Epilog


 

 

Chromis wurde gebeten, während der Abstimmung nach draußen zu gehen. Nachdem sie ihr Anliegen im Kongressgebäude vorgebracht hatte, war die Dämmerung angebrochen. Obwohl die Sonne immer noch die höchste Spitze des Gebäudes beschien und die Eiskappe in ein grelles Gold tauchte, gingen über den schattigen Fußwegen und Übergängen tief unten bereits die Lichter an. Die warme Brise auf dem Balkon war eine sorgfältig gehütete Fiktion. Es war, als würde der Wind von der tropischen Landschaft zweiundzwanzig Kilometer tiefer heraufwehen und den feinen Duft von Gewürzen aus den Fischerdörfern am Ufer des großen Sees herantragen. In Wirklichkeit jedoch war der Balkon durch eine unsichtbare Hülle aus Femtotechnik vor den atmosphärischen Verhältnissen abgeschirmt. Gleichzeitig schützte der Schild vor nahezu allen denkbaren Attentaten. Es hatte zwar seit dreieinhalbtausend Jahren im Kongress des Lindblad-Rings keinen Mordanschlag mehr gegeben, aber dort draußen trieben sich immer noch radikale Elemente herum. Man musste nur die guten Bürger von Hemlock fragen, wie es war, nachdem die Vögte geschickt worden waren, um die öffentliche Ordnung wiederherzustellen. Chromis fragte sich, wie drinnen die Abstimmung ablaufen mochte. Im Großen und Ganzen hatte sie das Gefühl, dass ihre Ansprache in etwa so gut aufgenommen worden war, wie sie zu hoffen gewagt hatte. Sie war nicht von ihrem Manuskript abgewichen, sie war nicht ins Stocken geraten oder aus dem Rhythmus gekommen. Rotfeder hatte genau im richtigen Moment auf das Stichwort reagiert und seine Rolle mit Überzeugung gespielt. Niemand hatte versucht, sie mit einem anderen, ähnlich überschwänglichen Vorschlag zu übertrumpfen, und keiner ihrer üblichen Feinde hatte Kritik geäußert, während sie sich im Raum aufgehalten hatte. Zweifellos waren sie durch eine gewisse Ehrfurcht zurückgehalten worden. Eine Kritik an Chromis hätte so verstanden werden können, dass man die Wohltäterin des Gedenkens nicht für würdig hielt. Darauf hatte Chromis gebaut, aber sie war dennoch erleichtert.

Andererseits hatte sie auch keine Ovationen erhalten. Noch während sie den Raum verlassen hatte, war die kollektive Stimmung der Delegierten für sie undurchschaubar gewesen. Der Mangel an Fragen oder Widerspruch konnte genauso gut ein Zeichen für gelangweilte Gleichgültigkeit sein. Chromis hoffte, dass es nicht so war. Sie hatte vieles berücksichtigt, aber ihr war nie der Gedanke gekommen, dass der Vorschlag auf den harten Felsen der moderaten Apathie zerschellen mochte.

Nicht zum ersten Mal seit Beginn ihrer Reise nach Neu-Florenz spürte sie die stille Anwesenheit der Wohltäterin, als würde Bella Lind schweigend neben ihr auf dem Balkon stehen, genauso gespannt auf den Ausgang der Abstimmung wartend wie Chromis. Sie vermutete, dass es unmöglich war, sich so intensiv mit einer bestimmten Person zu beschäftigen, ohne dass sie schließlich einen gewissen Grad von Wirklichkeit annahm. Und sie bezweifelte, dass jemand in den Jahrhunderten der Vorbereitungen länger und intensiver als sie über Bella Lind nachgedacht hatte. Einst war die Wohltäterin eine ferne, schemenhafte historische Gestalt gewesen, doch nun war sie eine greifbare Persönlichkeit geworden, von der Chromis den Eindruck hatte, ihr schon bei vielen Gelegenheiten begegnet zu sein. Je stärker dieses Gefühl der Substanzhaftigkeit wurde, desto mehr schwor sie sich, den Geist nicht zu enttäuschen, dem ihre Einbildungskraft Gestalt verliehen hatte.

Über ihr wurden die hellsten Sterne sichtbar. Der Widerschein der Eiskappe vertrieb jede Hoffnung, die Milchstraße sehen zu können, aber Chromis wusste ungefähr, wo sie sich befinden musste. Irgendwo da draußen, dachte sie, wartete Bella.

Hinter ihr öffnete sich die Tür. Sie sah, wie Rotfeder auf sie zukam, um ihr Neuigkeiten zu überbringen. Sie musterte seinen ernsten Gesichtsausdruck und spürte, wie sich ihre imaginäre Gefährtin höflich zurückzog.

»Du hast keine guten Nachrichten, nicht wahr?«

»Es tut mir leid. Es hätte fast geklappt, aber …« Er bot ihr seine Hände an.

»Sag es mir.«

»Dreiundvierzig Ja-Stimmen, neunundvierzig Nein-Stimmen, sieben Enthaltungen.«

»Verdammt.«

»Du hättest es fast geschafft, Chromis. Jedenfalls ist es keine überwältigende Niederlage. Es wird eine neue Chance geben.«

»Ich weiß, aber … verdammt.« Die Enttäuschung kam in langsamen, sanften Wellen, nicht in einem großen, vernichtenden Schwall.

»Du hast das Saatkorn gepflanzt. Jetzt musst du nur hoffen, dass es in ein paar Delegierten keimt.«

»Ich hatte gehofft, sie schon in dieser Runde zu überzeugen, Rotfeder. Ich hätte nicht gedacht, dass es so knapp ausgehen würde. Ich habe mir immer nur eine grandiose Niederlage oder einen totalen Sieg vorgestellt. In beiden Fällen hätte ich dieses Gebäude im Gefühl verlassen können, dass meine Arbeit erledigt ist, um entweder mit hängendem Kopf nach Hause zu fliegen, als tragisch gescheiterte Heldin, oder als Siegerin. Stattdessen stehe ich nun vor diesem schmutzigen Kompromiss.«

»So ist nun mal die Realität«, sagte Rotfeder. »Sie hat schon immer dazu geneigt, epische Momente ins Wasser plumpsen zu lassen.«

»Wie soll ich sie jetzt noch für meinen Plan gewinnen?«

»Mit eisernem Willen und unbeirrbarer Hartnäckigkeit.« Er blickte sie mit entsetzter Verständnislosigkeit an. »Du bist doch nicht diesen langen Weg gegangen, um jetzt einfach aufzugeben, oder?«

»Wahrscheinlich nicht.«

»Die Wohltäterin hätte nicht aufgegeben.«

»Ich weiß.«

Er trat zu ihr an die Balkonbrüstung und nahm sie tröstend in die Arme. »Ich glaube, wir sollten nun an ihre Schuldgefühle appellieren. Es ist schön und gut, wenn du sie darauf hinweist, wie edel und anständig wir uns fühlen werden, wenn wir dein Vorhaben verwirklichen, aber damit wirst du nur ein paar erreichen. Um die anderen zu gewinnen, solltest du betonen, wie die Zukunft uns sehen wird, wenn wir scheitern. Ruf ihnen ins Gedächtnis, dass es nach historischem Ermessen eines Tages keinen Kongress des Lindblad-Rings mehr geben wird, sondern nur noch Dokumente unserer Entscheidungen.«

Vielleicht war es nur eine kurze Fluktuation in der femtotechnischen Blase, die den Balkon abschirmte, aber Chromis hätte schwören können, dass sie den Hauch der realen abendlichen Kühle auf ihrer Haut spürte.

»Das käme der Ketzerei ziemlich nahe, Rotfeder – vor allem, wenn wir uns eigentlich auf die Feier unserer Dauerhaftigkeit vorbereiten sollen.«

»Zehntausend Jahre sind nur ein Steinchen, das wir in den Canyon der Ewigkeit werfen, Chromis.«

»Schon gut. Ich werde mit ihren Schuldgefühlen arbeiten.«

»Gutes Mädchen. Und du solltest dir überlegen, jemanden anderen anzusprechen, der beim nächsten Mal deinen zahmen advocatus diaboli spielt. Ich würde die Rolle gerne wieder übernehmen, aber ich glaube kaum, dass man uns dieses kleine Spielchen ein zweites Mal abnimmt.«

»Wahrscheinlich hast du Recht.«

»Kopf hoch. Trotz allem hast du dich hervorragend geschlagen.«

»Meinst du?«

»Auf jeden Fall. Ich bin überzeugt, dass du bereits ein paar Konkurrenten aus dem Rennen geworfen hast. Dies war das letzte Mal, dass wir etwas von Springbrunnen gehört haben.«

»Das ist doch schon etwas.«

»Das mit der DNS hat großen Eindruck gemacht.«

»Ich habe nachgedacht«, sagte Chromis, als eine Idee in ihren Gedanken Gestalt annahm. »Der Einwand, den du vorbringen solltest, dass eine Kopie in die falschen Hände fallen könnte.«

»Worauf willst du hinaus?«

»Es ist eine gute Vorsichtsmaßnahme, dass sich die Botschaft nur mit der DNS der Wohltäterin entschlüsseln lässt. Außerdem hätte ich dann den weiten Weg zum Mars nicht umsonst unternommen. Aber wir könnten noch eine zusätzliche Sicherung einbauen.«

»Sprich weiter«, forderte Rotfeder sie auf.

»Ich finde, die Kopie der Botschaft – welche Form sie auch immer annehmen wird – sollte in der Lage sein, selbst zu entscheiden, ob sie ihren Inhalt offenbaren möchte oder nicht. Dazu wäre ein gewisser Grad von Intelligenz nötig, um die Feinheiten menschlichen Verhaltens erkennen zu können. Dann könnte die Kopie ihre Entscheidungen an der Situation orientieren, die sie vorfindet.«

»Mit anderen Worten, sie selbst sollte so etwas wie ein menschliches Wesen sein.«

»Das liegt im Rahmen unserer Möglichkeiten, Rotfeder. Wenn ich es genauer betrachte, wäre es eine geradezu sträfliche Nachlässigkeit, die Kopien der Botschaft nicht mit intelligenten Bewusstseinen auszustatten.«

Rotfeder dachte längere Zeit darüber nach, während Chromis beobachtete, wie sich die Schatten unter ihnen in ein tiefes, geheimnisvolles Dunkelrot verwandelten. Immer mehr Siedlungen leuchteten nun in der Abenddämmerung, und kleine Boote fuhren über den See, hell und farbenfroh wie Papierlaternen.

»Ich glaube, ich muss mich deiner Meinung anschließen«, sagte er. »Aber es gibt da einen offensichtlichen Stolperstein: Wer würde sich einverstanden erklären, seine Persönlichkeit in eine Milliarde Flaschen kopieren zu lassen, wie eine billig produzierte Massenware?«

»Ich bin überzeugt, dass sich ein Freiwilliger finden wird.«

Er nickte wissend. »Und ich wette, du hast schon einen Kandidaten im Sinn.«

»Darüber mache ich mir Gedanken, wenn ich gewonnen habe.«

»Vergiss nicht: Spiel mit ihren Schuldgefühlen. Das funktioniert immer. Das hätte mir schon viel früher einfallen können.«

»Vielleicht hätte es geholfen, Rotfeder. Dann hätten wir heute Abend wenigstens feiern können.«

»Ach, das sollte uns nicht davon abhalten, es trotzdem zu tun. Wir können immer noch feiern, dass wir nicht von einer überwältigenden Mehrheit abgewiesen wurden.«

Sie lächelte, als ein Teil ihrer früheren guten Laune zurückkehrte. »Mir ist jeder Vorwand recht.«

Er blickte hinab zu den Siedlungen am Seeufer. »Ich weiß sogar schon einen tollen Laden – wir könnten uns jetzt gleich von einer Transithaube hinbringen lassen, wenn du möchtest.«

»Sollte ich nicht lieber nach drinnen gehen und mich dem Trubel stellen?«

»Würdevolle Stille wäre angemessener. So entfalten die nagenden Schuldgefühle viel besser ihre Wirkung.«

»Wenn du es sagst.«

»Ich weiß es. Jahrelange Erfahrung mit solchen Situationen.« Rotfeder schloss die Augen, um zwei Transithauben zu rufen. In Kürze würde die Femtotechnik in ihrer Umgebung einen kleinen Teil von sich abstellen, um die zwei Freunde sicher zu transportieren.

»Hast du das ernst gemeint«, fragte Chromis, während sie warteten, »dass der Kongress nicht für die Ewigkeit gemacht ist?«

»Wie ich bereits sagte, zehntausend Jahre sind eigentlich gar keine lange Zeit. Ich bin mir sicher, dass auch die Spicaner gedacht haben, sie würden ewig leben. Aber eines Tages wird mit uns das Gleiche geschehen. Wir werden verschwinden, und etwas anderes wird an unsere Stelle treten.«

»Etwas Menschliches?«

»Nicht unbedingt.«

Die Hauben trafen ein und umkreisten sie wie eine Schar schwarzer Motten, bis sie ihre endgültige Reisekonfiguration angenommen hatten. Als sie spürten, dass ein Gespräch im Gange war, warteten sie diskret einen Moment ab, die beiden Menschen vom Balkon fortzubringen.

»Dann wird all das hier«, sagte Chromis und deutete auf die Aussicht vor ihnen, »alles, was wir geschaffen und wofür wir gelebt haben, all die Träume, denen wir Existenz verliehen haben, nicht für immer hier sein? Davon bist du fest überzeugt?«

»Es wäre egozentrisch, etwas anderes zu glauben. Nahezu jedes intelligente Wesen, das jemals gelebt hat, gehörte einer Zivilisation an, die nicht mehr existiert. Warum sollte es mit uns anders sein?«

»Aber unsere Taten werden Bestand haben.«

»Wenn wir Glück haben. Aber die Wahrscheinlichkeit ist hoch, dass auch sie nicht überdauern werden.«

»Das klingt so trostlos, Rotfeder.«

»Eher anregend, würde ich sagen.«

»Aber wenn nichts, was wir tun, eine Garantie auf Dauerhaftigkeit hat, wenn selbst die besten Gesten nur eine winzige Chance haben, uns zu überleben – warum geben wir es dann nicht einfach auf?«

»Es gibt zahllose Gründe, nicht aufzugeben«, sagte Rotfeder. »Wir sind hier, und wir leben. Es ist ein wunderschöner Abend, der letzte vollkommene Sommertag.« Er drehte sich um und nickte den wartenden Hauben zu. »Jetzt lass uns gehen und das Beste daraus machen, solange es geht.«