Zweiundzwanzig


 

 

Die Gestalt im Raumanzug stand am oberen Ende der Rampe, die vom kerzenleuchterförmigen Schiff nach unten führte. Bei maximaler Vergrößerung zeigte die Kamera Details des Anzugs, aber hinter der spiegelnden Scheibe des Helms war kein Gesicht zu erkennen.

Der Anzug hatte keine Ähnlichkeit mit denen, die an Bord der Rockhopper benutzt worden waren, aber er hatte etwas eindeutig Menschliches, auch wenn Svetlana es nicht recht benennen konnte. Die blassgraue Oberfläche war an manchen Stellen elastisch und wirkte an anderen solide wie eine Ritterrüstung. Es gab keine Nähte oder Gelenkverbindungen. Der Helm, die Handschuhe und der Brusttornister waren Teile des Ganzen, als wäre der Anzug in einem Stück fabriziert worden. Es gab keine scharfe Trennung zwischen dem Visier und dem Rest des Helms, sondern nur einen sanften Übergang.

Die Gestalt setzte sich in Bewegung. Zuerst wirkte der Gang steif und unkoordiniert, als wäre es eine Puppe, die von einer unsichtbaren Hand gelenkt wurde. Ein paarmal schien sie zu zögern oder beinahe zu stolpern, aber mit jedem Schritt wurden die Bewegungen der Gestalt sicherer und flüssiger. Auf der Hälfte der Rampe marschierte sie bereits mit zielstrebigen Schritten. Die Finger hielten keinen Moment still, ständig schlossen und öffneten sie sich.

Die Gestalt erreichte das untere Ende der Rampe und trat auf den Eisernen Himmel. Kurz hielt sie inne und drehte den Oberkörper, um zum Schiff zurückzublicken, aus dem sie gekommen war. Dann setzte sie den Marsch in Richtung des Loches fort und blieb an der Kante stehen. Sie ging zur Kamera, die ihren Weg verfolgt hatte, griff danach und löste das Gerät vom Geckoflex. Sie streckte die Kamera auf Armeslänge aus und zeigte auf ihren Kopf, doch es war immer noch nicht mehr zu sehen als die Spiegelfläche der Helmscheibe.

Die Gestalt befestigte die Kamera wieder auf dem Geckoflex und entfernte sich aus dem Blickfeld. Das Fenster in Svetlanas Helmdisplay schaltete auf eine andere Kamera um, die unter dem Himmel montiert war und durch das Loch nach oben schaute. Die Gestalt war über die Kante gestiegen und kletterte nun an der glatten Wand hinunter, wo der Himmel durchbohrt worden war. Sie hielt sich nur mit den Finger- und Stiefelspitzen fest. Die Bewegungen waren sicher, aber ohne erkennbare Eile. Bald hatte sie die innere Seite des Himmels erreicht und hing für eine Minute kopfüber da, genauso reglos wie kurz nach dem Verlassen des Schiffes. Dann ließ sie sich fallen.

Mit der üblichen widerwilligen Trägheit aller fallender Objekt auf Janus gewann sie Geschwindigkeit. Nachdem sie auf zwanzig oder dreißig Meter pro Sekunde beschleunigt worden war, blieb das Falltempo konstant. Langsam drehte sich der Anzug um einhundertachtzig Grad, sodass er den Rest der vertikalen zwanzig Kilometer bis Underhole mit den Füßen voran zurücklegte. Dann verlangsamte die Gestalt auf irgendeine Weise ihre Geschwindigkeit, bis sie sanft auf dem Eis landete.

Sie schritt zur Hauptkuppel von Underhole und klopfte an die Außentür der Luftschleuse. Niemand hörte das Klopfen, aber zu diesem Zeitpunkt gab es kein Helmdisplay und keinen Flextop, der die Gestalt im grauen Anzug nicht verfolgte.

Sie wartete, dann hob sie die Hand und klopfte noch einmal an.

»Was machen wir jetzt?«, fragte Denise Nadis mit hysterischem Unterton. »Sie will hereinkommen!«

»Dann lasst sie hereinkommen«, sagte Svetlana über die Sprechverbindung nach Crabtree. »Lasst sie eintreten und sagt ihr, dass sie auf mich warten soll. Ich bin schon unterwegs.«

 

Nadis empfing Svetlana, Parry und Axford in der Luftschleuse, als sie ihre Helme abnahmen. Während des Fluges von Crabtree nach Underhole hatten sie die Verbindung zur Crusader verloren, sodass Svetlana keine Ahnung hatte, was seit dem letzten Gespräch geschehen war.

»Wir haben es die ganze Zeit kaum gewagt, uns zu räuspern«, sagte Nadis, die den Eindruck erweckte, als würde sie all ihre Kraft benötigen, um sich zusammenzureißen. »Seit wir die Gestalt hereingelassen haben, hat sie nichts anderes getan, als am Tisch zu sitzen.«

»Sie hat keinen Versuch unternommen, mit euch zu kommunizieren?«

Nick Thale stand hinter Nadis und stocherte mit einer Gabel in den Resten einer Mahlzeit herum. Nach einer Woche in Crabtree war er im Zuge der Rotation gerade nach Underhole zurückgekehrt. »Nicht von sich aus. Aber wir haben uns auch keine besondere Mühe gegeben. Wir dachten, dass wir lieber warten, bis du da bist.«

»Ich glaube, wenn sie uns Schaden zufügen wollte, hätten wir es inzwischen bemerkt«, sagte Parry.

»Dieses Wesen ist mir unheimlich«, sagte Nadis flüsternd. »Mehr muss ich darüber nicht wissen.«

Die Gestalt im grauen Anzug hatte sich an das Kopfende des Konferenztisches gesetzt und die Arme auf das Wangholz gelegt, sodass sich die Fingerspitzen fast berührten. Sie trug immer noch den Helm. Der Anzug gab ein schwaches, rhythmisches Pfeifen von sich, obwohl es keine sichtbaren Lüftungsöffnungen gab.

»Darin befindet sich eindeutig etwas Lebendiges«, sagte Axford und schob die Reste der Folienmahlzeiten zur Seite, um auf dem Tisch Platz für seinen Arztkoffer zu schaffen.

»Aber es gibt keine sichtbaren Diagnoseanzeigen am Anzug«, sagte Thale.

Svetlana hatte erwartet, dass der Anzug aus der Nähe etwas mehr von seinem Geheimnis preisgab, aber er war genauso nahtlos und undurchschaubar wie auf den Kamerabildern. Zögernd berührte sie den Unterarm der sitzenden Gestalt. Das blassgraue Material hatte etwas von der neoprenartigen Glätte feuchter Delfinhaut. Als sie mit dem Finger dagegendrückte, leistete es ein wenig Widerstand und gab dann unter dem Druck nach. Sie kratzte mit einem Fingernagel daran, doch es blieb keine Spur zurück.

Sie setzte sich gegenüber der Gestalt an den Tisch. Parry stand hinter ihr und hatte ihr beruhigend eine Hand auf die Schulter gelegt. Axford hatte seinen Arztkoffer geöffnet, aber bislang noch keins seiner Instrumente herausgeholt.

»Es ist Jim, nicht wahr?«, sagte sie und starrte auf ihr Spiegelbild in der schwarz glänzenden Helmscheibe. »Ich vermute mal, dass du mich hören kannst, also … willkommen zurück, Jim. Es ist gut, dass du wieder bei uns bist.«

Die Gestalt sprach mit einer verstärkten Stimme, die an Jim Chisholm erinnerte. »Hallo, Bella.«

Svetlanas Kehle schnürte sich zusammen. »Es ist nicht …«, begann sie, doch Parrys drückte ihre Schulter, um sie zu warnen, der Gestalt nicht zu widersprechen. »Hallo«, sagte sie.

Die Gestalt griff mit beiden Händen nach dem Helm und nahm ihn ab. Er löste sich am Kragen entlang einer unsichtbaren feinen Naht, wie ein Stück Lehm, das in zwei Stücke gerissen wurde. Die Kante war sauber und gerade, als wäre sie mit einem Schwerthieb zerschnitten worden. Die Gestalt legte den Helm auf den Tisch.

Svetlana starrte auf das, was einmal Jim Chisholm gewesen war. Es war sein Gesicht, aber sie musste sich sehr konzentrieren, um sich von dieser Tatsache zu überzeugen. Die Züge waren etwas anders als die, an die sie sich erinnerte, selbst in der Zeit kurz vor dem Ende. Sie waren magerer, und die Haut war so straff über den Schädel gespannt, dass sie die Strukturen der darunter liegenden Knochen erkennen konnte. Kein Haar, nur eine dünner Überzug aus Stoppeln. Auch kein Gesichtsausdruck, außer einer Art benommener Verständnislosigkeit.

»Es ist gut, dass du wieder da bist«, wiederholte sie.

Er sah sie mit extrem weit aufgerissenen Augen an. »Ich war eine Weile fort … irgendwo … für lange Zeit.«

»Aber jetzt bist du zurückgekommen«, sagte sie und berührte seinen Handschuh. »Bei uns bist du wieder in Sicherheit.«

»Ich war an einem sehr kalten Ort.«

Svetlana nickte aufmunternd. Also hatte er Erinnerungen, nicht nur an Gesichter (es war verständlich, dass er sie nach so vielen Jahren mit Bella verwechselt hatte), sondern auch an das, was kurz vor dem Ende unter Axfords Obhut mit ihm geschehen war.

»Du warst ein Frostengel«, sagte sie behutsam, »aber jetzt bist du wieder da. Du bist wieder dort, wo dein Zuhause ist.«

»Ich bin froh«, sagte Chisholm.

Parry beugte sich vor und legte sein Kinn auf Svetlanas Schulter. »Hallo, Jim. Erinnerst du dich an mich?«

»Ja«, sagte er. »Ich erinnere mich an dich, Parry.« Dann blinzelte er, als müsste er sein Sichtfeld klären. »Aber du bist älter. Was ist mit dir geschehen?«

»Das Gleiche, was mit uns allen geschehen ist«, sagte Parry. »Außer mit dir, Jim. Du hast das große Los gezogen. Du hast geschlafen.«

»Mit Engeln geschlafen«, sagte Chisholm.

»Hallo, Jim«, sagte Axford. »Erinnerst du dich an mich? Ich war dein Arzt. Und dein Freund. Wir haben viel Zeit miteinander verbracht, uns unterhalten, Musik gehört. Du hast mir beigebracht, Mingus zu hören … Dinge in seiner Musik zu entdecken, die mir ansonsten niemals aufgefallen wären. Dafür bin ich dir immer noch dankbar.«

»Ryan«, sagte Chisholm und riss wieder die Augen auf. »Auch daran erinnere ich mich … Mingus. Ein Ozean aus Mingus. Bird Calls. Ozeanisch. Aber das alles war …« Er wandte den Blick ab, als hätte er etwas Beschämendes gesehen. »All das ist schon so lange her. Wie kannst du dich jetzt noch daran erinnern?«

Axford hatte einen Augenspiegel aus seinem Arztkoffer genommen. »Jim, hast du etwas dagegen, wenn ich mir deine Augen ansehe?«

»Nein … bitte«, sagte er mit beinahe kindlicher Bereitwilligkeit.

Axford trat näher an Chisholm heran und zog vorsichtig mit den Fingern einer Hand die Haut um Chisholms linkes Auge auseinander. Mit der anderen Hand leuchtete er hinein. Zuerst blinzelte das Auge, dann blieb es ruhig. Axford sah sich auch das andere Auge an, dann schaltete er den Augenspiegel aus und drehte sich zu Svetlana um.

»Ich kann nur eine vorläufige Diagnose stellen«, sagte er, »aber bevor wir Jim verloren haben, erhöhte das Glioblastom den intrakranialen Druck. Das führte zu einer Reihe von externen Symptomen, darunter auch die Kopfschmerzen und die Übelkeit, unter denen Jim litt. Und ein Papillenödem, eine Aufwölbung der Netzhaut. Aber davon ist nun nichts mehr zu erkennen. Die retinalen Blutgefäße pulsieren normal, die Stauung des blinden Flecks ist verschwunden. Vielleicht ein paar alte Netzhautblutungen, aber nichts aus neuerer Zeit – nichts, was er selbst bemerken würde.«

»Was willst du damit sagen?«, fragte sie.

»Ich muss erst richtige Tests in Crabtree durchführen – Blutspiegel, Tomografien –, aber es sieht sehr danach aus, als hätten sie das Blastom reduziert oder vielleicht sogar entfernt.« Er legte eine Hand auf Chisholms Stirn. »Aber er hat verdammt hohe Temperatur. Ich möchte ihn so schnell wie möglich aus diesem Anzug rausholen und nach Crabtree bringen.«

»Jim«, sagte Svetlana, »erinnerst du dich daran, wo wir sind? Die Welt, auf der wir uns befinden?«

Er legte den Kopf schief, als würde er angestrengt nach einer Antwort suchen. »Janus«, sagte er nach einer Weile.

»Ja«, sagte sie voller Erleichterung. Also konnte sich Chisholm an alles erinnern, vielleicht nicht in sämtlichen Einzelheiten, aber zumindest verfügte er über die grundsätzlichen Fakten. Mit diesem groben Skelett konnte er weiterarbeiten, es mit Fleisch, Struktur und Farbe ausfüllen, falls sein Gedächtnis nicht in der Lage war, das Fehlende zu ergänzen.

»Wie lange schon?«, fragte er.

»Wir sind jetzt seit dreizehn Jahren hier«, sagte sie. »Es ist neun Jahre her, seit du uns verlassen hast.«

Zum ersten Mal zeigte er ein näheres Interesse an seiner Umgebung. Er drehte steif den Kopf und sah sich die Wände und die Decke an. Es schien ihm Mühe zu bereiten, den Hals zu bewegen. »Ist das hier Crabtree?«

»Nein. Wir sind in Underhole – das ist nur ein Beobachtungsposten. Du weißt noch, dass du vom Eisernen Himmel gefallen bist?«

»Ja«, sagte er, als würde die Erinnerung ihn amüsieren. »Der Himmel. Ich bin darauf gegangen.«

»Und dann bist du durch das Loch gefallen, das Aliens hineingebohrt haben, um zu uns zu gelangen.«

»Ich erinnere mich an den Fall.« Er hob die Hand und spreizte die Finger. »Dies ist ein guter Anzug. Besser als die, die wir vorher hatten.« Dann fixierte er Svetlana. »Ich erinnere mich nicht an den Himmel.«

»Er war vorher noch nicht da«, sagte sie. »Die Spicaner haben ihn um Janus errichtet, kurz bevor die Bremsphase begann. Wir glauben, dass es eine Art Schild ist, der uns schützen sollte, während wir langsamer wurden.«

»Wie lange ist es her?«

»Wir haben über ein Jahr unter dem Eisernen Himmel gelebt, Jim. Er hat seinen Zweck erfüllt. Wir sind sicher und unversehrt in der Spica-Struktur eingetroffen. Genauso wie du.«

»Die Spica-Struktur«, sagte er und lächelte.

»Du erinnerst dich daran?« Sie erwiderte das Lächeln. »Das ist gut.«

Chisholms Lächeln entglitt. Seine Stimme wurde wieder monoton und emotionslos. »Ja, ich erinnere mich an die Spica-Struktur.«

»Wir sind jetzt da. Zweihundertsechzig Lichtjahre von zu Hause entfernt … aber wir leben noch. Wir haben es geschafft. Jetzt müssen wir nur noch sehen, wie wir zurückkommen.«

Seine Stimme wurde langsamer. »Ich erinnere mich … ja.«

»Immer mit der Ruhe«, sagte Parry.

»Ich … erinnere …« Dann legte sich ein Schatten über Chisholms Gesicht. Seine Miene kehrte zur absoluten Ausdruckslosigkeit zurück, wie zu Anfang, als er den Helm abgenommen hatte. Es war eher eine Totenmaske als ein Gesicht. Alles andere, der winzige Rest seiner Persönlichkeit, zog sich wieder tief ins Innere zurück. »Tut mir leid.«

Svetlana beugte sich über den Tisch und griff nach seiner Hand. »Alles in Ordnung, Jim. Ich weiß, dass es für dich nicht leicht ist, aber … alles wird wieder gut. Du bist jetzt bei deinen Freunden. Wir werden uns um dich kümmern.«

»Tut mir leid.« Aus seiner Kehle drang ein feuchtes Knacken, als hätte sich eine unsichtbare Garotte um seinen Hals gelegt. »Unendlich leid.«

»Jim …«, sagte sie.

»So leid.«

Chisholm gab plötzlich ein rhythmisches Stöhnen von sich, wie jemand, der in den Tiefen eines Alptraums gefangen war. Seine Atmung ging schwerer, sein maskenhaftes Gesicht verzerrte sich qualvoll. Das Stöhnen wurde zu einem verzweifelten Heulen, wie es Svetlana noch nie zuvor gehört hatte und wie sie es auch nie wieder hören wollte. Die Qual verwandelte sich in Entsetzen, als wäre das Geheul die einzige menschliche Antwort auf die lähmende Last des Wissens, das sich nun in seinem Kopf entfaltete.

Er hörte auf.

Die Stille war schlimmer als die Laute, die er von sich gegeben hatte. Keuchend, das Gesicht feucht vor Schweiß, blickte er die Anwesenden an.

Dann schloss er die Augen, und sein Kopf fiel haltlos gegen den Halsring seines Anzugs.