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»Ich möchte zur Beerdigung gehen.«
»Das kann ich verstehen, Generalsekretär.«
»Dann halten Sie es für eine gute Idee? Das freut mich, Münchau. Mein politischer Stab hielt es für unklug.«
»Warum, Sir?«
»Gowers sagt, man könnte es als Schuldeingeständnis bewerten. Ich habe gesagt, das sei ein juristisches Argument, kein politisches. Aber deshalb wollte ich unbedingt mit Ihnen sprechen. Wenn Sie dabei kein juristisches Problem sehen, dann können wir es tun. Sie sind der Boss.«
Der Generalsekretär senkte kurz und höflich den Kopf, als wolle er sagen: »Sie haben das Wort.« Das Porträt im Time Magazine stimmte: »Der Topdiplomat der Welt verfügt über einen Charme von Weltklasse.« Er verkörperte alles, was die Leute an den Skandinaviern schätzten: Er war absolut professionell, aber ohne teutonische Effizienz, er war informell, aber ohne die übermäßige Vertraulichkeit der Amerikaner, er war progressiv, aber frei von romanischer Inbrunst. So, wie manche dafür eintraten, dass die Olympischen Spiele immer in Athen stattfinden sollten, hatte das Magazin geschrieben, wäre die Welt ein besserer Ort, wenn der Spitzenposten bei den Vereinten Nationen immer in skandinavischen Händen läge. Natürlich erlaubte das Rotationssystem so etwas nicht, aber nachdem Asien und Afrika an der Reihe gewesen waren und ein Europäer als Kandidat in Frage kam, war der langjährige finnische Außenminister sehr schnell zur nächstliegenden Wahl geworden. Man hatte zwar mit dem Widerspruch der Russen gerechnet, aber zu aller Überraschung blieb dieser aus, und so war Paavo Viren ohne Gegenstimmen auf seinen Posten gekommen.
»Warum wollen Sie unbedingt hingehen, Sir?«
»Weil ich es für richtig halte. Der Mann wurde auf unserem Territorium erschossen, in unserer Obhut. Ich glaube, dafür müssen wir auch die Verantwortung übernehmen und es wiedergutmachen. Finden Sie nicht auch?«
»Ich verstehe, was Sie meinen.«
»Sie verstehen alles Mögliche, sagen mir aber nicht, wie Sie darüber denken. Bitte, Dr.Münchau, sagen Sie mir Ihre Meinung.«
Bevor er Gelegenheit dazu hatte, beugte sich der Kabinettschef vor, um das Wort zu ergreifen. Die drei sowie ein Protokollant saßen im persönlichen Büro des Generalsekretärs, verteilt auf die beiden Sofas, die er wenige Tage nach seinem Dienstantritt angeschafft hatte: Unentbehrliche Werkzeuge der Diplomatie nannte er sie.
»Während Sie darüber nachdenken, Dr.Münchau«, begann der Kabinettschef, »möchte ich kurz ein paar mögliche Szenarien umreißen. Im besten Fall fliegt der Generalsekretär nach London zu einem Händedruck und einem Fototermin mit Mertons Tochter, und damit ziehen wir einen Schlussstrich unter die ganze Episode. Schlimmster Fall: Er erscheint bei der Beerdigung, wird brüskiert, vielleicht sogar mit Protesten und Buhrufen empfangen, und dann hätten wir aus einem Problem eine größere Krise gemacht.«
»Schön, das genügt, Marti. Wir müssen jetzt hören, was der Justitiar zu sagen hat.«
»Tja, Sir, strenggenommen impliziert Ihr Besuch bei der Familie kein juristisch bedeutsames Schuldeingeständnis. Wie Sie sagen, Sie sprechen lediglich Ihr Beileid aus, weil dieser schreckliche Unfall auf unserem Territorium geschehen ist.«
»Gut.«
»Aber.«
»Aha, ein Aber. In diesem Gebäude gibt es immer ein Aber, nicht wahr?«
»Einen solchen Besuch wird man unweigerlich als Reueakt bewerten. UN-Generalsekretäre erscheinen für gewöhnlich nur bei Beerdigungen von Staats- und Regierungschefs. Wenn Sie nach London gingen, wäre das eine außergewöhnliche Geste, die impliziert, dass wir uns für etwas zu entschuldigen haben.«
»Aber das haben wir doch.«
Der Kabinettschef war entsetzt; Henning Münchau lächelte nur nachsichtig. »Das würden wir niemals öffentlich äußern wollen, Sir. Jedenfalls nicht in diesem Stadium.«
»Ach, ich bitte Sie!«
»Das meine ich ernst, Sir. Wir können unmöglich eine Entschuldigung oder eine Äußerung des Bedauerns abgeben, bevor wir alle Fakten kennen. Und die kennen wir nicht.«
»Wir haben einen unschuldigen Mann erschossen!«
»Aber, Sir, der springende Punkt ist, dass der UN-Wachmann das zum entscheidenden Zeitpunkt nicht wusste. Der diensthabende Officer war anscheinend davon überzeugt, dass der Mann eine unmittelbare Gefahr für das Leben unserer Mitarbeiter darstellte. Und damit wäre es ein Fall von Notwehr.«
»Okay, dann entschuldigen wir uns dafür. Es war wirklich ein Irrtum, aber für den müssen wir uns entschuldigen. Was ist daran auszusetzen?«
Henning warf dem Kabinettschef einen kurzen Blick zu, der sagte: »Du lieber Himmel, haben die uns hier einen Pfadfinder als Generalsekretär angedreht?«
Der Generalsekretär spürte den Dissens und lehnte sich zurück. »Hören Sie, ich bin nicht naiv. Ich sehe die Risiken. Aber Sie denken nicht politisch. Wenn man mich fotografiert, wie ich mich vor der Witwe oder der Tochter, oder wer immer es ist, demütig zeige, dann sieht das gut aus. Transparent, ehrlich, menschlich. Der neue Kurs des neuen Mannes der UN. Das könnte eine wunderbare PR abgeben.«
Nur über meine Leiche, dachte Henning. »Sir, lassen Sie mich mit meinem Mitarbeiter in London sprechen. Wenn es ihm gelungen ist, sich mit der Familie zu einigen, dann könnte Ihre Idee ausgezeichnet sein. Ich werde mich sofort mit ihm in Verbindung setzen. Ich glaube nicht, dass er uns im Stich lässt.«