Die Haustür stand offen wie beim ersten Mal, aber jetzt waren keine Stimmen zu hören. Er stieg zu dem Treppenabsatz hinauf, wo er Rebbeca Merton drei Stunden zuvor zum ersten Mal gesehen hatte. Aber jetzt sah er nur ihren Rücken; sie stand in der Wohnungstür und betrachtete ihre verwüstete Wohnung.

Der Boden war mit Büchern bedeckt; alle Regale waren systematisch geleert worden. Die Seiten waren aufgeschlagen, die Einbände zerrissen. An den Wänden hingen Rahmen ohne Bilder. Drucke und Gemälde lagen zerfetzt zwischen Glasscherben.

Das Sofa war aufgeschlitzt, und die Polsterung quoll heraus wie ungekämmtes Haar. Der Fernseher war umgekippt, und sogar die Pflanzen hatte man aus ihren Töpfen geschüttelt. Noch nie hatte Tom eine so gründlich zertrümmerte Wohnung gesehen. Das war kein gewöhnlicher Einbrecher gewesen.

Plötzlich fuhr sie herum. Ihre Augen blitzten. »Na, verflucht, das ist ja wohl die Bestätigung. Haben Sie ihnen dabei zugesehen? Haben Sie dagestanden und zugeschaut?«

»Wovon zum Teufel reden Sie da?«

»Ich rede davon, dass meine Wohnung zufällig verwüstet wird, gleich nachdem Sie hier waren. Und bitte sehr – fünf Minuten nach meinem Anruf sind Sie wieder hier. Haben Sie die ganze Zeit an der Ecke Schmiere gestanden?«

»Sind Sie verrückt? Ich habe nichts damit zu tun.«

»Aber es ist schon ein toller Zufall, nicht wahr? Erst erschießen die UN meinen Vater, und einen Tag später liegt meine Wohnung – in die übrigens noch nie eingebrochen wurde – in Trümmern.«

»Und Sie glauben, das waren die UN

»Was haben Sie gesucht? Schmutz?« Da war die Andeutung dieses schiefen Lächelns. »Haben Sie ihre Jungs deshalb hergeschickt, Tom Byrne? Um zu sehen, ob Sie irgendwelchen Dreck ans Licht wühlen können, um die Tochter des Toten zu diskreditieren? Und wenn ich es wagen sollte, von der Organisation, die meinen Vater umgebracht hat, Gerechtigkeit zu fordern, würden Sie der News of the World erzählen, mit wem ich auf der Uni gefickt habe? Mein Gott – und das sind die ach-so-integren Vereinten Nationen!«

»Hören Sie, jetzt werden Sie hysterisch.« Sofort bereute er dieses Wort. Man durfte eine Frau nennen, wie man wollte, aber niemals durfte man sagen, sie sei hysterisch. »Sie glauben, die UN laufen herum und verwüsten anderer Leute Wohnungen? Meinen Sie nicht, dass wir in diesem Moment schon genug Probleme mit der Familie Merton haben, ohne uns auch noch das hier an den Hals zu hängen?« Er deutete auf das Chaos. »Die UN verfügen nicht über die Leute, um irgendetwas zu tun – ganz zu schweigen von Wohnungseinbrüchen in London WC1

Sie starrte ihn durchdringend an, als suche sie in seinem Gesicht nach einem Hinweis darauf, dass er die Wahrheit sagte. Ihr Blick brachte ihn durcheinander; plötzlich wollte er nur noch zurückstarren. Sie drehte sich um, als sei ihr etwas eingefallen, und lief die Treppe hinauf.

Tom sah seine Chance. Sofort griff er in seinen Aktenkoffer, zog Gershon Matzkins Notizbuch heraus und wollte es auf den Schutthaufen im Zimmer werfen. Aber dann ließ etwas ihn innehalten: Er wollte ehrlich zu ihr sein. Er schob das Buch wieder in den Koffer und wartete auf den richtigen Augenblick.

Gleich darauf war sie wieder da und drängte sich an ihm vorbei in die Küche. Sie berührte ihn nur eine Sekunde lang, aber das genügte: Der Stromschlag ließ ihn beinahe zurücktaumeln. Augenblicklich fühlte er seine Erregung. War er einer von denen, die sich am Anblick einer Frau in Nöten aufgeilten? Das glaubte er nicht. War es die kombinierte Wirkung von Erschöpfung und Adrenalin? Er hatte keine Ahnung, aber so war es ihm seit der Pubertät nicht mehr ergangen.

Sie kam wieder an ihm vorbei, und er roch den Duft ihres Körpers. Der Drang, sie bei den Handgelenken zu packen und an sich zu ziehen, war fast überwältigend. Er hatte das Gefühl, dass seine Verstandeskräfte schwanden, und an ihrer Stelle wuchs ein immer größeres Verlangen.

Er folgte ihr auf ihrem Rundgang durch die Verheerungen. Was um alles in der Welt war hier passiert? Es musste extrem schnell gegangen sein; sie waren beide kaum eine Stunde fort gewesen. Und fachmännisch war es: Die Täter mussten gesehen haben, wie sie weggingen. Die oberflächlich wertvollen Gegenstände – Fernseher, Stereoanlage – standen noch da. Hier waren keine Junkies am Werk gewesen, die auf die Schnelle fünfzig Pfund brauchten. Diese Leute waren verzweifelt darauf aus gewesen, etwas Spezielles zu finden.

Und jetzt fing Rebecca an zu suchen; offensichtlich geriet sie in Panik bei dem Gedanken, etwas Kostbares könnte gestohlen worden sein. Noch einmal lief sie die kurze Treppe hinauf, vorbei an einem Schlafzimmer und in ein Arbeitszimmer. Sie schrie auf, als sie mehrere Karteikästen auf dem Boden liegen sah. Der Inhalt war verstreut wie Federn aus einem geplatzten Kissen.

Eine Zeitlang stand sie still da. Dann drehte sie sich zu ihm um. »Wenn Sie in irgendeiner Form dahinterstecken –«

»Herrgott –«

»Dann steige ich ins Auto, fahre in die nächstbeste Zeitungsredaktion und erzähle ihnen die Story, die den Ruf der UN ruinieren wird – und Ihren dazu. Haben Sie mich verstanden? Ich brauche ihnen nur wahrheitsgemäß zu sagen, was hier passiert ist – und was für einen Mann die UN gestern umgebracht haben. Und danach werde ich dafür sorgen, dass Sie wegen Mordes und Raubes vor Gericht kommen.« Ungläubig schüttelte sie den Kopf. »Kein Wunder, dass Sie einen Deal machen wollten.«

»Wollen Sie sich nicht beruhigen? Wenn hier jemand versuchen sollte, einen Deal zu machen, dann sind Sie es.«

»Was zum Teufel soll denn das bedeuten?«

»Es bedeutet, dass Sie ebenfalls ein paar Dinge zu erklären haben.«

»Zum Beispiel?«

»Zum Beispiel, dass die Telefonnummer eines bekannten Waffenhändlers im Handy Ihres Vaters gespeichert war. Zum Beispiel, dass in seinem Zimmer eine Waffe versteckt war, die vorzugsweise von Attentätern und Auftragskillern benutzt wird.«

Irgendetwas huschte über Rebecca Mertons Gesicht – aber so kurz, so flüchtig, dass Tom es nicht deuten konnte. Zweifel? Schock? Panik? Es war zu schnell gegangen. Er wusste es nicht.

Sie standen drei oder vier Sekunden lang da, starrten einander an und sagten nichts – wie zwei mittelalterliche Ritter vor dem Turnier. Dann wich sie zurück und setzte sich auf die Überreste ihrer Couch. Sie hielt sich sehr still, als habe sie über eine Entscheidung nachzudenken. Schließlich seufzte sie tief, und als sie sprach, klang ihre Stimme verändert und sehr leise. »Hören Sie zu. Ich glaube, Sie müssen die Wahrheit über meinen Vater erfahren.«

Endlich, dachte Tom.

»Es gibt etwas, das Sie lesen müssen, aber im Moment kann ich es nicht –«

»Suchen Sie das hier?« Tom nahm Gershon Matzkins Buch aus seinem Aktenkoffer.

»Oh, Gott sei Dank!« Sie riss ihm das Buch aus der Hand und drückte es an die Brust. Dabei schloss sie die Augen wie eine Mutter, die ihr Kind umarmt, das sich im Park verlaufen hatte. Aber gleich riss sie die Augen wieder weit auf. »Woher haben Sie das?«

»Versehentlich mitgenommen. Ich dachte, es gehört mir.« Er holte sein eigenes, nahezu identisches Notizbuch heraus und zeigte es ihr. »Ich wollte noch mal herkommen und es Ihnen zurückgeben.«

Wieder drückte sie das Buch an sich, und ihr Gesicht war voller Erleichterung. Halb fragte er sich, ob sie sich jetzt bei ihm bedanken würde, weil er unabsichtlich dafür gesorgt hatte, dass dieses Erbstück vor den Einbrechern sicher war. Aber dann sah sie ihn an, und ihr Blick war hart und kraftvoll genug, um seine Muskeln weich werden zu lassen. »Ich weiß nicht, ob ich Ihnen auch nur ein einziges Wort glauben kann.«

Beide schwiegen, und dann fragte sie: »Haben Sie es gelesen?«

Er zögerte. »Ein bisschen davon.«

»Na, dann möchte ich, dass Sie es jetzt richtig lesen.« Und sie legte ihm das Buch in die Hände.

Sie ging wieder nach oben, und gleich darauf hörte er das Scharren und Poltern von Möbeln und anderen Gegenständen, die verrückt und wieder an ihren richtigen Platz gestellt wurden.

Er fragte sich, ob sie geplant hatte, dieses Buch, diese Geschichte, geheim zu halten. Bei seinem ersten Besuch hatte sie die Vergangenheit ihres Vaters nicht erwähnt, obwohl sie ihm damit die Sprache verschlagen hätte: ein Selbstmordattentäter, wahrhaftig! Hätte sie irgendwann davon gesprochen? Oder hatte er erst die versteckte Killerwaffe erwähnen müssen, damit sie es für nötig hielt, ihren toten Vater zu entlasten?

Er blätterte die Seiten um, bis er die Stelle gefunden hatte, die er gelesen hatte, als Sherrill anrief. Sein Blick glitt über die Zeilen.

Ich brachte dieselbe Nachricht in ein Ghetto nach dem anderen: »Tante Esther ist zurückgekommen.« Alle verstanden, was sie bedeutete: dass wir Juden keine bloße Sklaverei und den einen oder anderen willkürlichen Mord zu befürchten hatten, sondern den Plan zu unserer vollständigen Ausrottung. Meine Aufgabe war es, den Juden in Europa zu sagen, dass die Nazis keine Juden in Europa mehr haben wollten …

Tom blätterte um.

Man wusste nie, wer einem helfen würde. Manchmal entdeckte mich eine Bäuerin in ihrer Scheune und gab mir ein Stück Brot. Aber einmal, in Krakau, war es auch ein Arzt, eine Säule der Gesellschaft, der den Behörden einen Hinweis gab, als er sah, wie ein Junge – nämlich ich – sich nachts ins Ghetto schlich.

… Wir glaubten, wenn wir erst aus den Ghettos entkommen wären und uns in die Wälder geflüchtet hätten, wären unsere Sorgen zu Ende. Aber nein. Wir mussten lernen, dass wir zwar alle die Nazis hassten, aber dass der polnische und litauische Widerstand dabei immer noch Zeit fand, die Juden zu hassen …

Tom überflog die nächsten paar Seiten auf der Suche nach allem, was ein bisschen Licht auf Mertons Tod werfen könnte, der mehr als sechzig Jahre später eingetreten war.

… Irgendwie hatte ich den Weg zurück nach Kaunas gefunden, oder doch zumindest in die Wälder außerhalb der Stadt. Dort traf ich auf eine Handvoll Widerstandskämpfer, die überlebt hatten. Ihre Uniform war keine Uniform: hier eine gestohlene Russenjacke, da ein Paar Stiefel, die man einem Litauer abgenommen hatte, und dort eine Pistole, gekauft bei einem polnischen Schwarzmarkthändler. Ich schloss mich ihnen an, und wir taten, was wir konnten – sprengten hier eine Brücke, ließen da einen Zug entgleisen. Wir töteten den Feind, immer einen oder zwei. An einem sehr guten Tag vielleicht zehn …

Tom blätterte weiter zur nächsten Seite.

… Im Wald lernte ich meine Rosa kennen. Sie war älter als ich, aber ich war ein alter Mann, ungeachtet meiner Jahre. Ein Jude in Europa war damals alt in der Welt …

… Rosa war jemandem begegnet, der die Neunte Festung überlebt hatte. Er sagte, die Nazis hätten es gar nicht nötig gehabt, die Litauer zur Teilnahme an diesen Massenmorden zwangszuverpflichten; sie hätten sich mit großem Eifer freiwillig gemeldet, natürlich auch der Wolf. Alle wollten sie an die Reihe kommen und Kugeln in die Rücken nackter Juden feuern. Rosa erzählte mir, am 8.Juli 1944 wurde das Ghetto schließlich geräumt, und die letzten noch lebenden Juden wurden nach Dachau deportiert. »Es hat keinen Sinn, nach Kaunas zurückzugehen«, sagte sie. »Da ist niemand mehr. Sie sind alle tot.«

Der Rest der Seite war weiß, als sollte das Verstreichen der Zeit dargestellt werden. Gut, dachte Tom: Nach dem Krieg …

Diejenigen von uns, die überlebt hatten, waren die Einzigen, die einander verstanden. Wenn wir uns in die Augen schauten, sahen wir immer die gleiche Dunkelheit. Wir wanderten quer durch Europa, und irgendwie fanden wir einander. Die, die nicht vergessen konnten, was wir gesehen hatten. Und die, die entschlossen waren, zu –

Die Seite gegenüber war leer. Tom wollte umblättern, aber sie löste sich, und er hielt sie in der Hand. Er blickte auf; hoffentlich hatte Rebecca nicht gesehen, dass er das Buch beschädigte, das sie wie ein Baby an sich gedrückt hatte. Er schob das Blatt wieder hinein, aber dabei bemerkte er, dass die nächste und die übernächste Seite sich ebenfalls lösten. Er hielt das Buch in die Höhe, um die Bindung zu überprüfen.

Jetzt sah er, was passiert war. Er erinnerte sich, dass er als Kind mit seinen Schulheften das gleiche Problem gehabt hatte: Reißt du vorn eine Seite heraus, löst sich die entsprechende Seite im hinteren Teil ebenfalls. Das passierte immer, wenn die Seiten in der Mitte gebunden wurden. Um sicherzugehen, verfolgte er das Blatt, das er gelesen hatte, um zu sehen, ob die hintere Hälfte intakt war. Sie war es nicht. Tatsächlich waren die fünf oder sechs letzten Blätter allesamt am Rand ausgefranst. Mehrere Seiten dieses Buches fehlten. Jemand hatte sie herausgerissen.

Noch einmal las er die letzte Zeile in Gerald Mertons Bericht. Danach kam nichts mehr; es war ein Satz, so unfasslich wie der Mann selbst.

Irgendwie fanden wir einander … die, die entschlossen waren, zu –