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Er wusste, was er klugerweise zu tun hatte. Zumindest darin war das Studium in Harvard erfolgreich gewesen: Er war immerhin scharfsinnig genug, um genau zu wissen, wie es jetzt weitergehen musste, wenn er den Commissioner zufriedenstellen und seine eigene Karriere voranbringen wollte.
Und was noch besser war: Es war bemerkenswert und betörend einfach. Er brauchte jetzt gar nichts zu tun und nichts mehr zu sagen. Es genügte, wenn er die Präsentation beendete, seinen Laptop zuklappte, seinem Vorgesetzten die Hand gab und verschwand. Jeder seiner Kollegen würde jetzt finden, er habe heute Morgen gute Arbeit geleistet – und sich für den Rest des Tages freinehmen.
Aber irgendetwas plagte Jay Sherrill. Es würde aufgeblasen klingen, wenn man es »Gewissen« nennen wollte. Und außerdem stimmte es nicht. Es war weniger sein Gewissen, das da zu ihm sprach, als vielmehr eine lästige Charaktereigenschaft: sein analfixiertes Bedürfnis nach Sauberkeit und Vollständigkeit. Er wusste, dass es ihn den ganzen Tag und den Rest der Woche verfolgen würde, wenn er Commissioner Riley jetzt nicht die ganze Geschichte erzählte. Natürlich war das, politisch gesehen, sinnlos; der Chef hatte ihm bereits so direkt wie möglich gesagt, mehr wolle er nicht wissen. Er hatte eine Geschichte im Kopf und wollte nicht, dass unbequeme Fakten sie durcheinanderbrachten.
Trotzdem wollte Sherrill die Sache nicht allein entscheiden. Das sollte Riley tun. Dann sag ihm alles, und wenn er die Informationen nicht verwenden will, liegt die Verantwortung bei ihm. Dann habe ich meine Pflicht getan. Sherrill wusste, dass er sich damit streng an die Vorschriften hielt, aber er sah keine andere Möglichkeit. Er war nach den Vorschriften erzogen worden.
»Die Geschichte hat noch ein, zwei weitere Elemente, Commissioner.«
»Die gibt es immer, Detective. ’ne Menge Spreu in jeder Ermittlung. Unser Job ist es, die Spreu vom Weizen zu trennen.«
»Das weiß ich, Sir. Aber ich denke, Sie sollten noch wissen –«
»Ja ja. Vielleicht sprechen Sie draußen mit Donna und lassen sich einen neuen Termin –«
»Es dauert nicht lange, Sir. Es ist einfach so, dass die Identifizierung des toten Gerald Merton als Terrorist vielleicht nicht völlig falsch war.«
»Na, das ist sicher eine mächtig interessante Theorie. Wenn Sie jetzt bitte –«
»Das ist nicht nur eine Theorie, Sir. Da ist zum einen die Waffe – Killers kleiner Freund, wie Sie sie nannten –, die in seinem Hotelzimmer versteckt war. Er hatte Umgang mit einem bekannten Waffenhändler. Der Mann, den die UN nach London geschickt haben, berichtet von einer potentiellen Vorgeschichte von Selbstjustizmorden.«
Der Gesichtsausdruck des Commissioners veränderte sich schlagartig. Von onkelhafter Jovialität war keine Spur mehr. »Was ist das für ein Mann?«
»Tom Byrne. Er ist der Rechtsanwalt, den die UN auf den Fall angesetzt haben.«
»Ja – damit er unsere Ermittlungen begleitet. Was hat er da selbst zu ermitteln?«
»Er ermittelt nicht. Jedenfalls nicht offiziell. Die UN haben ihn nach London geschickt, damit er die Familie beruhigt. Er soll verhindern, dass sie Schadenersatz –«
»Schon gut. Und was hat er herausgefunden?«
»Er ist nicht ins Detail gegangen. Aber er glaubt, die Waffe im Hotelzimmer könnte damit erklärt werden, dass –«
»Er weiß von der Waffe?«
»Ja, Sir.«
Riley saß jetzt kerzengerade und fing an, die Papiere auf seinem Schreibtisch ordentlich zusammenzuschieben. »Ich verstehe.« Der leutselige Tonfall der Südstaaten war nicht mehr zu hören. Sherrill begriff sofort, was das hieß: Der Commissioner war zu dem Schluss gekommen, dass sein kleines Spielchen – den Tod eines unschuldigen alten Mannes dem Geheimdienst in die Schuhe zu schieben – jetzt zu Ende war. Wenn es nur um Sherrill gegangen wäre, hätte sich wahrscheinlich ohne große Mühe ein Teppich finden lassen, unter den man alle unangenehmen Fakten kehren könnte. Aber jetzt hatte sich der Kreis der Eingeweihten unerwartet vergrößert. Der Plan funktionierte nicht mehr.
»Detective, gerade fällt mir etwas ein. ’tschuldigung, dass ich nicht eher daran gedacht habe.«
»Ja, Sir?« Sherrill spürte, wie seine Kehle verdorrte.
»Dieser Todesfall hat auf dem Gelände der Vereinten Nationen stattgefunden, richtig?«
»Ja, Sir.«
»Ist das im Hoheitsbereich der Vereinigten Staaten?«
»Verzeihung, Sir, ich weiß nicht –«
»Ist es auf amerikanischem Boden passiert, Detective?«
»Ich nehme an, formal gesehen gilt es nicht als –«
»Daran ist nichts Formales. Überhaupt nichts. Und ich weiß, was der Staatsanwalt dieser Stadt oder übrigens überhaupt ein amerikanischer Staatsanwalt dazu sagen würde. Er würde sagen, hier ist kein Verbrechen begangen worden.«
»Wie bitte?«
»Hier ist kein Verbrechen begangen worden. Es gibt keine Straftat, die er oder sonst eine Justizbehörde verfolgen könnte. Ja, da ist jemand erschossen worden. Aber es ist nicht auf amerikanischem Boden passiert. Das bedeutet, es wurde gegen kein amerikanisches Gesetz verstoßen, und es gibt nichts, womit sich irgendeine Justizbehörde der Vereinigten Staaten befassen müsste – auch nicht das New York Police Department.«
»Aber Sie haben gesagt, dieser Fall hat höchste Priorität, und ich soll Ihnen unmittelbar Bericht erstatten.«
Der Commissioner verfiel in einen offiziösen Tonfall. »In der Situation nach 9/11 wollte ich keine Risiken eingehen. Für den Fall, dass diese Sache irgendwelche Auswirkungen auf den Rest der Stadt haben sollte.« Er beugte sich vor und fixierte Sherrill. »Das ändert aber nichts an diesem prinzipiellen Einwand, wie ein kurzer Anruf bei der Staatsanwaltschaft oder einem unserer Hausjuristen schnell bestätigen würde. Es gibt kein Verbrechen, Detective. Sie bearbeiten den Fall nicht mehr, weil es keinen Fall gibt. Dieses Gespräch ist beendet.«