Einen Augenblick, vielleicht zwei Herzschläge lang, war es totenstill. Dann brach der Lärm aus. Geschrei natürlich – als Erstes heulte ein Mann in einer Sprache, die nur wenige um ihn herum verstanden –, und dann das Kreischen von drei Frauen, die für ein Foto vor einer Pop-Art-Skulptur posiert hatten, einer Pistole, deren Lauf zu einem Knoten verschlungen war. Sie hatten sich zu Boden fallen lassen, und eine Zeitlang hatte die Angst ihnen die Kehle zugeschnürt, aber jetzt gellte sie aus ihnen hervor wie Glockenschrillen. Bald wurde überall geweint und geschrien, und mitten darin, kaum hörbar, war die Stimme eines Mannes, der einen menschlichen Knochensplitter vor seinen Füßen betrachtete und in seiner eigenen Sprache murmelte: »Gütiger Gott!«

Ein paar Leute im Foyer gerieten in Panik, und einer löste den Feueralarm aus. Die übrigen erinnerten sich, worauf sie gedrillt waren. Sie verließen ihre Posten an den Durchleuchtungsgeräten, rannten zu den Eingangstüren und bauten sich dort mit gezückten Pistolen auf. Das Hauptquartier der Vereinten Nationen wurde abgeriegelt.

Felipe Tavares sah sich jetzt von zwei Kollegen flankiert; sie führten ihn von der Leiche weg, die noch unbedeckt und unberührt am Boden lag. Tavares plapperte fieberhaft; er redete von den Männern, die er vor dem Gebäude gesehen hatte, und beschrieb das Entsetzen in ihren Gesichtern. Die beiden Officer spähten hinüber, aber da war niemand zu sehen.

Bald wurde es noch lauter. Weniger als neunzig Sekunden nach den Schüssen kamen die ersten von vierzig Streifenwagen des NYPD mit blitzenden Lichtern und heulenden Sirenen auf die UN-Plaza gerast. Das war die »Welle«, die sie nach 9/11 fast ein Dutzend Mal geübt hatten: Die ganze Macht des New York Police Department strömte innerhalb von kürzester Zeit an einer bestimmten Stelle zusammen. Sondereinsatzkommandos sprangen aus mehreren Wagen; gepanzert mit Kevlar-Westen, bewaffnet mit Sturmgewehren, stürmten sie vorwärts wie GIs an der Küste der Normandie. Bald hatten sie den ganzen UN-Komplex umzingelt und richteten ihre Waffen auf die verängstigten Männer und Frauen im Innern.

Die First Avenue war frei von Verkehr; Polizisten mit 50-mm-Maschinengewehren hatten die Straße im Norden und im Süden, von der 30th bis hinauf zur 59th Street gesperrt. Das UN-Hauptquartier lag jetzt im Zentrum einer »sterilen Zone«, die sich über dreißig Blocks erstreckte. Da die First Avenue eine Hauptverkehrsader für die östliche Hälfte Manhattans war, brach mit Sicherheit bald der Verkehr in ganz New York zusammen.

In der Luft schwebten vier Agusta-A119-Hubschrauber des NYPD, ausgerüstet mit hochauflösenden »Superspion«-Wärmebildkameras, und sie sicherten ein sofort eingerichtetes Überf lugverbot über der gesamten Gegend. Gleichzeitig verließen auf dem East River die Polizeiboote ihre Stützpunkte in Frog’s Neck, Brooklyn und am Ufer von Queens. Niemand konnte jetzt noch den Komplex der Vereinten Nationen betreten oder verlassen, weder zu Lande noch zu Wasser.

Wenig später erschien der Chief of Detectives des NYPD mit Blinklicht und Sirene. Zu seiner Genugtuung war er noch vor dem Polizeichef, Commissioner Charles »Chuck« Riley, an Ort und Stelle, dessen Kolonne samt Motorradeskorte erst ein paar Augenblicke später anrollte. Beide nickten zufrieden, als sie sahen, dass das Gelände bereits vollständig abgeriegelt war. Wie ihre Referenten der Presse von jetzt an den ganzen Tag mitteilen würden, hatte ein mutmaßlicher Terroranschlag auf eines der »hochrangigen Ziele« der Stadt stattgefunden, und New York hatte »sofort und mit tödlicher Entschlossenheit« gehandelt.

Aber als die beiden jetzt aus ihren Wagen stiegen und einander die Hand gaben, sahen sie sofort, dass sie vor einem Problem standen. Sie konnten bis an das inzwischen verschlossene Stahltor vor dem UN-Gebäude herangehen, jedoch keinen Schritt weiter. Sie hatten die Zuständigkeitsgrenze des NYPD erreicht, ja, die Grenze der Souveränität der USA. Sie konnten den beiden Männern im Eingang in die Augen sehen, der eine ein Polizist aus Montenegro, der andere ein Belgier. Der Polizeichef war sich sicher, dass ihre Hände zitterten.

 

Drinnen, im vierunddreißigsten Stock, hörte der Unter-Generalsekretär für Rechtsangelegenheiten den Feueralarm, bevor er irgendetwas anderes bemerkte. Henning Münchau sprang auf und warf einen Blick in sein Vorzimmer: niemand da. Zu früh. Er wählte die Nummer der Security im Eingangsbereich, aber das Telefon klingelte und klingelte, ohne dass jemand sich meldete. Er schaute aus dem Fenster, und einen Moment lang fragte er sich, ob er gleich eine 747 sehen würde, die durch die Luft heranschwebte, größer und tiefer, als sie sein dürfte, und die im nächsten Augenblick die gläserne Haut des UN-Hauptquartiers durchbohren und die achttausend Menschen töten würde, die dort arbeiteten, und dazu eine stattliche Anzahl von Regierungschefs aus der ganzen Welt.

Die Tür flog auf, und sein Stellvertreter, ein Brasilianer, stürzte herein. Er war bleich und konnte kaum sprechen – nicht nur, weil er außer Atem war. »Henning, ich glaube, Sie müssen sofort kommen.«

 

Achtzehn Minuten, nachdem Felipe Tavares seine tödlichen Schüsse abgefeuert hatte, stand Henning Münchau dicht vor der leblosen Gestalt. Noch immer hatte niemand die Leiche angerührt; man hatte nur ein wasserfestes Cape darübergebreitet, denn es regnete noch immer.

Neben ihm stand der Unter-Generalsekretär für Sicherheitsangelegenheiten, sprachlos vor Entsetzen. Sie beide waren soeben kurz über die Sachlage informiert worden; in groben Umrissen hatte man ihnen berichtet, was passiert war. Münchau sah die Diskothek aus blitzenden Lichtern rings um den UN-Komplex und die kleine Armee von NYPD-Personal, die sie umzingelt hatte, und er kam sich vor wie der Bewohner einer mittelalterlichen Burg am ersten Tag einer Belagerung.

Und jetzt sah er auf der anderen Seite des Geländers ein Gesicht, das er kannte und das nur selten einmal nicht auf der Titelseite der Zeitungen zu sehen war. Es war der Mann, den man »The Commish« nannte. Diese juristische Besprechung würde im Freien stattfinden müssen, im Stehen und im Regen.

»Commissioner, ich bin Henning Münchau, leitender Justitiar der Vereinten Nationen.«

»Freut mich, Sie kennenzulernen, Henning«, sagte der Commissioner, aber sein Gesicht und sein Tonfall vermittelten keine Spur von Freude. »Wie es aussieht, haben wir ein Problem.«

»Das haben wir.«

»Wir dürfen dieses Gelände nicht betreten und auf den Zwischenfall reagieren, solange Sie uns nicht formell darum ersuchen.« Die Sprache war die eines Beamten, der Akzent der eines bodenständigen Südstaatlers.

»Anscheinend haben Sie bereits in ziemlich großem Umfang reagiert, Commissioner.« Münchau war Deutscher, aber sein fast verwirrend flüssiges Englisch hatte einen australischen Unterton sowohl im Klang als auch in der Ausdrucksweise – UN-Gerüchten zufolge ein Vermächtnis seines Dienstes an der UN-Gesandtschaft in Ost-Timor.

Riley zuckte die Achseln. »Wir dürfen das Gelände ohne Ihre Zustimmung nicht betreten. Und ich nehme an, Sie verfügen nicht über die nötigen Ressourcen für den Umgang mit einem Terror-Zwischenfall.«

Henning bemühte sich, seine Erleichterung zu verbergen. Das NYPD wusste noch nichts von dem Toten. Das gab ihm etwas Zeit.

»Sie haben ganz recht.« Münchau spürte plötzlich, wie merkwürdig es war, im Regen durch ein Metallgitter zu sprechen – wie bei einem Gefängnisbesuch unter freiem Himmel. Er beneidete den Commissioner um seinen Schirm. »Aber ich glaube, wir müssen uns über ein paar Bedingungen einigen.«

Der Polizist lächelte matt. »Schießen Sie los.«

»Das NYPD kommt herein, aber nur auf Ersuchen und innerhalb des Ermessensspielraums der Vereinten Nationen.«

»Kein Ermessensspielraum. Wenn Sie uns reinlassen, ist es unsere Ermittlung. Alles oder nichts.«

»Okay, aber nichts von dem da.« Er deutete auf die Sondereinsatzkommandos mit ihren schussbereiten Sturmgewehren. »Das sind nicht die Methoden der UN. Wir sind hier nicht in Kabul.« Münchau sah, dass Riley sich die Nackenhaare sträubten, und gleich ging er noch einen Schritt weiter. »Und auch nicht in Bagdad.«

»Okay, also mit minimaler Machtdemonstration.«

»Ich rede von einem oder zwei Bewaffneten als Begleiter Ihrer Detectives.«

»Okay.«

»Und bei Ihren Ermittlungen wird ständig ein UN-Vertreter anwesend sein.«

»Ein Vertreter?«

»Ein Jurist. Aus meinem Team.«

»Ein Jurist? Herrgott –«

»Das sind die Bedingungen.«

Münchau sah, dass der Commissioner seine Optionen überdachte, doch ihm war klar, dass er kaum nein sagen konnte. Bei einem mutmaßlichen Terroranschlag in New York musste das NYPD einbezogen werden. Der Commissioner konnte sich nicht vor die Fernsehkameras stellen und erklären, das Police Department sitze die Sache aus – ganz gleich, mit welcher Begründung. Das wusste Münchau: Riley würde innerhalb der nächsten Stunde im Fernsehen erscheinen und den New Yorkern versichern wollen, er habe alles im Griff.

Jetzt rollte eine schwarze Limousine an, begleitet von einem weiteren Bataillon von Blinklichtern und Sirenen. Dahinter kamen zwei TV-Satelliten-Übertragungswagen, offensichtlich mit einer speziellen Anfahrterlaubnis. Der Bürgermeister war da.

»Okay.« Der Commissioner warf einen Blick über die Schulter. »Einverstanden.«

Münchau streckte die Hand durch das Gitter, und der Polizeichef drückte sie hastig. Münchau nickte dem UN-Posten am Tor zu, und der fummelte am Schloss herum, bis er es geöffnet hatte.

Münchau sah den Fernsehreporter, der auf ihn zukam, und sprach absichtlich lauter: »Mr.Commissioner, willkommen bei den Vereinten Nationen.«