13
Tom klappte das Notizbuch zu und blickte auf. Ein Albtraum. Wahrhaftig – ein Albtraum am helllichten Tag.
Er sah auf die Uhr. Es war noch zu früh, um Henning anzurufen. Er stellte sich vor, was er ihm sagen würde. »Ich habe eine gute und eine schlechte Nachricht. Die gute ist, dass der Tote vielleicht doch nicht völlig unschuldig war. Die schlechte ist: Ihr habt einen Überlebenden des Holocaust erschossen.«
Schlimmer konnte eine PR-Katastrophe kaum ausfallen. Rebecca Merton brauchte dieses Notizbuch nur in einen Umschlag zu stecken und an irgendeine Londoner Zeitung zu schicken, und der Name der Vereinten Nationen wäre mit Schlamm bedeckt. Er sah die Schlagzeile vor sich; sie füllte eine Doppelseite: »Tochter des UN-Opfers: ›Die Kriegshölle meines Vaters‹«, und dazu ein großes Farbfoto der »schwarzhaarigen Rebecca Merton, 31«.
Tom drehte sich eine Zigarette, bevor er sah, dass die Kellnerin drohend mit dem Finger wackelte. Natürlich, in London herrschten jetzt die gleichen verdammten Puritanerregeln wie in New York. Er zündete die Zigarette nicht an und bestellte noch einen Espresso. Dann schlug er das Buch wieder auf und machte sich auf die nächste Enthüllung gefasst.
An die nächsten paar Tage kann ich mich kaum erinnern. Wie in Trance bewegten wir uns durch die Wohnung – meine Schwester Hannah noch am wenigsten: Sie gestattete sich nicht, lange gelähmt zu bleiben. Sie musste ja jetzt unsere Mutter sein …
Ich hatte die Aufgabe, dafür zu sorgen, dass wir zu essen hatten. Ich war ein Kind, aber ich sah älter aus, und in meinem Äußeren lag ein weiterer Vorteil: Ich konnte als gewöhnlicher litauischer Bengel durchgehen und war nicht als Jude zu erkennen. So hamsterte ich, wo ich konnte; ich kreuzte kurz vor Ladenschluss in einer Bäckerei auf und bat um irgendwelche Reste. Wenn eine Frau da war, versuchte ich, ihren Blick auf mich zu lenken: Frauen hatten eher Mitleid mit mir. »So ein süßes Gesicht«, sagten sie und reichten mir einen Kanten Brot oder einen steinharten alten Kuchen.
»Wo sind deine Eltern?«
»Ich bin Waise.«
»Hast du gehört, Irena? Er ist ein Waisenkind. Was ist denn mit deinen Eltern passiert, mein Kleiner?«
»Die Russen.«
»Oh, diese bösartigen Bestien. Und da gebe ich dir einen Kanten altbackenes Brot. Irena, hol das Fleisch, das wir hinten haben. Na los, beeil dich. Hier, nimm, junger Mann. Und jetzt lauf zu.«
Keiner von uns sagte die Wahrheit. Wenn jemand Hannah ansprach, log sie wie gedruckt. »Mein Vater kommt bald zurück«, sagte sie dann. »Meine Mutter ist nur kurz weggegangen.« Die ganze Zeit dachte ich, sie schämte sich nur, zuzugeben, dass wir Waisen waren. Heute weiß ich es besser. Die Leute sollten nicht wissen, dass in unseren zwei Zimmern nur Kinder wohnten. Offenbar fürchtete sie, man könnte uns sonst verjagen oder unsere Sachen stehlen. Oder Schlimmeres.
Die Zeit zwischen dem Abzug der Russen und dem, was dann kam, dauerte nicht lange. In den Büchern heißt es, in Wahrheit lag überhaupt keine Zeit dazwischen; die Vorhut der Deutschen sei bereits von Anfang an da gewesen und habe sogar an dem Abend, als meine Mutter sich das Leben nahm, die Pogrome organisiert. Aber als die Deutschen dann mit ihrer ganzen Macht anrückten, wussten wir es gleich.
Das heißt, wir hörten sie, bevor wir sie sahen. Ich war zu Hause und sah zu, wie Hannah den Brotkanten, den ich mitgebracht hatte, in vier Teile zerschnitt. Als Junge – ich war der Mann im Haus – bekam ich immer das größte Stück. Rivvy und Leah bekamen gleiche Teile, und für sich selbst behielt Hannah immer den kleinsten. Die Mädchen hatten gelernt, geduldig zu sein, und aßen immer sehr langsam; für jeden Bissen Brot nahmen sie sich so viel Zeit wie für eine ganze Mahlzeit. Aber ich konnte damals meinen Hunger nicht zügeln. Ich schlang herunter, was ich bekam, sobald es vor mir lag.
Zunächst hielt ich es für ein Gewitter. Aber der Himmel draußen war hell und klar. Dennoch, da war es wieder: das dumpfe Grollen fernen Donners. »Sschh«, machte Hannah, und wir alle waren still. Hannah schloss die Augen, um sich zu konzentrieren. »Flugzeuge«, sagte sie schließlich.
Bald kam noch ein anderes Geräusch dazu. Es war der Donner einer Armee, die in eine Stadt einmarschierte. Dann hörten wir Geräusche, die überhaupt nicht weit entfernt waren. Das harte, mechanische Knattern von Motorrädern und Infanterie, riesige Feldgeschütze auf Rädern und schließlich Panzer – alles rollte nach Kowno herein.
Hannah schob sich ans Fenster, aber sie wagte nicht, das Gesicht allzu dicht an die Scheibe zu drücken. Ich drängte mich dazu und schaute hinaus. Was ich sah, war verwirrend. Die Fenster des Hauses auf der anderen Straßenseite und des Hauses daneben öffneten sich. Aus ihnen entrollten sich große, wehende Tücher: Flaggen. Mädchen lehnten sich heraus; sie lächelten, winkten und warfen Blumen zu den Männern auf der Straße hinunter.
»Wird jetzt alles gut werden, Hannah?«, fragte ich.
»Vielleicht, Gershon, vielleicht.« Aber sie sah unsicher aus.
Am nächsten Tag gingen wir in die Schule, und ich wusste sofort: Mochten unsere litauischen Nachbarn auch froh sein, die Nazis zu sehen, wir Juden waren es nicht. Alle wirkten angespannt. Der Direktor sprach vor der gesamten Schule, und sein Gesicht war in bange Falten gelegt. »Wir sind ein Volk, das schon oft geprüft wurde«, sagte er. »Kinder, ihr alle kennt die Geschichte vom Pharao. Und von Haman. Von Männern, die kamen, um die Juden zu vernichten. Und was geschah jedes Mal?« Niemand wollte antworten. Dies war offensichtlich keine normale Schulstunde. »Jedes Mal scheiterten sie, weil Gott uns beschützte. Wir haben überlebt. Kinder, auch dies wird vielleicht eine solche Prüfung werden.«
Ich weiß nicht mehr genau, ob es an diesem Tag oder am nächsten war, aber es geschah sehr bald. Überall erschienen Bekanntmachungen in deutscher Sprache. Ich stand auf Zehenspitzen und reckte den Hals, um eine zu lesen, die an einem Laternenpfahl in der Nähe der Schule hing, und ich übersetzte sie zuerst für die Jungen aus meiner Klasse und dann für eine kleine Gruppe von Leuten, die sich ringsherum versammelt hatten. Von jetzt an, hieß es da, müssten die Juden einen gelben Stern an ihrer Bekleidung tragen, der jederzeit sichtbar zu sein habe. Und es würde eine Sperrstunde geben – nicht für alle in Kowno, aber für die Juden. Nach Einbruch der Dunkelheit habe jeder Jude zu Hause zu sein; kein Jude dürfe sich dann mehr auf der Straße aufhalten. Und wir durften die Gehwege nicht mehr benutzen; die seien für Arier reserviert. Wir mussten in der Gosse gehen.
Selbst da – ich weiß nicht, ob ich Angst bekam. Es waren neue Vorschriften, nach denen wir nun zu leben hatten, aber für mich waren sie besser als die Litauer und ihre Pogrome. Wenn das alles war, was sie mit uns vorhatten – uns zu zwingen, einen gelben Stern zu tragen und abends zu Hause zu bleiben –, dann war das immer noch besser, als auf der Straße verprügelt zu werden.
Aber lange konnte ich mich so nicht trösten. Ein paar Tage später wurden wir morgens von einem lauten Hämmern an der Tür geweckt. Ich setzte mich kerzengerade auf. Mein Herz klopfte. In den ersten Augenblicken der Verwirrung fragte ich mich, ob vielleicht meine Mutter vor der Tür stand. Ich sah sie vor mir, lächelnd und mit hübsch gekämmtem Haar, und sie war gekommen, um uns von hier wegzubringen. Wahrscheinlich wollte ich etwas sagen, aber Hannah, die auch aufrecht im Bett saß, legte einen Finger an die Lippen, und ihr Blick befahl mir, ganz still zu sein.
Das Gehämmer an der Tür fing wieder an, jetzt noch lauter und beharrlicher. Wir hörten das gleiche Geräusch überall im Hausflur und auch draußen auf der Straße: Nazis klopften an die Türen der Juden.
Hannah stand auf, zog sich hastig etwas über ihr Nachthemd und öffnete die Tür.
Er war groß und hatte einen sehr geraden Rücken. Ich konnte nicht aufhören, seine Stiefel anzustarren. Sie glänzten wie Glas, und wenn er sich bewegte, knarrte das Leder.
»Ihr habt zehn Minuten, um eure Sachen zu packen«, kläffte er auf Deutsch. »Ihr zieht um!« Damit wandte er sich ab und ging weiter zur nächsten Tür. Überall im Treppenhaus wiederholten Männerstimmen die gleiche Anweisung, über und unter uns. Jetzt hallten diese Worte auch unten über die Straße, verstärkt durch ein Megaphon.
Als Hannah sich umdrehte, war ihr Gesicht ernst. »Zieht euch an. Rivvy und Leah, nicht nur einen Rock – zieht zwei oder drei an, so viele ihr könnt, alle übereinander. Mit Pullovern und Unterhosen macht ihr das Gleiche. Du auch, Gershon. Zieh an, so viel du kannst.«
Dann hastete sie in den beiden Zimmern umher und stopfte alles, was sie für wichtig hielt, in Koffer. Sie beeilte sich, aber sie geriet nicht in Panik. Und deshalb taten wir es auch nicht.
Nach ein paar Augenblicken sagte sie: »Jeder von euch kann einen Gegenstand mitnehmen, den er wirklich, wirklich haben will. Aber nur einen. Alles andere bleibt hier.«
Ich griff nach einem Buch mit Abenteuergeschichten. Lehan nahm ihre Lieblingspuppe mit, Rivvy eine Haarbürste. Und Hannah löste mit ruhigen Händen ein Foto unserer Eltern aus dem Rahmen und steckte es in die Tasche. Dann schob sie uns zur Tür hinaus und verschloss sie zum letzten Mal. Wir watschelten die Treppe hinunter; ich hatte vier oder fünf Hemden und zwei Jacken an und schleppte unseren größten Koffer. Als wir unten auf der Straße ankamen, war ich nassgeschwitzt.
Wir sahen viele Juden, die aussahen wie wir; alle versuchten, so viel wie möglich mitzunehmen. Viele hatten Taschen mit Lebensmitteln und Konserven oder Mehlsäcke bei sich. Manche zogen vollbeladene, klapprige Wagen. Hannah machte sich Vorwürfe. Daran hatte sie nicht gedacht.
Nach ein paar Minuten befahl man uns, loszugehen. Wir würden, so sagten sie uns, quer durch Kaunas zu unseren neuen Häusern marschieren. Wir waren umringt von Männern mit Gewehren und – was ich viel beängstigender fand – mit Hunden. Also gehorchten wir.
Ein paar Leute kamen nur wenige Schritte weit. Sie konnten nicht tragen, was sie mitgenommen hatten, und fingen an, Teller und Tassen zu verlieren, und die Stücke zerbrachen geräuschvoll auf dem Pflaster. »Leise, Jude!«, schrie einer der Nazis. Ein paar alte Leute brachen zusammen.
Die ganze Zeit standen die Litauer am Straßenrand und gafften, als wären wir ein Karnevalsumzug. Manche schrien und verspotteten uns. Wenn sie etwas sahen, das ihnen gefiel, stürzten sie heran und rafften es an sich. Sie wussten, dass die Deutschen sie nicht am Stehlen hindern würden. Ich schaute in die Zuschauermenge, und dann sah ich ein bekanntes Gesicht.
»Antanas!«, rief ich. »Ich bin’s, Gershon!« Es war der Junge, mit dem ich immer Ball spielte; noch eine Woche zuvor hatten wir zusammen gespielt. Aber jetzt starrte er mich nur an und umklammerte die Hand seines Vaters.
Eine Frau kam an unsere Seite und sagte zu Hannah: »Ich habe gehört, sie bringen uns über den Fluss nach Viriampole. Da werden wir alle wohnen müssen.«
»Wir alle? Aber Viriampole ist winzig.«
Hannah meinte, der Bezirk Viriampole sei zu klein für alle Juden von Kowno, denn es gebe Zehntausende, und sie hatte recht. Was sie da noch nicht wusste, was noch keiner von uns wusste, war, dass sie sogar noch mehr in diesen wenigen engen Straßen von Viriampole zusammenpferchen würden. Die Deutschen hatten Militärpatrouillen durch das Land geschickt, die nach Juden gesucht hatten, und sie waren bis in die letzten Dörfer vorgedrungen, in kleine Ortschaften wie die, deren Namen meine Mutter nie wieder ausgesprochen hatte. Sie fanden einen Juden hier, drei Juden da, und alle mussten nach Viriampole. Wenn einer sich weigerte, umzuziehen, zündeten sie sein Haus an, und dann musste er es tun.
Jahre später fragte man uns immer wieder: »Warum habt ihr gehorcht? Warum seid ihr nicht aufgestanden und habt euch gewehrt?« Aber damals wussten wir nicht, was wir heute wussten. Wir ahnten nicht, dass man uns in ein Ghetto brachte. Ich weiß noch, dass ich damals dachte, es wird alles besser für uns werden, wenn wir zusammen an einem Ort wohnen. Zumindest sind wir dann weit weg von diesen litauischen Mördern.
Es war ein langer und anstrengender Marsch. Ich wechselte den Koffer immer wieder von einer Hand zur anderen und schwankte wie ein Rohr im Wind, das gleich zerbrechen würde. Aber ich gab nicht auf. Ich war jetzt der Mann in unserer Familie, und ich wusste, dass Rivvy und Leah mich brauchten, um durchzuhalten.
Endlich kamen wir zu einer schmalen Betonbrücke, die unseren Übergang nach Viriampole markierte.
»Schnell, schnell«, sagte Hannah und scheuchte uns hinüber. Ich glaube, sie hoffte, dass wir den Stacheldraht und die Wachttürme nicht bemerken würden. Vielleicht hoffte sie auch, ich hätte keine Zeit, die deutschen Schilder am Eingang zu lesen und zu übersetzen. »Seuche! Zutritt verboten!«, stand auf einem, und direkt darunter hing ein zweites: »Juden ist es verboten, Lebensmittel und Brennmaterial hereinzubringen. Zuwiderhandelnde werden erschossen!«
Als wir drinnen waren, begleiteten uns die Soldaten nicht mehr. Jetzt, nachdem sie uns ins Ghetto getrieben hatten, war ihre Arbeit getan. Wir warteten ein paar Minuten – nicht nur wir, sondern alle. Wir warteten darauf, dass man uns irgendwelche Anweisungen erteilte oder zumindest einen Plan bekannt gab. Aber allmählich fiel der Groschen. Ein Mann löste sich aus der Menge und rannte ins nächstbeste Haus. Dann erschien er in einem Fenster im ersten Stock und winkte seine Familie zu sich herauf. Sofort folgte noch eine Familie, und dann noch eine. Hannah brauchte ein paar Sekunden, um es zu verstehen: Hier gab es keine Regeln, sondern man ließ sich in dem Winkel nieder, den man ergattern konnte.
Wir gingen zusammen mit der Frau, die mit Hannah gesprochen hatte, in die Linkuvos-Straße. Später fragte ich mich, ob Hannah ihr vielleicht etwas gegeben hatte, vielleicht etwas von dem Schmuck meiner Mutter, denn ich weiß, Hannah wollte, dass wir zu einer Familie gehörten. Schon damals war ihr klar, dass es Zeiten geben würde, in denen wir jemanden brauchten, der ein Auge auf uns hatte. Und so zwängten wir uns mit dreizehn Menschen in zwei Zimmer – diese andere Familie und wir.
Jetzt erscheint es idiotisch, aber ich weiß, dass ich damals noch einmal dachte, von nun an seien unsere Sorgen zu Ende. Ja, es war ein Ghetto. Aber wir waren alle zusammen, und es gab Arbeit für die, die kräftig genug dafür waren – und Arbeit bedeutete Essen. Ich gab ein falsches Alter an und bekam eine Arbeitserlaubnis. Ich war jetzt zwölf, aber so groß, dass ich für sechzehn durchging, und so überquerte ich jeden Morgen mit einem Trupp von dreißig Mann, allesamt älter als ich, die schmale Brücke, die aus dem Ghetto führte. Man gab uns spezielle gelbe Armbinden, die wir über dem rechten Ärmel tragen mussten, und dann lud man uns auf Lastwagen und fuhr uns das kurze Stück bis Aleksotas, wo wir einen Luftwaffenstützpunkt für die Deutschen bauen mussten. Wir taten die Arbeit von Maschinen: Wir mussten Felsen beiseiteräumen und Steine brechen. Wir arbeiteten von früh bis spät, täglich zwölf Stunden oder mehr, bis jede Sehne, jede Muskelfaser nach Ruhe schrie. Wir hatten immer nur ein paar Minuten Pause, in denen wir eine dünne Suppe trinken und eine Brotkruste essen konnten.
Aber wir bekamen wenigstens zu essen. Hannah dagegen hatte große Mühe, genug für die andern aufzutreiben. Und die Mädchen wurden krank – wie alle andern. Das Ghetto war so voll; sie hatten ungefähr dreißigtausend Menschen auf einem Gebiet zusammengepfercht, das vielleicht für tausend groß genug war. Die Leute schliefen trotz der Kälte draußen auf der Straße. Aus den Synagogen wurden Schlafsäle. Eines Morgens stieg ich über einen Mann, der scheinbar schlief. Aber er schlief nicht. Er war tot, und niemand hatte ihn begraben.
Etwa um diese Zeit entschied Hannah, dass sie sich auch eine Arbeitserlaubnis besorgen würde. Wenn sie einen von diesen kostbaren Zetteln besäße, würde sie selbst zu essen bekommen, aber was noch wichtiger war: Sie hätte Gelegenheit, das Ghetto zu verlassen, irgendwo Lebensmittel zu kaufen und sie hereinzuschmuggeln. So könnte sie Leah und Rivvy mehr zu essen geben als die Hungerrationen, die von den Nazis gewährt wurden. Es war die einzige Möglichkeit.
Ich weiß nicht, was sie tat, um diese Erlaubnis zu bekommen. Ich möchte gern glauben, sie sprach mit Leuten vom Widerstand, die dauernd irgendwelche Papiere fälschten. Aber manchmal glaube ich etwas anderes. Hannah war ein hübsches Mädchen, und wenn die ganze Familie hungern muss, tut man vielleicht so manches aus Verzweiflung.
So verließ Hannah das Ghetto jeden Morgen zusammen mit mir und den anderen Arbeitern. Am Tor gab es Kontrollen, aber die Wärter waren keine Deutschen, sondern litauische Polizisten. Diese Tatsache ist vielleicht in Vergessenheit geraten: Die Nazis haben das alles nicht allein getan. An Orten wie Kowno gab es nur wenige Deutsche. Sie konnten sich auf die Hilfe der Einheimischen verlassen.
Und dann kam jener grausame Tag, der alles veränderte. Hannah hat mir nie ausführlich davon erzählt, aber ich habe mir zusammengestückelt, was passiert ist, und zwinge mich dazu, die Ereignisse hier niederzuschreiben, damit die Erinnerung daran nicht stirbt.
Hannah war ohne Probleme durch die Kontrolle gekommen und arbeitete wie immer. Aber irgendwann muss sie ihre Arbeitskolonne verlassen haben, denn als sie am Abend zurückkam, brachte sie Brot mit. Keinen ganzen Laib, aber ein Stück Brot, das sie für unsere Schwestern verwahrt hatte, weil die beiden keine Arbeit und kein Essen hatten. Sie versteckte es unter ihrer Jacke. So sehe ich sie vor mir – ein kleines Mädchen, das mit klopfendem Herzen vor dem Tor steht.
Vielleicht sah sie in der Warteschlange vor der Kontrolle nervös aus. Irgendetwas verriet sie. Nicht alle diensthabenden Polizisten bemerkten es, denn sie waren zu betrunken. Aber der Sohn eines litauischen Wärters, ein Junge, der nicht viel älter war als ich – höchstens dreizehn oder vierzehn –, der sich oft bei seinem Vater und seinen Kumpanen am Tor herumtrieb. Die Männer lachten und scherzten mit ihm, als wäre er ein Maskottchen. Er hatte sogar seine eigene Uniform. Aber wir nannten ihn den Wolf, denn obwohl er so jung war, war er bestialisch grausam. Sein Gesicht glänzte vor Bosheit, und sein breites Grinsen entblößte Zähne, die blutgierig erschienen. Wer dieses Gesicht einmal gesehen hatte, vergaß es nicht mehr. Der Wolf flehte seinen Vater an, ihm zu erlauben, die Juden zu filzen, und die Männer lachten über seinen Eifer. An diesem Abend wollte er Hannah durchsuchen.
Ich kann mir vorstellen, wie sie zitterte, als er ihre Kleider befühlte und betastete und ihre knochige Gestalt begrabschte. Er wollte sie schon loslassen, aber dann schob er die Hand ein letztes Mal unter ihre Achsel. Und dort fand er den Kanten Brot.
Der Wolf drehte sich zu den jubelnden Wärtern um wie ein junger Angler, der zum ersten Mal eine dicke Forelle an Land gezogen hat. Kopfnickend sonnte er sich in ihrem Beifall.
»Was wünschst du dir zur Belohnung, mein Sohn?«, fragte sein Vater strahlend. Der Schlagstock baumelte an seinem Gürtel. »Sag’s mir.«
Der Wolf überlegte, während Hannah zitternd dastand. Die übrigen Ghetto-Bewohner starrten zu Boden und warteten darauf, dass dieser Augenblick vorüberging.
»Ich will sie selbst bestrafen.«
Die Wärter erhoben ein lautes, geiles Gebrüll. Mehrere legten die linke Hand auf die rechte Armbeuge und stießen den Unterarm pumpend hoch, und sie fingen an zu singen – ein litauisches Lied über einen Jungen, der zum Mann wurde. Der Wolf führte Hannah zum Ghetto-Gefängnis; der Wärter dort kannte ihn. Stolz erzählte der Wolf ihm, was passiert war, und der Wärter trat zur Seite und ließ ihn allein.
»Zieh dich aus«, befahl der Wolf.
Hannah stand stocksteif da und konnte sich nicht rühren.
»Ich habe gesagt, du sollst dich ausziehen.«
Hannah fror; ihre Finger waren starr wie Eiszapfen. Sie bewegte sich nicht schnell genug. Er schlug ihr ins Gesicht. »Hör zu, Jüdin! Ich sag’s nicht noch einmal. Zieh dich aus!«
Hannah gehorchte, und nackt und mit gesenktem Kopf stand sie da. Sicher sah sie nicht, wie der Wolf seinen Schlagstock hob und auf ihre Arme, ihren Rücken und ihre Schenkel niedersausen ließ. Ihre Schmerzensschreie müssen sich angehört haben, als kämen sie von einem gequälten Tier, nicht von einem Menschen. Als sie auf die Knie fiel, trat der Wolf ihr ins Gesicht, in die Rippen, in die Nieren und in ihren behüteten Leib, in dem sie ihre künftigen Kinder empfangen wollte. Bald lag sie ausgestreckt am Boden und wartete auf die Ohnmacht oder den Tod. Dann hörte es auf. Anscheinend war der Wolf erschöpft, oder es wurde ihm langweilig. Er trat zurück. Hannah atmete tief auf, denn anscheinend war ihre Qual jetzt zu Ende.
Sie hörte das Klirren von Metall, und sie begriff, dass eine Gürtelschnalle geöffnet wurde. Wollte er sie jetzt auspeitschen?
Aber dann spürte sie an ihren Hüften zwei kalte Hände, die sie vom Boden aufhoben wie ein Stück Fleisch. Er versuchte nicht, sie auf die Beine zu stellen, sondern zwang sie in eine kniende Haltung auf allen vieren.
Sie hatte fast kein Gefühl mehr in den Beinen und konnte sie kaum bewegen. Ein paar Mal sackte sie zusammen, aber er zerrte sie jedes Mal wieder hoch. Sie war verwirrt. Warum sollte sie so knien?
Plötzlich war er dicht an ihr, viel zu dicht, und sein Körper beugte sich über sie. Sie hörte, wie er seine Hose aufknöpfte.
Die jähe Erkenntnis ließ sie protestierend aufschreien, aber er presste seine Hand auf ihren Mund, so fest, dass sie nicht zubeißen konnte, und dann stieß er in sie hinein.
Wie lange es dauerte, wusste sie nicht. Ihre Seele entfloh, flüchtete sich dahin, wo sie gewesen war, als sie den Leichnam ihrer Mutter von der Decke hatte hängen sehen. Sie verschwand aus ihrem Körper. Aber als sein Angriff immer weiterging, sah sie etwas dicht vor ihr auf dem Boden liegen. Der bloße Anblick ließ sie die Entscheidung treffen, als habe der Gegenstand selbst bestimmt, wie er zu verwenden sei. Sie folgte lediglich dem Impuls, der von diesem kleinen, zufällig daliegenden Ding ausging: von einem krummen, rostigen Nagel auf dem Zellenboden.
Sie griff danach und verbarg ihn in den gekrümmten Fingern der rechten Hand, und neue Kraft und Entschlossenheit durchflutete sie. Er war zu sehr auf seine Wollust konzentriert, um ihre Bewegung zu bemerken. Sie hörte ihn keuchen und stöhnen, während er ihre Hüften umklammerte und versuchte, sie stillzuhalten. Sie zögerte nicht. In einer einzigen Bewegung stemmte sie sich hoch, riss seine Hand von ihrem Mund und stieß mit dem Nagel zu, der zwischen ihren Fingern herausragte wie eine Klinge.
Sie traf seinen linken Arm, mit dem er ihr den Mund zugehalten hatte, an der ungeschützten Innenseite. Der Nagel durchdrang den Stoff seines Hemdes und zerfetzte seine Haut. Sie hatte nicht gewusst, dass so viel Kraft in ihr war. Ihr Aufbrüllen war lauter als sein Geschrei, als er fühlte, wie sein Arm aufgerissen wurde.
Sie schüttelte ihn ab und floh instinktiv, so schnell sie konnte, erst kriechend, dann geduckt, und sie raffte ihre Kleider vom Boden auf. Sie rannte und rannte, und erst als sie drei Straßen weiter war, merkte sie, dass niemand sie verfolgte. Später erzählte sie, was sie vermutete: dass der Wolf sich schämte, zuzugeben, dass ein nacktes Mädchen – eine winselnde Jüdin – ihn besiegt hatte. Die tiefe Risswunde in seinem Arm, die erst nach Wochen wieder verheilt war, erklärte er durch einen Unfall.
Aber die eigentlich Verwundete war Hannah. Nicht nur im Gesicht, das nicht mehr ihres war. Verletzt war vor allem ihre Seele. Sie konnte nicht mehr unsere Mutter sein. Tag und Nacht blieb sie in unserem kleinen Zimmerchen. Ich musste weiterarbeiten, obwohl ich inzwischen stark abgemagert und immer hungrig war. Was immer ich an Essbarem finden konnte, nahm ich mit nach Hause, und am Tor entschied ich, ob ich riskieren konnte, es hineinzuschmuggeln oder nicht. Wenn die Wärter betrunken waren, versuchte ich es. Wenn der Wolf in der Nähe war, gab ich das, was ich versteckt hatte, anderen, die tapferer – oder dümmer – waren als ich.
Ende Oktober 1941 erschien eine Verfügung an jeder Mauer und jedem Laternenpfahl: Alle Bewohner des Ghettos sollten sich am nächsten Morgen um sechs Uhr auf dem Demokratu-Platz versammeln. Niemand wusste, was kommen würde. Die ganze Nacht hindurch hörte man alle möglichen Geräusche auf der Straße: Fromme Männer beteten, Frauen jammerten, andere aßen und betranken sich, als wollten sie diese Nacht genießen, weil sie fürchteten, es könnte die letzte ihres Lebens sein.
Ratsuchend sah ich Hannah an: Was sollten wir tun? Aber sie war nicht mehr die alte Hannah. Ihre Augen waren leer, wie es die unserer Mutter gewesen waren. Also übernahm ich die Führung; ich sammelte ein paar Brosamen zusammen und sorgte dafür, dass die Mädchen warm angezogen waren. Wir ließen unsere Türen unverschlossen. So war es befohlen, damit niemand versuchen konnte, sich zu verstecken.
An diesem Morgen war der Boden leicht mit Schnee überstäubt, mit Graupeln eher, und nur hier und da schimmerte eine Kerze oder Laterne durch die Dunkelheit. Alle hatten irgendwelche Papiere bei sich, die sie hüteten: entweder eine Arbeitserlaubnis oder ein Schulzeugnis – alles, was irgendwie beweisen konnte, dass sie einen Wert hatten und den Deutschen nützlich sein konnten.
Mehr als drei Stunden warteten wir in der feuchten Kälte, bis schließlich der SS-Hauptscharführer Helmut Rauca auf einen Erdhaufen stieg, wo er die Zehntausende überblicken konnte, die sich dort zusammendrängten. Mit einem Kopfnicken veranlasste er, dass ihm die erste Kolonne vorgeführt wurde. Ich sah Maschinengewehrstellungen rund um den Platz. In einiger Entfernung auf einem Hang standen litauische Einheimische, die dort einen guten Ausblick auf das Geschehen hatten.
Rauca war der Mann, den alle beobachteten. Mit winzigen Handbewegungen schickte er manche Leute nach links, andere nach rechts. Meine Schwestern und ich hatten Glück: Es zeigte sich bald, dass dort, wo wir gewartet hatten, der Anfang der Warteschlange war. Aber das bedeutete auch, dass ich keine Zeit hatte, das Muster dieser Vorgänge zu ergründen: War es gut, wenn man nach links geschickt wurde, oder war es besser, nach rechts zu kommen? Ich wusste es nicht.
Meine Schwestern und ich nahmen Hannah zwischen uns und traten vor. Rauca machte eine teilende Gebärde: Er wollte, dass meine Schwestern nach rechts gingen, und ich sollte nach links. Ich protestierte: Wir müssten zusammenbleiben. »Wie du willst – also ab nach rechts!«, bellte er, und ich dachte, er lächelte.
Und dann packte eine Hand meine Schulter.
»Nicht du«, sagte eine Männerstimme.
Ich drehte mich um und sah einen Polizisten. Es war kein Deutscher und kein Litauer, sondern einer der jüdischen Polizisten, die im Ghetto Dienst taten.
Ich versuchte mich loszuwinden und zu meinen Schwestern zu gelangen, die jetzt vorangeschoben wurden. Rivvy streckte die Arme nach mir aus, aber ich konnte ihre Hand nicht erreichen. Leah fing an zu weinen. Aber es half alles nichts. Der Polizist hielt mich fest. »Nicht du«, wiederholte er.
Ich fing an zu schreien und stieß und schlug nach ihm. Wie konnte dieser Verräter es wagen, mich von meinen Schwestern zu trennen? Ich wollte seine Hand abstreifen, aber er packte nur noch fester zu. Jetzt schrien Rivvy und Leah beide – sie sahen, was passierte –, aber er ließ mich nicht los, sosehr ich mich auch wehrte. Meine Schwestern verschwanden immer tiefer im Gedränge der Leute, die Rauca mit einem Fingerschnippen nach rechts geschickt hatte. Dann waren Rivvy und Leah fort. Das Letzte, was ich sah, waren Hannahs Augen mit ihrem starren Blick.
Der Polizist zog mich weg und führte mich im Polizeigriff in eine Seitengasse und immer weiter, bis wir den Platz hinter uns gelassen hatten. Ich hatte keine Ahnung, wer der Mann war oder warum er getan hatte, was er getan hatte.