Tom stürmte aus dem Büro, zuerst in Richtung der Aufzüge, aber dann besann er sich und stemmte mit der Schulter die Feuertür auf: Auf der Treppe war das Risiko geringer, einem Bekannten zu begegnen.

Er sprang die Treppe hinunter, so schnell er konnte, packte auf den letzten drei oder vier Stufen das Geländer und flankte hinüber; er schnellte in die Höhe und landete ein gutes Stück weiter unten. Im dritten Stock verließ er die Feuertreppe und machte sich im Getriebe der Korridore so unsichtbar wie möglich. Er durfte jetzt nicht rennen; das wäre zu auffällig. Aber er ging mit schnellen Schritten, vorbei an den Geschenkvitrinen mit maoistischem Kitsch aus der Volksrepublik China und dem traditionellen Einbaum aus Thailand. Er nahm die Treppe hinunter zur zweiten Etage, und mit keinem Blick sah er die Gedenkstücke aus Hiroshima, die geschmolzenen Flaschen und verkohlten Münzen, die dort aus den Ruinen gerettet worden waren. Noch eine Treppe weiter, und er war endlich bei dem deckenhohen, farbigen Chagall-Fenster angekommen: fahle Monde, gespenstisches Blau, verzweifelte Mütter, die ihre Wickelkinder umklammerten. Das Friedensfenster, so nannte man es, auch wenn Tom immer gefunden hatte, es verströme die Trauer des Krieges wie einen durchdringenden Geruch.

Atemlos blieb er stehen. Hier wimmelte es nicht von Touristen; er war allein. Es war nur eine Ahnung, die ihn hergeführt hatte: Rebecca hatte Henning gefragt, ob sie sich an einem ruhigen Ort mit dem Generalsekretär treffen könne, wo es weniger »imposant« wäre. Wie er Henning kannte – und er kannte ihn gut –, hatte der Deutsche sie hierhergebracht.

Sie nannten es Meditationskapelle. Es war ein schlichter, dunkler Raum ohne religiöse Symbole, ohne heilige Texte, ohne Bücher oder irgendwelchen Zierrat. Die Absicht war gewesen, einen »multi-religiösen« Raum zu schaffen, und das bedeutete, dass es im Grunde ein leerer Raum war. Es gab ein paar Bänke, aber hier saß selten jemand. Tom war ein- oder zweimal hier gewesen – einmal spät nachts nach einem besonders furchtbaren Arbeitstag in seinem Büro, an dem er sich durch Augenzeugenberichte gewühlt hatte. Aber die meisten UN-Mitarbeiter arbeiteten zwanzig Jahre in diesem Haus, ohne zu wissen, dass es diesen Raum gab.

Nicht Henning. Er war einer von denen gewesen, die entschieden darauf bestanden hatten, den Vorraum zu einer Gedenkstätte für diejenigen zu machen, die im Dienst der Vereinten Nationen ums Leben gekommen waren. Hier hing eine Plakette für Graf Bernadotte, den in Jerusalem ermordeten Diplomaten, und die zerfetzte Flagge der UN-Mission in Bagdad, die 2003 bombardiert worden war. Zumindest für Henning hatte die Meditationskapelle eine Bedeutung. Außerdem hatte er sich wahrscheinlich ausgerechnet, dass dieser Ort den UN wahrscheinlich einen kostbaren moralischen Vorteil bei dem Zusammentreffen mit Rebecca verschaffen würde.

Tom bemühte sich um Fassung. Er wusste nicht, was er vorfinden würde. Er wollte nachdenken, sich zurechtlegen, was er sagen oder tun würde, aber er hatte keine Zeit. Er trat zwischen den Trennwänden hindurch – eine Tür gab es nicht –, und dann wusste er, dass er recht gehabt hatte.

Sie waren beide da, Rebecca und er. Niemand sonst, wie Henning es versprochen hatte. Kein Referent, kein Berater – ganz so, wie Tom es erbeten hatte. Nur er und sie. Ganz allein standen sie einander gegenüber.

Das Licht veränderte sich, als Tom eintrat, und sie drehten sich beide um. Rebecca war verblüfft – überrascht, verwirrt, Tom konnte es nicht erkennen, aber er sah sie nicht lange an. Er war nicht ihretwegen hier.

Er starrte das Gesicht des Mannes an. Tom hatte nie für ihn gearbeitet; er war auf seinen Posten gekommen, als Tom sich schon längst in die Welt des Business geflüchtet hatte. Aber sein Gesicht war in den letzten Wochen bekannt geworden, zumindest für diejenigen, die sich für die Politik dieser Institution interessierten. Man hatte es in der Zeitung und im Fernsehen gesehen. Die hohe Stirn, das zurückgekämmte, silbergraue Haar, der breite Mund und die entschlossene, scharfe Nase. Er war groß und wirkte elegant in seinem dunklen Maßanzug mit der perfekt gebundenen Krawatte.

Aber es war nicht die Ähnlichkeit des realen Mannes mit seinem Bild in den Medien, was Tom ergründen wollte. Er verglich dieses Gesicht mit dem, das er fünf Minuten zuvor auf dem Monitor gesehen hatte. Gab es Raum für Zweifel? Selbst in diesem Halbdunkel war Tom sicher: Es gab keinen. Er hätte einen Eid darauf geschworen, dass der Mann, der hier vor ihm stand, und der junge faschistische Schläger bei der Neunten Festung in Kowno ein und dieselbe Person waren. Dieser eifrige Teilnehmer am Massaker an den Juden jener Stadt, ein unbedeutender, aber mörderischer Komplize im größten Verbrechen des 20. Jahrhunderts, stand hier vor ihm als Generalsekretär der Vereinten Nationen.