»Rebecca, ich fürchte, das alles ist nicht anders zu verstehen. Sehen Sie das Muster nicht?«

Sie standen nebeneinander am Tisch, und ihre Arme berührten sich sacht, als sie über den Papieren brüteten, die auf dem Tisch ausgebreitet lagen.

»Für das Datum jedes Stempels in einem Pass gibt es einen entsprechenden Zeitungsausschnitt. Schauen Sie.«

Methodisch verteilte Tom die Zeitungsausschnitte auf die Pässe. Einer stammte aus einer Ausgabe der Libération von 1952. Er übersetzte, laut und stockend. »Die Kriminalpolizei sucht in Les Halles nach Zeugen, die Auskunft über den Tod eines Mannes geben können, der anscheinend von einem schnellfahrenden Wagen auf das Geländer der Metro-Station geschleudert wurde. Nach Angaben der Polizei lassen seine Verletzungen darauf schließen, dass er mit Höchstgeschwindigkeit angefahren wurde … « In einer säuberlichen Handschrift, die Tom wiedererkannte, waren mit Bleistift ein paar Worte an den Rand geschrieben worden: SS-Hauptsturmführer Fritz Kramer, Birkenau.

Und da war der Stempel in Gerald Mertons britischem Pass, der bewies, dass er zwei Tage zuvor in Orly gelandet und einen Tag nach dem Unfall wieder abgeflogen war.

In der nächsten Meldung ging es um eine Leiche, die im selben Jahr in einem Vorort von Rio erhängt aufgefunden worden war. Tom verglich die Daten, und richtig, »Fernando Matutes« war vier Tage vorher in Brasilien eingetroffen und am Tag der Erhängung abgereist. Der Passstempel bewies, dass er von Brasilien geradewegs nach Argentinien geflogen war, gerade rechtzeitig, so schien es, für einen rätselhaften Verkehrsunfall, der sich zwei Tage später ereignen sollte – und der dazugehörige Zeitungsbericht lag sorgsam aufbewahrt in dem Karton.

Eine Explosion in einem Wohnhaus in Lille, ein gescheiterter chirurgischer Eingriff in einem Münchener Krankenhaus – jedes Mal fand Tom einen Einreisestempel, der dazu passte. Es gab Berichte über Männer, die bei Autounfällen ums Leben gekommen waren, manchmal im Abstand von nur wenigen Monaten. Einen hatte man tot in der Gosse gefunden. Die Bleistiftanmerkung identifizierte ihn als Hans Stuckart, Innenministerium. In einer Meldung aus dem Jahr 1953 hieß es, die Polizei sei ratlos im Fall eines Autofahrers, der lebendig verbrannt war, als sein Wagen sich nach einem sehr selten vorkommenden Versagen der Lenkung auf der Autobahn überschlagen hatte. Handschriftlich war der Name des Verunglückten dazugesetzt worden: Otto Betz, deportierte Juden aus Frankreich.

Jetzt sah Rebecca selbst die nächsten Ausschnitte durch; schnell drehte sie einen nach dem andern um, nach Daten geordnet. Nach den Jahren 1945 und 1946 kam ein Sprung nach 1952, und vor dem letzten Ausschnitt – Winnipeg Free Press, Anfang der sechziger Jahre – war wieder eine Lücke. Hier wurde der Tod eines estnischen Einwanderers gemeldet, der in seinem Haus erhängt aufgefunden worden war. Die Polizei hatte nicht weiter ermittelt. Die Bleistiftnotiz identifizierte den Selbstmörder als Alexander Laak, Kommandant des KZ Jägala in Estland.

Schweigend legte Tom jeden Zeitungsartikel in einen Pass und neben die Seite mit dem entsprechenden Datumsstempel. Schließlich hatte er fast drei Viertel der Meldungen einsortiert; nur der kleine Stapel deutschsprachiger Artikel aus dem Jahr 1945 war noch übrig.

»Rebecca, welche Sprachen beherrschte Ihr Vater?«

»Mehrere«, sagte sie leise, und ohne vom Tisch aufzuschauen. »Deutsch, Russisch. Französisch, glaube ich. Vielleicht auch Spanisch.«

Ein Satz aus dem Notizbuch kam ihm in den Sinn. Meine Schwestern und ich gingen zur Schule, und ich fand heraus, dass ich gut Sprachen lernen konnte. Die Lehrerin sagte, ich hätte ein Ohr dafür.

Tom wusste nicht, was er sagen sollte. Erst die Schüsse in New York, und jetzt das: Der Vater, den Rebecca zu kennen geglaubt hatte, war zweimal gestorben.

Sie ließ sich auf einen Stuhl fallen und biss sich so fest auf die Lippe, dass er befürchtete, es könnte bluten.

Er riss den Blick von ihr los. »Hören Sie, Rebecca, es ist –«

»Sagen Sie nichts.«

»Ich weiß nicht, was wir noch –«

»Ich brauche Zeit zum Nachdenken.«

Tom zog sich zurück; er legte die Papiere auf dem Tisch zusammen und packte sie zurück in den Karton.

Schließlich stand Rebecca auf, nahm den Karton mit der Hinterlassenschaft ihres Vaters und ging hinüber zu Julian. Tom sah, wie sie ihm den Karton zurückgab und ihn dann anscheinend um einen Gefallen bat. Julian kritzelte eine Nummer auf einen Zettel, drückte ihr einen Kuss auf die Wange und verabschiedete sich von ihr. Tom lief ihr nach, als sie zur Tür hinaus und auf die Straße ging. Er fühlte sich wie ein Hündchen an der Leine.

»Wohin gehen wir jetzt?«

»Zu dem Mann, der vielleicht die Wahrheit über meinen Vater kennt.«