Aron ging also zu diesem jungen Wissenschaftler. Er hieß Eliezer, und er nahm die Mitteilung in Empfang, wie ein Apotheker ein Rezept entgegennimmt. Er las sie schnell und sah Aron an. Dann las er noch einmal und noch einmal. Schließlich sagte er: »Das wird eine Weile dauern. Du hörst von mir, wenn es so weit ist.«

Ich weiß nicht, was Aron tat, während er wartete. Ich male mir gern aus, wie er durch das Land streifte, das damals Gestalt annahm. Ich stelle mir vor, wie er am Strand in Tel Aviv sitzt, mit einem Eis in der Hand. Wie er an einem Stand an einer Straßenecke in Jaffa Falafel kauft. Oder mit den Händen über die blassgoldenen Steine des antiken Jerusalem streicht. Aber solche Dinge hätten ihn von seiner Aufgabe abgelenkt. Wahrscheinlich ließ er nicht zu, dass er Glück und Freude empfand, während andere so viel Schmerz erlitten hatten – zumindest nicht, solange dieser Schmerz nicht gerächt worden war. Und vor allem habe ich den Verdacht, er befürchtete, wenn er nur eine Stunde des Behagens zuließe, könnte seine Entschlossenheit schwinden. Sein Wille könnte erlahmen, und dann könnte er das Massenschlachten nach Tochnit Aleph nicht mehr durchführen.

Deshalb nehme ich an, er traf sich lieber mit weiteren Führern des kommenden Judenstaats, noch immer in dem schwarzen Anzug und dem weißen Hemd Europas. Nicht nur sein Charakter bringt mich zu dieser Annahme. Ich weiß auch, was als Nächstes geschah.

Es vergingen ungefähr vierzehn Tage, und dann traf Aron wieder mit Eliezer zusammen. Der junge Chemiker übergab ihm Kanister mit einem Toxin, Stahlflaschen in einem schützenden Netzgewebe, die aussahen, als gehörten sie zu einer Campingausrüstung; Aron könnte sie im Rucksack nach Europa bringen.

Mit den Männern des jüdischen Untergrunds hatte er seine Rückreise arrangiert. Er brauchte ihre Hilfe, weil er illegal nach Palästina eingereist war; er besaß nicht die Papiere, die nötig waren, um im Hafen durch die britischen Kontrollen zu kommen und an Bord eines Schiffes zu gehen. Im Untergrund erfuhr er von den britischen Transportschiffen, die von Haifa aus in See gingen. Auf eins davon würde man ihn schmuggeln können – mit gefälschten Papieren, die ihn als einen der »Freien Polnischen Soldaten« auswiesen, die sich damals in Palästina herumtrieben.

Ich sehe Aron auf dieser Seereise vor mir: allein mit seinem Notizbuch, wie er plant und schreibt, während die anderen trinken und singen. Ich sehe, wie er seinen Platz in der jüdischen Mythologie entwirft: Der Schlächter der Deutschen würde er sein, der Rächer der Juden. Jetzt hatte er das mörderische Gift in seinem Gepäck. Ich war in Nürnberg – bereit, die tödliche Flüssigkeit in die Wasserversorgung dieser Stadt einzuleiten. Manik würde das Gleiche in München tun. Tochnit Aleph wäre bald kein Plan mehr, sondern ein herausragendes Ereignis in der Geschichte.

Die Reise war fast zu Ende, das Schiff kurz vor dem Anlegen in Toulon, als Aron den Lärm über sich hörte: schnelle Schritte, kläffende Nachfragen britischer Militärpolizisten, die an Bord gekommen waren. Ob ihm ein Instinkt in der Magengrube sagte, weshalb sie da waren? Ob er wusste, dass sie hinter ihm her waren, als sie polternd die Treppe zum Unterdeck herunterkamen? Darauf wette ich. Griff er nach seinem Rucksack? Was machte er mit den Kanistern?

Sie schleppten ihn ohne weitere Erklärungen von Bord und schoben ihn später nach Ägypten ab, in eine Zelle in Alexandria. Am Ende verlegten sie ihn nach Palästina, in verschiedene Gefängnisse, unter anderm auch in Jerusalem. Aron, unser Anführer, der sich über fünf lange Jahre hinweg vor den Klauen der Nazis geduckt und versteckt, der sich durch die Gassen der Ghettos geflüchtet und in hohlen Baumstümpfen in den Wäldern verkrochen hatte und der niemals je gefasst worden war – Aron war jetzt ein Gefangener.

Die Briten verhörten ihn, aber ihre Fragen waren unbestimmt und ziellos. Er kam bald zu dem Schluss, dass sie nur wenig über ihn oder Tochnit Aleph wussten. Offenbar hatten sie ihn nicht verhaftet, weil sie Beweise gegen ihn hatten, sondern weil jemand ihnen den Hinweis gegeben hatte, Aron stelle eine Bedrohung dar. Aber wer war der Informant?

Ich weiß, dass diese Frage ihm keine Ruhe ließ in den endlosen Tagen und Nächten, die er allein verbrachte – in einer klammen britischen Gefängniszelle in Jerusalem und wie ein gefangener Ritter in einer alten Kreuzritterfestung in Akko. Er muss angenommen haben, er sei von jemandem, dem er vertraut hatte, verraten worden. Im Geiste muss er Listen all derer aufgestellt haben, die von Tochnit Aleph wussten: der Alte, der ihm seinen Segen gegeben hatte, der junge Chemiker, die hochrangigen Untergrund-Führer, die er in jenen letzten Wochen kennengelernt hatte. Was konnten sie offenbart haben? Hatten sie unabsichtlich bei den Briten geplaudert, oder war es bewusst geschehen? Aber warum? Warum sollte ein jüdischer Patriot seinen kühnen Versuch, Gerechtigkeit walten zu lassen, sabotieren?

Hatten die Briten ihre Informationen vielleicht von jemand ganz anderem? Immerhin hatte Tochnit Aleph das Ziel, eine Million Deutsche zu töten. Deutschland hatte den unmittelbaren Nutzen aus Arons Verhaftung. War es denkbar, dass die Briten mit dem Feind unter einer Decke steckten …? Nein, das war ganz ausgeschlossen.

Wir – Rosa, Manik, ich und selbst die DIN-Führer – wussten von all dem natürlich nichts. Wir warteten nur darauf, dass Aron mit dem Gift nach Europa zurückkam. Und schließlich erschien ein Kurier mit einer Mitteilung, die Aron irgendwie aus dem Gefängnis geschmuggelt hatte. Sie lautete: »Bin verhaftet. Daher jetzt Plan B.«