Tom rieb sich die Augen; allmählich forderte der Nachtflug seinen Tribut. Es war lange her, dass er eine persönliche Geschichte wie diese gelesen hatte; Fallgeschichten hatten sie sie immer genannt. In seiner Anfangszeit bei den UN hatte er über solchen Dokumenten gebrütet und jedes Detail in sich aufgenommen. Nach ein paar Jahren hatte er sie nur noch überflogen und die juristisch relevanten Fakten herausgefiltert. Bei diesen Schreckensgeschichten war die eine nicht viel anders als alle anderen. Aber jetzt las er sie aufmerksam; anscheinend war er aus der Übung gekommen.

Der jüdische Polizist – und man muss wissen, dass wir diese Verräter genauso sehr hassten wie die Deutschen und die Litauer – ließ mich plötzlich stehen. Als er weg war, merkte ich, dass es auf der Straße totenstill war. Es war eine schreckliche Stille. Man hörte keinen Laut, weil alle Leute fort waren.

Ich ging zurück zu unserem kleinen Abschnitt der Linkuvos-Straße, vorbei an lauter leeren, stillen Häusern. Ich fühlte mich wie das letzte Kind auf Erden. Viertausend Menschen waren an diesem Tag verschwunden. Alle andern waren entweder draußen bei der Zwangsarbeit, oder sie hatten sich versteckt. Auf der Straße war niemand.

Ich war zwölf Jahre alt, und ich war ganz allein. Ich war neidisch auf meine Schwestern, denn ich stellte mir vor, dass sie irgendwo ein neues Zuhause gefunden hatten.

Ich arbeitete weiter und tat immer noch so, als sei ich sechzehn. Nicht einmal den anderen Arbeitern wagte ich die Wahrheit über mein Alter zu sagen. Manche waren nett zu mir, als wüssten sie, dass ich nur ein Kind war. Aber andere waren so verzweifelt, dass sie nicht mehr die Menschen waren, die sie früher gewesen waren. Der Hunger hatte sie zu Tieren gemacht. Solche Leute hätten mich auf der Stelle verraten, wenn sie gedacht hätten, dass sie dafür meine Rationen bekommen könnten.

Ich wohnte weiter in demselben Zimmer, aber jetzt mit einer neuen Familie. Die andere Frau und ihre Kinder waren zusammen mit meinen Schwestern zur Neunten Festung abtransportiert worden. Jetzt war es weniger eng. Überall im Ghetto war mehr Platz, weil viele Tausende verschwunden waren. Wir wussten nicht, wo sie hingebracht worden waren oder warum wir nichts mehr von ihnen hörten.

Dass ich noch da war, wusste niemand. Die Kinder, mit denen ich zur Schule gegangen war, waren alle fort. Das einzige bekannte Gesicht war das des Polizisten, der mich gehindert hatte, mich dem Transport anzuschließen – dieses Verräterschwein. Sein bloßer Anblick erfüllte mich mit Abscheu. Aber er schien oft in der Nähe zu sein. Wenn ich nach zwölf Stunden Arbeit auf der Baustelle erschöpft und mit müden Beinen und schmerzendem Rücken zurückkam, stand er am Eingang zum Ghetto, oder er schlenderte auf seinem Streifengang an dem Haus vorbei, in dem ich schlief. Manchmal machte er mir Angst, aber meistens war er mir nur zuwider.

Dann klopfte es eines Abends an die Tür. Drängend – drei Mal, vier Mal. Die Frau in der Wohnung erschrak; sie glaubte, es sei die Gestapo. Angstvoll funkelte sie mich an. Was für ein Unheil hatte ich über sie gebracht? Hatte man mich beim Schmuggeln gesehen?

Wir hörten eine Stimme vor der Tür. »Polizei! Aufmachen!«

Es war die jüdische Ghetto-Polizei. Alle wussten, dass sie genauso bösartig sein konnte wie die litauischen Kollaborateure. Ich schaute zum Fenster und überlegte, ob ich hinausspringen und weglaufen sollte. Wir waren im zweiten Stock; konnte ich da unten landen, ohne mir die Knochen zu brechen? Ich sah, dass meine Hände zitterten.

Bevor ich noch Zeit hatte, einen Plan zu machen, hatte die Frau sich entschieden. Sie öffnete die Tür, und da stand der Polizist, der mich ungefähr drei Wochen zuvor aus dem Transport geholt hatte. Hier vor meiner Tür, mitten in der Nacht.

»Du, Junge. Komm sofort mit.«

Ich war starr vor Angst und rührte mich nicht von der Stelle.

»SOFORT

Ich trug immer noch alle Kleider, die ich besaß, am Leib. Man wagte nicht, sie nachts auszuziehen, weil sie dann vielleicht gestohlen wurden. So ließ ich mich von dem Polizisten wegbringen.

Er schob mich die Treppe hinunter und auf die Straße hinaus, und mit lauter Stimme verkündete er, er werde mich für das, was ich getan hätte, bei den Behörden abliefern. Ich wusste nicht, was ich getan hatte.

Er bog links und rechts ab, marschierte schließlich in den Durchgang zwischen zwei Häusern und eine Außentreppe zu einem Keller hinunter. Hier, das wusste ich, war nicht das Polizeirevier. Inzwischen hatte er aufgehört, lautstark herumzuposaunen, wie ich bestraft werden würde. Ich spürte die Angst wie einen Knoten im Magen.

Der Polizist klopfte an die Kellertür. Es war kein normales Klopfen, sondern hatte einen seltsamen Rhythmus: dreimal schnell hintereinander, und dann noch zweimal langsam. Hinter der winzigen Kellertür meldete sich eine Stimme.

»Wer ist da?«

»Einer fun die Macabi.« Ein Sohn der Makkabäer.

Die Tür öffnete sich knarrend, und der Polizist schlüpfte hindurch und zog mich mit. Im Keller waren drei Männer; eine einzelne Kerze in der Mitte eines kleinen, morschen Tischs beleuchtete ihre Gesichter. Für mich sahen sie alt aus; ihre dunklen Augen lagen tief in den Höhlen, und sie waren hager. Heute weiß ich, dass sie jung waren; einer war gerade zwanzig.

Sie starrten mich an, und schließlich sagte einer, der offenbar der Anführer war: »Das ist ein Wunder.«

Der zweite nickte. »Er ist perfekt. Unsere Geheimwaffe.«

Der Anführer sprach wieder. Sein Gesicht war schroff. »Lass deine Hose herunter.«

Ich zögerte, und wiederholte seinen Befehl, bis ich begriff, dass ich keine Wahl hatte.

»Ganz herunter. Damit wir besser sehen können.«

Als sie alles gesehen hatten, lächelten die drei Männer, und einer lachte sogar kurz. Keiner sprach mit mir. »Gut gemacht, Shimon«, sagten sie, und der Polizist nickte wie ein Kind, das von seinem Lehrer gelobt worden war. »Du hast uns wahrhaftig ein jüdisches Wunder gebracht.«

Ich hatte vom jüdischen Untergrund gehört, aber nicht daran geglaubt. Die anderen Kinder hatten von einem bevorstehenden Widerstand geredet und erzählt, ein paar Juden versuchten, Waffen zu bekommen, um gegen die Nazis zu kämpfen und vielleicht sogar aus dem Ghetto auszubrechen. Aber gesehen hatten wir davon nichts. Ich hielt es für ein Märchen, eine Geschichte, wie Jungen sie erzählen.

Aber jetzt wurde mir klar, warum sie mich geholt hatten. Der Polizist hatte sich als »Sohn der Makkabäer« bezeichnet, und das war das Passwort gewesen. Die Makkabäer, das wusste ich, waren die großen jüdischen Krieger gewesen, die hebräischen Widerstandskämpfer, die für die Rettung Jerusalems gekämpft hatten.

Ich war ein blonder, blauäugiger Junge mit einem unbeschnittenen Penis. Ich konnte als Arier durchgehen. Vielleicht wollten sie mich benutzen, um Lebensmittel ins Ghetto zu schmuggeln. Das war aufregend; ich wusste, dass ich es konnte. Hatte Hannah mich nicht schließlich als kleinen litauischen Waisenjungen losgeschickt, damit ich bei unseren christlichen Nachbarn bettelte, die vielleicht Mitleid mit einem christlichen Kind haben würden?

Aber dann schickte der Anführer Shimon weg und fing an, sich flüsternd auf Jiddisch mit den andern zu unterhalten, als wäre ich gar nicht da, als stände ich nicht vor ihnen. Einer meinte, sie könnten es sich nicht leisten, abzuwarten: »Der Junge hat unsere Gesichter gesehen.« Ein anderer nickte. »Er kennt jetzt diesen Ort. Das Risiko ist zu groß.« Ich wusste nicht, was sie mit mir vorhatten.

Schließlich hob der Anführer die Hand zum Zeichen dafür, dass die Diskussion beendet sei. Er hatte seine Entscheidung getroffen. Erst jetzt drehte er sich um und sah mir ins Gesicht. Er heiße Aron, sagte er. »Bist du tapfer?«

»Ja«, sagte ich.

»Tapfer genug, um eine Aufgabe zu übernehmen, die ein großes Risiko mit sich bringt – höchstwahrscheinlich ein lebensgefährliches Risiko?«

»Ja«, sagte ich, aber natürlich hatte ich keine Ahnung von solchen Dingen. Ich sagte es nur, weil ich annahm, es werde mich retten.

»Ich werde dir im Namen deines Volkes eine Aufgabe geben. Du wirst nach Warschau fahren, zu einer Adresse, die ich dir geben werde. Du wirst dort eine Nachricht abliefern. Bist du dazu bereit?«

Ich nickte, aber ich war keineswegs bereit.

»Du wirst dort hingehen und die folgenden Worte sagen. Du darfst sie nicht verändern, nicht ein einziges. So lautet die Nachricht: ›Tante Esther ist zurückgekommen, und sie ist in der Megilla-Straße 7, Wohnung Nummer vier.‹«

»Aber ich verstehe nicht –«

»Es ist besser, wenn du es nicht verstehst. Besser für dich.« Das sollte heißen, wenn man mich folterte, würde ich nichts verraten können. »Jetzt wiederhole, was ich dir gesagt habe.«

»Tante Esther ist zurückgekommen, und sie ist in der Megilla-Straße 7, Wohnung Nummer vier.«

»Noch einmal.«

»Tante Esther ist zurückgekommen, und sie ist in der Megilla-Straße 7, Wohnung Nummer vier.«

»Gut.«

Der Polizist kam wieder herein und führte mich weg. Wir blieben draußen in dem Durchgang stehen, und er erklärte mir, was geplant war. Er wiederholte jede Einzelheit, damit ich nichts vergaß.

Und so verließ ich das Ghetto am nächsten Morgen wie immer mit meiner Arbeitskolonne. Aber diesmal hatte der jüdische Polizist Dienst am Tor, und er sorgte dafür, dass es keine Schwierigkeiten gab, wenn ich mich von den andern entfernte.

Ein paar Sekunden, nachdem ich die Brücke über den Fluss überquert hatte, tat ich, was man mir aufgetragen hatte: Ich riss den gelben Stern von meiner Jacke und trat sofort auf den Bürgersteig. Jetzt war ich kein Ghetto-Jude mehr, sondern ein Arier in der Stadt Kaunas. Ich ging mit hocherhobenem Kopf, wie man es mir gesagt hatte.

So ging ich bis zum Bahnhof. Es war noch früh; Dunst hing in der Luft. Trotzdem stand eine Gruppe von drei oder vier Wachtposten vor dem Bahnhof. Ein Mann in SS-Uniform führte das Kommando. Ich sprach sie auf Litauisch an. »Ich heiße Vitatis Olekas«, sagte ich, »und ich bin Waise.« Ich bat um die Erlaubnis, nach Polen zu fahren; dort hätte ich Verwandte, die für mich sorgen würden.

Wie ich es befürchtet und genau wie Shimon, der jüdische Polizist, es vorausgesagt hatte, nahm der SS-Offizier die Sache in die Hand. Er ging um mich herum und taxierte mich, als wäre ich ein Musterexemplar, das er begutachten sollte. Einer der Litauer wollte wissen, wohin ich in Polen wollte. Der SS-Mann schwieg. Er umkreiste mich nur immer weiter, und seine Absätze klickten auf dem Pflaster. Schließlich riss er hinten an meinem Hosenbund.

»Runter damit!«, befahl er.

Ich drehte mich um und sah, dass er auf meine Hose deutete. »Er will dich ansehen«, sagte einer der Litauer und grinste spöttisch.

Ich machte ein verwirrtes Gesicht, wie Shimon es mir geraten hatte, und der Offizier fuhr mich an: »Los, los!« Zögernd ließ ich Hose und Unterhose herunter. Der SS-Offizier beäugte meinen Penis, sah die Vorhaut und winkte mich weiter.

So trat ich meine Reise an, bewaffnet mit richtigen arischen Ausweispapieren und einer Reisegenehmigung für Warschau. Ich weiß nicht mehr, ob ich mich als Fünfzehnjährigen ausgab – oder als älter oder jünger –, aber in Wahrheit war ich ein zwölfjähriger Junge, der allein im Krieg durch Europa reiste und den Nazi-Grenzern seine kostbare Kennkarte zeigte – in Marijampolé und Suwalki und Bialystok, wieder und immer wieder. Mit der Kennkarte war das alles möglich. Sie war keine Fälschung, sondern echt. Mit diesem Papier in der Hand war ich ein Arier. Ein kostbareres Dokument konnte es nicht geben.

Und schließlich kam ich in Warschau an. Es war Mittag, und überall herrschte Hochbetrieb, aber niemand ging dahin, wo ich hin wollte. Mein Ziel war das Warschauer Ghetto. Die meisten Leute sehnten sich verzweifelt danach, aus dem Ghetto zu entkommen; ich war der Einzige, der hineinwollte.

Ich wühlte in dem Loch, das ich in das Futter meiner Jacke gerissen hatte, zog den gelben Stern heraus, den ich dort versteckt hatte, und heftete ihn wieder an. Dann wartete ich auf eine zurückkehrende Arbeiterkolonne und schloss mich ihr an. Shimon hatte mir versprochen, es werde sein wie in Kowno: Die Arbeiter mussten ihre Papiere nur vorzeigen, wenn sie hinausgingen, aber nicht bei der Rückkehr.

So wanderte ich jetzt wieder durch Straßen, die so überfüllt und von Krankheiten verseucht waren wie die, die ich hinter mir gelassen hatte. Auch hier lagen Leichen in der Gosse. Aber ich fand das Haus, das ich suchte, und sagte den Leuten dort, dass ich jemandem eine Nachricht zu überbringen hätte.

»Sag sie uns, und wir richten sie ihm aus.«

»Das darf ich nicht«, sagte ich. »Ich muss die Nachricht ihm überbringen, und nur ihm allein.«

Erst nach dem Krieg erfuhr ich, was der Anlass meiner Mission gewesen war und warum diese drei Männer in dem kerzenbeleuchteten Keller mich in jener Nacht losgeschickt hatten. Es war eine Reaktion auf etwas, das drei Tage vorher passiert war.

Ein paar Juden, die außerhalb des Ghettos gearbeitet hatten, hatten ein junges Mädchen gesehen, kaum bekleidet und mit wild stierendem Blick. Sie war schmutzig und mit Blut beschmiert, sie sprach nicht, und ihr Gesicht zuckte wie das einer Wahnsinnigen. Sie brachten sie ins Ghetto, und nachdem sie etwas angezogen hatte und ein bisschen essen und trinken konnte, fing sie schließlich an zu reden, auch wenn die Worte nur langsam aus ihrem Mund kamen.

Sie hatte zu denen gehört, die auf dem Demokratu-Platz nach rechts geschoben worden war, genau wie meine Schwestern. Die Selektion hatte den ganzen Tag und über den Einbruch der Dunkelheit hinaus gedauert. Rauca hatte auf seinem Hügel gestanden und Zigaretten geraucht oder Butterbrote gegessen, und die ganze Zeit hatte er über die Kolonne der Leute gerichtet, die vor ihm vorüberschlurfte; er hatte ihre Schreie ignoriert und ihr Flehen überhört. Irgendwann waren es zehntausend gewesen, und man hatte sie durch ein Loch im Zaun in das Viertel getrieben, das als »kleines Ghetto« bekannt war. Einige waren erleichtert gewesen; sie waren zu dem Schluss gekommen, es habe sich lediglich um eine komplizierte Übung zur Umsiedelung gehandelt. Anscheinend hatten die Leute angefangen, darüber zu streiten, wer welche Wohnung beziehen sollte, und Komitees hatten die ganze Nacht hindurch diskutiert und ihr neues Leben geplant.

Aber beim nächsten Morgengrauen erkannten sie ihren Irrtum. Litauische Milizen stürmten herein und fingen an, die Juden aus ihren neuen Wohnungen zu prügeln; sie trieben sie zu einer Kolonne zusammen und befahlen den Abmarsch. Es ging vier Kilometer weit bis zur Neunten Festung, einem alten Feldlager aus der Zarenzeit, das dazu gedient hatte, die Deutschen abzuwehren.

Der Weg führte bergauf und dauerte Stunden; Alte und Gebrechliche brachen am Wegesrand zusammen, und so manches Mal half ihnen ein Schlag mit dem Gewehrkolben eines Milizsoldaten, schneller zu sterben. Die gesamte Strecke war gesäumt von neugierigen Litauern, die diese merkwürdigen Geschöpfe sehen wollten, die da aus dem Ghetto gekrochen kamen – wie sie schon neugierig gegafft hatten, als man uns alle hineingeführt hatte.

Die Nazis hatten einen Namen für diesen Weg. Sie nannten ihn den »Weg zur Himmelfahrt«.

Erst am Nachmittag kamen sie ans Ziel, aber es gab keine Ruhe für sie. Die litauischen Schlägertrupps entrissen ihnen hastig allen Schmuck wie Ohrringe und Armbänder, und dann befahlen sie den Juden, sich nackt auszuziehen. Erst danach führten sie sie zu den Gruben.

Es waren riesige Gräben, die dort ausgehoben worden waren. Manche behaupteten, sie waren hundert Meter lang, drei Meter breit und vielleicht zwei Meter tief. Andere meinten, sie waren nicht so lang, aber doppelt so tief. Jeder dieser Gräben war an drei Seiten von frischen Erdhaufen gesäumt. An der vierten erhob sich eine Holzplattform. Und hier standen die SS-Männer mit ihren Gewehren.

Diejenigen, die den Marsch überlebt hatten, fingen jetzt an zu schreien; sie begriffen, wohin dieser Himmelfahrtsweg sie geführt hatte. Ein paar versuchten zu fliehen, aber sie wurden auf der Stelle erschossen. Und so begann das Morden.

Zuerst warfen die Nazis die Kinder in den Graben, und dann eröffneten die Maschinengewehrschützen, die genau zu diesem Zweck in Stellung gegangen waren, das Feuer. Die Frauen wurden am Rand des Grabens in einer Reihe aufgestellt und dann in den Rücken geschossen, so dass sie auf die Kinder fielen. Die Männer kamen zuletzt.

Sie töteten sie in Gruppen von jeweils dreihundert Leuten – ohne die Garantie, dass die eine Gruppe wirklich tot war, wenn die nächste an die Reihe kam. Sie mussten schnell arbeiten. Außerdem war die Munition rationiert, so dass die Nazis sich nicht leisten konnten, mehr als eine Kugel an jedes Opfer zu verschwenden. Und die meisten der Schützen waren betrunken.

So waren viele Juden noch am Leben, als sie in den Graben fielen. Sie wurden bei lebendigem Leibe begraben. Vor allem die Kinder erlitten dieses Schicksal, aber nicht nur sie. Augenzeugen berichteten, dass die Grube sich noch drei Tage lang regte, dass sie atmete.

Diese Ereignis nannten sie die »große Aktion« vom 28.Oktober 1941, bei der zehntausend Juden aus dem Ghetto von Kowno getrieben und ermordet wurden.

Und so starben meine Schwestern.

Das Mädchen, das zitternd und halb verhungert den Weg zurück ins Ghetto gefunden hatte, war eine von denen, die lebend begraben worden war. Als sie in die Grube stürzte, war sie ohnmächtig geworden, aber einige Zeit später war sie zu sich gekommen und hatte begriffen, dass überall um sie herum Leichen lagen, über ihr und unter ihr und um sie herum. Sie war eingekeilt vom Fleisch der Toten, die so schwer auf ihr lasteten, dass sie kaum Luft bekam.

Die meisten der noch Lebenden waren zu schwach, um die Gliedmaßen der Toten als Leitern zu benutzen und aus den Gruben herauszuklettern. Sie gaben auf und erstickten unter den Leichenmassen. Diejenigen, die doch herauskriechen konnten, wurden zumeist entdeckt und erschossen, und diesmal gingen die Kugeln nicht daneben. Aber dieses Mädchen war nervös und vorsichtig. Sie wartete bis tief in die Nacht hinein, bis das Gesinge der betrunkenen Nazis und ihrer litauischen Genossen verstummt war und sie schliefen. So war sie entkommen, hinaus aus der Festung und zurück ins Ghetto.

Das war die Geschichte, die sie erzählte, als sie Kleidung und Essen bekommen hatte und wieder sprechen konnte. Und es war die Geschichte, die den Anführern des jüdischen Untergrunds in Kowno zu Ohren gekommen war, diesen Männern im Keller. Vielleicht sahen sie da zum ersten Mal, was für einer Bedrohung sie gegenüberstanden. Deshalb hatten sie beschlossen, die Nachricht an die zu verbreiten, die ebenfalls versuchten, Widerstand zu leisten. Und deshalb hatten sie mich nach Warschau geschickt.

Und viele Jahre später verstand ich auch, was die Nachricht bedeutete, die ich übermittelt hatte. Und ich begriff, warum die Männer im Keller es mir nicht erklärt hatten. Nicht nur, weil man mich hätte foltern können, sondern auch, weil sie nicht wagten, mir zu eröffnen, was aus meinen Schwestern geworden war. Vielleicht dachten sie, die Wut hätte mich so sehr geblendet, so sehr gebrochen, dass ich meine Mission nicht hätte ausführen können.

Aber ich führte sie aus, und ich traf den Mann, den ich in Warschau treffen sollte. Ich musste drei Stunden warten, aber ich traf ihn. Er war der Anführer des Untergrunds im Warschauer Ghetto – auch er ein junger Mann, der alt wirkte.

Als ich ihm die Worte vorsprach – »Tante Esther ist zurückgekommen, und sie ist in der Megilla-Straße 7, Wohnung Nummer vier« –, sah er mich zunächst ratlos an. Aber dann bat er jemanden, ihm ein Buch zu bringen, ein heiliges Buch, das aus den Ruinen einer Synagoge im Ghetto gerettet worden war. Es war das Buch Esther, das die Juden die Megilla der Esther nennen. Es ist das Buch, das wir am Purim-Fest lesen, an dem wir einer viele hundert Jahre alten Verschwörung zur Vernichtung der Juden gedenken.

Der Anführer der Untergrundbewegung schlug Kapitel sieben, Vers vier auf, und dann war ihm alles klar. Er las den Text laut vor, als helfe ihm das beim Denken. »Denn wir sind verkauft, ich und mein Volk, dass wir vertilgt, erwürgt und umgebracht werden. Und wären wir doch nur zu Knechten und Mägden verkauft, so wollte ich schweigen.«