterging. Er hatte seinen Schritt ein wenig beschleunigt, weil es hier steil bergab ging. Ein entspanntes Schlendern war es nicht. Marcus sah, dass er die Grünanlage auf der anderen Seite des Gitters aufmerksam studierte. Bei einer großen, heroischen Skulptur – eine Drachentötung, wobei das Ungeheuer offenbar aus einem alten Artilleriegeschütz geformt war – blieb er stehen, als suche er etwas.
Marcus blinzelte. Suchte er einen anderen, unbewachten Eingang in den UN-Komplex? Wenn ja, dann hatte er ihn offensichtlich noch nicht gefunden. Mit neuer Zielstrebigkeit machte der Mann kehrt und ging zum Haupteingang zurück.
Felipe Tavares’ Radio war ein klobiges Lowtech-Gerät, und bei diesem Regen war kaum etwas zu verstehen. Nur mit Mühe konnte man das statische Rauschen von den Umgebungsgeräuschen trennen. Aber das Wort »Alarm« war unmissverständlich, zumal da es zweimal wiederholt wurde.
»Wachkommandant an Haupteingänge, hier Wachkommandant an Haupteingänge.« Felipe erkannte den Akzent; es war der Typ von der Elfenbeinküste, der vor drei Monaten hier angefangen hatte. »Wir haben Informationen über eine mögliche Bedrohung am Gebäude. Die Verdachtsperson ist männlich, etwa eins siebzig groß, und trägt einen dicken schwarzen Mantel und eine dunkle Wollmütze. Weitere Details sind vorläufig nicht bekannt, aber bitte halten Sie die Augen offen und nehmen Sie jeden fest, auf den diese Beschreibung passt.«
Felipe hatte die Nachricht kaum verdaut, als er eine schwarze Gestalt sah, die mit gesenktem Kopf auf den Eingang zukam, den er bewachte.
Marcus hatte die First Avenue halb überquert, und im Verkehrslärm verstand er nur mit Mühe, was die Stimme in seinem Headset sagte. » … das UN-Gelände nicht betreten. Ich wiederhole: Agenten dürfen das UN-Gelände nicht betreten.«
Am Randstein der Zufahrtsstraße blieb er stehen, jetzt nur noch wenige Schritte entfernt von dem Mann, den er seit zehn Minuten verfolgte und der jetzt mit schnellen Schritten durch das Tor und die paar Stufen zu der kleinen Piazza vor dem weißen Vordach hinaufging. Er hatte UN-Territorium betreten und war somit offiziell außer Reichweite. Marcus konnte nur seinen Rücken sehen, und plötzlich beschlich ihn eine düstere Vorahnung.
Aus dem Winkel am Rand der Piazza konnte Felipe nur einen Teil des Gesichts des Mannes im Profil sehen, und auch der war von der Mütze und dem Mantelkragen überschattet. Aber er passte tadellos auf die Beschreibung, die der Wachkommandant durchgegeben hatte.
Felipe sah, wie der Mann stehen blieb, als betrachte er, was da vor ihm war. Er ging drei Schritte weiter und blieb wieder stehen. Was hatte er vor?
Der Wachmann spürte, wie seine Handflächen feucht wurden. Plötzlich war ihm bewusst, wie viele Leute hier unterwegs waren; zu Dutzenden gingen sie zwischen ihm und der schwarzen Gestalt hin und her. So viele Leute. Er überlegte, ob er etwas in sein Funkgerät sprechen sollte, aber er konnte nur wie gelähmt dastehen und diesen schwarzen Mantel anstarren. Es regnete, aber kalt war es nicht. Wieso sah der Mantel so dick aus, so schwer? Die Antwort auf seine eigene Frage ließ Übelkeit in ihm aufsteigen; sie begann in seinem Magen und quoll herauf bis in die Kehle.
Felipe sah sich um und wünschte sich verzweifelt ein halbes Dutzend seiner Kollegen herbei, die jetzt am Schauplatz erscheinen und ihm die Entscheidung durch ihre bloße Anwesenheit abnehmen würden. Er wollte sein Radio benutzen – »Verdachtsperson womöglich mit einer Bombe bewaffnet. Ich wiederhole: Verdachtsperson womöglich mit einer Bombe bewaffnet!« –, aber würde er den Mann damit nicht vielleicht provozieren? Felipe Tavares konnte sich nicht von der Stelle rühren.
Der Mann hatte sich wieder in Bewegung gesetzt und war nur noch wenige Schritte von dem Vordach entfernt. Vielleicht, dachte Felipe, sollte er einfach abwarten und ihn durch die Tür gehen lassen, damit er drinnen von der Security aufgehalten wurde. Dort hätte er keine Chance; niemals würde er an den Detektoren vorbeikommen oder die Durchsuchung überstehen. Aber das war ihm egal. Das war das absolut Furchtbare, erkannte Felipe, und das Blut wich aus seinem Kopf. Nichts konnte diesen Mann abschrecken.
Jetzt wechselte er wieder den Kurs; noch immer wandte er Felipe den Rücken zu, aber er drehte sich zur Straße um. Felipe wollte ihn anschreien, ihm befehlen, stehen zu bleiben und die Hände zu heben. Aber ihm war klar, dass dies ebenso fatal ausgehen konnte. Wenn der Mann sich entdeckt sähe, würde er sofort auf den Knopf drücken, gleich hier an Ort und Stelle. Und hier waren einfach zu viele Leute.
Felipe entschied sich nicht dazu. Daran würde er sich später immerhin erinnern: Eine Entscheidung fand nicht statt. Er griff einfach nach seiner Waffe. Und im selben Moment sah er vor sich hinter dem schwarzen Eisenzaun zwei Männer. Der eine war jung und schwarz und hatte Dreadlocks. Und beide hoben die Hände, die Handflächen nach vorn gewandt, als kapitulierten sie. Der nackte Schrecken in ihren Gesichtern, die tödliche Panik in ihrem Blick – damit war die Sache für ihn klar. In einer einzigen Bewegung zog er die Pistole aus dem Halfter und richtete sie auf den Mann in Schwarz.
Die nächsten Sekunden würde Felipe Tavares bis zu seinem letzten Atemzug immer wieder vor seinem geistigen Auge ablaufen sehen, meistens in Zeitlupe. Für den Rest seines Lebens würde es das letzte Bild sein, das er beim Einschlafen vor sich sah, und das erste, das morgens beim Aufwachen vor ihm stand. Es sollte sich in seine Augenlider einbrennen. Im Mittelpunkt standen die Gesichter dieser beiden Männer. Sie waren fassungslos, nicht nur erschrocken, sondern entsetzt über das, was sie gesehen hatten. Einer von ihnen schrie ein einziges Wort: Nein!
Felipe war klar, was passiert war. Der Mann in Schwarz hatte offenbar seinen Mantel geöffnet und den Sprengstoffgürtel darunter gezeigt. Die beiden Männer auf der anderen Seite des Geländers hatten gesehen, dass er sich in die Luft sprengen wollte. Der Aufschrei, der Ausdruck des Entsetzens im Gesicht des Mannes mit der Rasta-Frisur – das alles ließ einen elektrischen Stromschlag durch seinen rechten Arm und in den Finger schießen. Er drückte den Abzug, einmal, zweimal, und sah, wie die Knie des Mannes einknickten und er langsam, ja, beinahe anmutig zusammenbrach wie ein Fabrikschlot, der von unten gesprengt wurde.
Felipe konnte sich nicht rühren. Wie angewurzelt stand er da, die Arme starr erhoben, und zielte immer noch auf den Mann, der jetzt keine fünf Schritte vor ihm am Boden lag.
Eine Zeitlang hörte er gar nichts. Nicht das Echo der Schüsse. Nicht die Schreie der Leute, die auseinanderflatterten wie ein Taubenschwarm. Nicht den Alarm, der im UN-Gebäude losging.
Die erste Stimme, die er hörte, war die einer Kollegin, die auf die Schüsse hin unter dem Vordach herbeigestürzt war. Jetzt stand sie vor dem Toten und wiederholte immer wieder dasselbe Wort. »Nein. Nein. Nein.«
Mit weichen Knien und wie benommen näherte Felipe sich dem Haufen schwarzer Kleider, der jetzt von einer Blutlache umgeben war, die sich immer weiter ausbreitete. Und im nächsten Augenblick hatte er verstanden. Dort zu seinen Füßen lag nicht die Leiche eines Selbstmordattentäters. Da war keine Sprengstoffweste, die diesen Mantel ausfüllte. Unter dem Mantel verbarg sich nichts als das Fleisch und die Knochen eines Mannes, der reglos und zerbrochen am Boden lag. Felipe begriff sogar, warum er im September einen so dicken Mantel getragen hatte. Er verstand auf einmal alles, und das Grauen ließ seine Knie einknicken.
Felipe Tavares und die wachsende Truppe der Security Officers, die ihn umringte, sahen alle dasselbe.
Den Leichnam eines weißhaarigen, sehr alten Mannes.