Neununddreißig


 

 

Svetlana schloss ihre Tochter in die Arme, sobald sie durch die Luftschleuse in die Star Crusader gelangt war. Das Schiff stand noch auf dem Boden, doch der Pilot ließ das Triebwerk die ganze Zeit laufen, um sofort starten zu können, falls die Gravitationsfelder erkennen ließen, dass sie sich verstärkten. Wenn die Schwerkraft drei G überstieg, würde sich das Schiff nicht mehr von der Stelle rühren können.

Im Innern des Beiboots stank es nach Angst und Erschöpfung. Nick Thale zählte die Köpfe durch, um sich zu vergewissern, dass alle siebenundzwanzig Überlebenden aus Neustadt an Bord gekommen waren. Das uralte Beiboot war nicht darauf ausgelegt gewesen, mehr als ein Dutzend Menschen in klobigen Anzügen aufzunehmen, doch in den Jahren seit dem letzten Kometeneinsatz war die Star Crusader ausgeschlachtet und zum reinen Passagiertransporter umgebaut worden. Das war zur Zeit geschehen, als noch Hoffnung bestanden hatte, dass die Perückenköpfe den Menschen erlauben oder sie zumindest nicht aktiv davon abhalten würden, Erkundungsflüge in andere Schächte der Struktur zu unternehmen. Früher hatte die Ausrüstung von DeepShaft einen großen Teil des Innenraums eingenommen – Bohrer, Roboter, Ballast für die Anzüge, Applikatoren für Sprühstein, dekomprimierte und zusammengefaltete Zelte und ein paar praktische Ex-MIRV-Atomsprengköpfe. Nun war das Beiboot mit zusätzlichen Sitzen, Kojen und weiteren Lebenserhaltungssystemen ausgestattet. Obwohl es recht eng wurde, als sie Wang und die anderen an Bord genommen hatten, hörte Svetlana keine einzige Klage.

»Ich dachte schon, du wärst tot«, sagte sie zu ihrer Tochter. »Als es passierte, haben wir nicht daran geglaubt, dass irgendjemand überlebt haben konnte. Ich weiß, ich sollte um die Menschen trauern, die es nicht geschafft haben, aber im Augenblick zählt für mich nur, dass du es lebend überstanden hast.«

»Wir hatten keine Ahnung, was anderswo auf Janus los war«, sagte Emily, während sie sich aus dem Notanzug zwängte. »Wir wussten, dass sich irgendetwas unter Neustadt tat, aber wir dachten, dass es etwas mit dem Unfall zu tun hatte.«

»Teilweise trifft das wahrscheinlich sogar zu. Aber nicht für alles.« Svetlana verspürte die kräftigende Empfindung der Freiheit, als sie die Wahrheit aussprach. »Es war ein Fehler, dass ich mit den Moschushunden verhandelte. Sie haben mich belogen, Emily. Sie haben etwas in Janus deponiert, aber nicht, um wie die Perückenköpfe Energie abzuzapfen, sondern um den Mond explodieren zu lassen.«

Emily schien diese Tatsache ungefragt hinzunehmen. »Was wollten sie damit bezwecken?«

»Sie versuchen, ein Loch in die Struktur zu sprengen. Janus bietet ihnen die Chance, einen Fluchtweg zu öffnen. Sonst müssten sie warten, bis der nächste Mond eintrifft. Und das könnte noch sehr, sehr lange dauern.«

»Und sie waren der Ansicht, dass sie uns diesen Punkt verschweigen müssten?«

»Ich schätze, sie wussten, was wir dazu sagen würden.«

»Aber es wird trotzdem passieren, nicht wahr?«

»Es sieht ganz danach aus. Bella hat den Rat erhalten, alle Menschen zu evakuieren. Alles, was wir geschaffen und erbaut haben, was wir zu unserer neuen Heimat gemacht haben – all das wird heute zu Ende sein.«

»Das kann ich noch nicht verarbeiten. Es kommt zu plötzlich.«

Svetlana küsste Emily auf die Stirn und strich mit einer Hand durch ihr zerzaustes Haar, um es in Ordnung zu bringen. »Wir alle müssen es früher oder später irgendwie verarbeiten.«

»Wo werden wir leben? Wie sollen wir genug Energie finden, um am Leben zu bleiben?«

»Wir müssen einfach irgendeine Möglichkeit finden, genauso, wie es die Perückenköpfe getan haben.«

»Trotzdem werden wir ärmer sein, wenn wir das Einzige verlieren, was wir als Verhandlungsmasse einsetzen können.«

»In diesem Fall werden wir wohl erfahren, wer wirklich unsere Freunde sind.«

»Wie lange dauert es noch, bis alle Janus verlassen haben?«

»Bella hat von Stunden gesprochen. Je früher, desto besser, vermute ich.«

»Und trotzdem seid ihr gekommen, um uns zu retten?«

»Ich hätte dich wohl kaum hier zurücklassen können, nicht wahr?«

»Du nicht«, sagte Emily. »Aber Bella. Warum ist sie zurückgekommen, wenn sie sich mit den anderen hätte in Sicherheit bringen können?«

»Frag sie selbst.« Svetlana blickte über die Köpfe der Evakuierten hinweg und versuchte die kleine Frau ausfindig zu machen, die, wie sie wusste, irgendwo hier drinnen sein musste. Sie konnte sie nirgendwo entdecken und schaute noch einmal genauer hin.

Bella war nicht im Schiff.

»Wo ist sie?«, fragte Svetlana. »Sie hätte mit euch kommen müssen, nachdem sie die letzten Anzüge zu euch gebracht hat.«

»Sie sagte, sie würde nicht auf uns warten, während wir die Anzüge anlegen. Ich bin davon ausgegangen, dass sie vor uns an Bord des Beiboots gegangen ist.«

»Aber sie ist nicht hier. Habt ihr nichts bemerkt?«

Emily zog sich von ihrer Mutter zurück. »Sie hätte überall in diesem Schiff sein können.«

»Sie hält sich nicht auf dem Flugdeck auf. Wo könnte sie sonst sein?«

Emily sah sie beleidigt an. »Mach mir deswegen keine Vorwürfe! Ich musste die ganze Zeit an sechsundzwanzig andere Leute denken.«

»Trotzdem habt ihr Bella irgendwie übersehen.«

Parry kämpfte sich zu ihnen vor und hielt sich an einer Haltestange an der Decke fest. »Wir sind jetzt bereit zum Abdüsen, falls es kein Problem gibt, von dem ich nichts weiß.«

»Bella ist nicht im Schiff«, sagte Svetlana.

Er blickte sich um, und seine Züge verhärteten sich. »Bist du dir ganz sicher?«

»Sie ist nicht an Bord. Sie hat zu Emily gesagt, sie würde vor den anderen Evakuierten im Schiff sein.«

»Wer ist als Erster rübergekommen?«

»Elias Feldmans Sohn. Bella war definitiv nicht bei ihm.«

»Scheiße.« Er machte einen bestürzten Eindruck, als könnte er nicht fassen, dass das Universum ihnen so etwas antat, nach allem, was sie an diesem Tag bereits durchgestanden hatten. »Ihr muss zwischen den zwei Luftschleusen etwas zugestoßen sein.«

»Es war dunkel«, sagte Emily. »Wenn sie gestürzt ist und ein Stück vom Weg entfernt lag, den wir gegangen sind … wir haben uns recht schnell bewegt und der Umgebung nicht viel Aufmerksamkeit geschenkt. Mann, schau mich nicht so an! Niemand hat uns gesagt, dass wir auf sie aufpassen sollen!«

»Immer mit der Ruhe«, sagte Parry. »Niemand macht euch einen Vorwurf.«

»Aber sie macht es«, sagte Emily und sah Svetlana an.

Parry griff nach einem Helm, der in einem Ausrüstungsregal lag. »Ich gehe zurück, um sie zu suchen. Sag dem Piloten, dass er mit dem Beiboot bis zum letzten möglichen Augenblick warten soll. Wenn er verschwinden muss, trage ich Bella bis hinter die Mühlen.«

»Du wirst es niemals durch die halb geöffnete Tür schaffen«, sagte Svetlana. »Ich werde in einem der Notanzüge hinausgehen. Mike hat doch ein paar mehr ins Beiboot gebracht, nicht wahr? Anders schaffen wir es nicht.«

»Keine Chance, Baby. Ich möchte nicht, dass du da draußen in die gleiche Falle tappst wie sie.«

»Wir wissen noch nicht, was passiert ist. Deshalb muss jemand von uns rausgehen und nachsehen. Vielleicht hängt sie nur fest oder hat die Orientierung verloren. In Neustadt kennt sie sich nicht so gut aus wie wir.«

Parry leistete noch einen Moment lang Widerstand, bis er endlich nachgab. »Ich werde den Piloten überreden, dass er noch sechs Minuten am Boden bleibt. Wenn du Bella nach drei Minuten nicht gefunden hast, drehst du um und kehrst zurück. Zu mehr Zugeständnissen bin ich nicht bereit.«

Svetlana zog ihren Chakri-5 aus und legte einen Notanzug an, nachdem er sich entfaltet hatte. Sie kümmerte sich nicht darum, wen sie dabei anrempelte. Sie hörte nicht einmal die mürrischen Kommentare. Knapp zwei Minuten später war sie wieder draußen und suchte nach Bella. Sie ging den Weg zurück, den sie genommen hatten, und stöhnte unter der Anstrengung, sich durch die Zonen mit erhöhter Schwerkraft zu bewegen, ohne darauf zu achten, ob sie die Maschinen mit dem wiederholten Bewegungsmuster provozierte. Sie kehrte in das Verwaltungszentrum zurück, bis zu der verklemmten Tür, die ihr zuvor den Weg versperrt hatte. Doch nun konnte sie sich mühelos hindurchzwängen.

Es dauerte nicht lange, bis sie Bella gefunden hatte. Wie Emily vermutet hatte, lag sie nicht allzu weit von der Route entfernt, die die Überlebenden genommen haben mussten. In der Dunkelheit und ganz darauf konzentriert, sich in Sicherheit zu bringen, überraschte es Svetlana nicht, dass keiner von ihnen die Frau am Boden zwischen den Trümmern des verwüsteten Gebäudes bemerkt hatte. Als Svetlana eine Hand in den Bereich über der gestürzten Gestalt schob, verstand sie sofort, was geschehen war. Die Gravitation war dort wesentlich höher – mindestens drei oder vier Ge. Ein Tritt in diese Einflusszone, und Bella hatte sofort das Gleichgewicht verloren. Sie musste mit verheerender Wucht auf den Boden geschlagen sein. Der Notanzug war nicht dazu konstruiert, sie vor solchen Gefahren zu schützen.

Es kostete Svetlana große Mühe, Bella zurück auf den Weg zu ziehen, ohne selbst in den Einfluss des starken Feldgradienten zu geraten. Doch auch danach war Bella zu schwer, um sie ohne Hilfe tragen zu können. Als sie den Körper endlich durch die verklemmte Tür geschleift hatte, war Svetlanas Erschöpfung so groß geworden, dass ihr Geist bereits in einen anderen Bewusstseinszustand gewechselt war. Anschließend konnte sie sich kaum noch an den Marsch erinnern. Erst viel später erfuhr sie, dass Parry in einem Chakri-5 auf sie gewartet hatte, um Bella und sie in die Star Crusader zu tragen.

Bella war tot. Beim Sturz hatte ein Trümmerstück ihren Schädel durchbohrt.

Doch Svetlana fragte sich, was es bedeutete, auf Janus zu sterben.

 

An Bord des Beiboots bestand Svetlana darauf, dass getan wurde, was getan werden konnte, auch wenn es sich am Ende als sinnlos erweisen sollte. Obwohl Bella schnell gestorben war und durch die Beschädigung ihres Anzugs sämtliche Atemluft entwichen war, musste der Restsauerstoff in ihrem Körper einen schädlichen Zellzerfall ausgelöst haben. Selbst jetzt setzte sich dieser Prozess fort.

Es war wichtig, dass der noch übrige Sauerstoff herausgespült wurde, um die Zellrezeptoren zu blockieren. Es war eher eine Reflexhandlung als eine bewusste Entscheidung, als sich Svetlana durch die Menschen zum nächsten Erste-Hilfe-Koffer drängte und ihn von der Wand riss. Sie öffnete ihn hastig und zerrte das Frostengel-Set heraus, zusammen mit dem kindlich bunten Blatt, auf dem die Gebrauchsanweisung stand. Schon seit Jahrzehnten besaßen sie bessere Methoden, aber die Ausrüstung des Beiboots war augenscheinlich seit der Erstbesiedlung nicht ausgewechselt worden.

Parry griff nach ihrem Arm und hielt ihn behutsam fest. »Es ist zu spät, Baby. Es ist schon zu lange her.«

»Wir können es vielleicht noch schaffen.«

Er redete mit ruhiger Beharrlichkeit auf sie ein. »Für solche Fälle ist die Prozedur nicht gedacht. Mit Frostengel soll Gewebe konserviert werden, bevor es zerfallen kann. Doch hier hat der Zerfall schon begonnen.«

»Dann müssen wir dafür sorgen, dass es nicht weiter fortschreitet.«

»Ich weiß, dass du gerne tun möchtest, was du kannst. Aber diesmal kommen wir zu spät. Das hätte auch Bella eingesehen.«

»Parry!« Ihr platzte der Kragen. »Lass mich los, oder tu irgendwas anderes Sinnvolles!«

»Baby …«

Jetzt brüllte sie ihn an, trotz des Triebwerkslärms laut genug, um alle anderen Gespräche im Schiff zum Verstummen zu bringen. »Parry, hör mir zu, verdammt noch mal! Ich werde Bella Lind nicht sterben lassen! Entweder du hilfst mir, oder du lässt mich in Ruhe weitermachen!«

Er öffnete den Mund, als wollte er etwas erwidern. Doch es dauerte einen Moment, bis er so leise sprach, dass nur sie ihn verstehen konnte. »Was soll ich tun?«

Sie senkte ebenfalls die Stimme. »Hol sie aus dem Anzug, und zwar schnell. Pack sie in einen Hartanzug, damit wir ihn mit H2S fluten können. Aber beeil dich!«

»Gut«, sagte er und tat, was sie von ihm verlangte.

 

Bella lag in Schwefelsulfid, als die Star Crusader in Crabtree landete und die paar übrigen Leute aufnahm, die sich noch nicht mit der Magnetbahn nach Underhole abgesetzt hatten. Alle Menschen – genauso wie die SI-Roboter, die sie zum Beiboot begleitet hatten – trugen irgendetwas bei sich, was sie aus den Arboreten und Aquarien von Crabtree gerettet hatten. Es war armselig wenig – ein paar Zweige aus den Wäldern, ein paar Fische –, aber jeder, der die Stadt verlassen hatte, hatte etwas mitgenommen, häufig auf Kosten persönlicher Besitztümer. Vielleicht war es eine sinnlose Geste, vielleicht ließ sich die Siedlung nie wieder so aufbauen, wie sie gewesen war, aber manchmal war eine Geste immer noch besser als gar nichts, ganz gleich, wie sinnlos sie letztlich sein mochte. Es war nur menschlich, wie Bella gesagt hätte. Die Blätter und Fische waren ein Versprechen, dass es trotz allem, was in den nächsten Tagen oder Wochen geschah, immer noch eine Zukunft geben würde. Sie würden an irgendeinem anderen Ort in der Struktur eine Möglichkeit finden, Crabtree neu zu gründen – oder beim Versuch, es zu tun, sterben.

Doch im Augenblick galt es, wenigstens bis zum nächsten Tag zu überleben.

Als sie landeten, hatte Wang Zhanmin den Schlüssel fertig. Er war immer noch heiß vom subnuklearen Feuer, in dem er geschmiedet worden war. Sie erblickten ihn zum ersten Mal, als die Roboter ihn mit ehrfürchtiger Vorsicht an Bord des wartenden Beiboots brachten. Er sah aus wie eine komplizierte abstrakte Skulptur aus geblasenem Glas, die von einem Wahnsinnigen erschaffen worden war. Das Ding war ungefähr zylindrisch und von der Größe einer Strahlturbine. Es bestand aus verschlungenen Röhren und Flächen, an denen sich das Licht in chromatischen Spektren brach. Trotzdem vermittelte es den Eindruck, dass nicht alles vorhanden war. Spalten und Lücken in der flüchtigen Gestalt schienen auf fehlende Elemente hinzudeuten, wie ein dreidimensionales Puzzle, in dem einige Teile fehlten. Erst später wurde Svetlana klar, dass das Artefakt der Flüsterer aus zwei Arten von Materie zusammengesetzt war. Die scheinbar fehlenden Teile waren tatsächlich vorhanden und mit gravomagnetischen Kopplungsfeldern und energetischen Überbrückungen ins Ganze integriert. Sie überschnitten sich teilweise, aber nicht vollständig mit dem Raumvolumen, das die sichtbaren Teile einnahmen. Der Schlüssel war mindestens doppelt so komplex, wie es den Anschein hatte. Die Flüsterer hätten nur die andere Hälfte der Maschine gesehen und sich über die geisterhaften Teile gewundert, die von der menschlichen Seite der Materiekluft in ihr Universum ragten.

»Ich hatte mit Bella gerechnet«, sagte Wang ohne erkennbare Verbitterung, als Svetlana ihn nach dem Schlüssel ausfragte.

»Bella ist tot«, sagte sie. Als sie die Worte aussprach, hatte sie einen widerlichen Geschmack im Mund, wie etwas, das man lieber ausspuckte.

»Lässt sie sich retten?«

»Ich weiß es nicht.« In diesem Moment kam ihr zum ersten Mal der Gedanke, dass Parry vielleicht doch Recht haben könnte. »Wir haben sie eingefroren … wir haben alles getan, was auch Axford hätte tun können. Vielleicht ist es immer noch besser als gar nichts.«

»Es gab Zeiten, in denen du dir ihren Tod gewünscht hast«, sagte Wang, worauf sie nur nicken konnte, da sich diese Wahrheit nicht abstreiten ließ. »Aber diese Zeiten sind vorbei«, fügte er hinzu.

»Richtig«, stimmte sie ihm leise zu.

Sie verließen Crabtree, hoben mit geringer Beschleunigung vom Landeplatz ab, um den zerbrechlich wirkenden Schlüssel nicht zu beschädigen, bevor er sicher verstaut worden war. Durch ein gepanzertes Bullauge des Beiboots sah Svetlana zu, wie die Siedlungen unter ihnen zurückfielen. Vom Habitat bis zu den abgelegenen Vorstadtkuppeln brannten die Lichter von Crabtree, als würden dort immer noch Menschen leben. Es wäre eine sinnlose Zeitverschwendung gewesen, die Energieversorgung der Stadt herunterzufahren, wenn man ihr wahrscheinliches Schicksal bedachte. Aber für Svetlana fühlte es sich irgendwie falsch an. Es hatte beinahe etwas Respektloses, auf diese Weise von Crabtree zu flüchten. Nach all den Jahren, in denen sie dort Schutz gefunden hatten, machte es den Eindruck, als hätten die Menschen plötzlich genug und würden die Siedlung aus einer Laune heraus im Stich lassen, als würden sie sich heimlich davonstehlen, damit die Stadt nichts bemerkte. Die Lebenserhaltungssysteme liefen weiter, obwohl sich dort kein einziger menschlicher Bewohner mehr aufhielt. Es hätte irgendeine Zeremonie geben sollen, einen Abschied, bei dem sich alle Kolonisten noch einmal umdrehen konnten, um sich für die Zeit zu bedanken, bevor sie Janus für immer verließen.

Selbst nach den vielen Jahren kam es Svetlana vor, als würde sie sich erst im Moment des Abschiedes in Crabtree heimisch fühlen.

Sie flogen direkt zum Loch, das die Moschushunde in den Eisernen Himmel gebohrt hatten und wechselten dort auf die andere Seite. Sie überquerten einen Ozean aus schwarzer spicanischer Substanz, bis die Reste der Botschaft der Perückenköpfe in Sicht kam – zwanzig Kilometer über Underhole. Gelegentlich leuchtete die schwarze Oberfläche sichtbar auf. Aus der Richtung des Tors drangen immer wieder vereinzelte Emissionen aus der angrenzenden Röhre bis nach Janus vor.

Sie landeten neben der Botschaft und benutzten die einzige noch vorhandene Andockverbindung ins Gebäude der Perückenköpfe. Die Säulen, die den Eisernen Himmel stützten, schienen einen Teil der Janus-Beben abzufangen, aber trotzdem wurde das Schiff leicht erschüttert.

»Es wird da unten nicht ruhiger«, sagte Nick Thale, nachdem er mit seinem Flextop die aktuellen Werte abgerufen hatte. »Wenn wir noch im Verteilerkasten wären, könnten wir jetzt nicht mehr starten. Wir sind gerade noch rechtzeitig entkommen.«

Aber in Wirklichkeit waren sie noch nicht entkommen. Hier war es kaum sicherer als innerhalb des Eisernen Himmels. Die Sicherheit war immer noch zweieinhalb Lichtminuten entfernt, in derselben Richtung, wo die Schlacht tobte.

»Wie steht es um die übrigen Evakuierten?«, fragte Svetlana.

»Nach Jims Angaben sind dreihundertfünfzig bereits zum Tor unterwegs, einige in Fahrzeugen der Perückenköpfe, der Rest hat sich in die Avenger gezwängt. Wir sollten ihnen folgen.«

»Wir werden auf Jim warten«, sagte Svetlana.

»Ich hatte Kontakt zu ihm. Er sagte, wir könnten ihn in Kürze an Bord erwarten, und wir sollten für einen Gast Platz machen.«

Svetlana ging runter zur Frachtschleuse des Beiboots. Sie traf dort gleichzeitig mit Jim Chisholm ein, der seine Brille abnahm, um das Kondenswasser von den Linsen zu wischen. Er trug keinen Schutzanzug, nur seine gewohnte lockere, unscheinbare Montur aus der Zeit vor der Zäsur.

»Ich habe gehört, dass wir einen Schlüssel haben«, sagte er wie jemand, der möglichst schnell zur Sache kommen wollte.

»Ich werde ihn dir zeigen. Aber zuerst …« Svetlana schaffte es kaum, die Worte auszusprechen. »Etwas ist passiert, Jim. Es tut mir furchtbar leid.«

Er schien durch sie hindurchzublicken, als hätte sie sich plötzlich in ein Fenster verwandelt. »Bella«, sagte er nur.

»Sie hat es nicht geschafft. Sie starb, als sie versucht hat, die Überlebenden in Neustadt zu retten.«

»Nick Thale hat mir gesagt, dass sie hineingegangen ist, um ihnen zu helfen.«

»Sie starb, während sie im Rettungseinsatz war. Sie hat meine Tochter herausgeholt. Trotz allem, was zwischen uns geschehen ist, hat sie es getan.«

»Nick hat mir noch etwas anderes gesagt.« Er setzte die Brille wieder auf den Nasenrücken und sah sie über die Gläser hinweg an. »Dass du zurückgegangen bist, um nach ihr zu suchen.«

»Du hättest es auch getan.«

»Der Unterschied ist, dass ich schon einmal gestorben bin. Soweit mir bekannt ist, blieb dir dieses zweifelhafte Vergnügen bislang erspart. Dazu war eine Menge Mut nötig, Svetlana.«

»Ich konnte sie dort nicht zurücklassen.«

»Natürlich nicht. Das hättest du am wenigsten von uns allen gekonnt.«

»Weil ich sie einmal gehasst habe?«

»Ich bin überzeugt, dass du während all der Jahre eurer Feindschaft nie eure Freundschaft ganz aufgegeben hast, auch wenn keine von euch beiden es jemals zugegeben hätte.«

Svetlana sah ihn skeptisch an. »Das glaube ich nicht.«

»Warum sonst bist du noch einmal in das Gebäude gegangen, obwohl du wusstest, dass es auch für dich gefährlich werden könnte?«

Svetlana wandte verdrossen den Blick ab. »Das spielte keine Rolle. Wir haben sie eingefroren, sie der Frostengel-Prozedur unterzogen … obwohl wir alle wissen, dass es zu spät war. Sie war sehr schwer verletzt, Jim, und sie war schon eine Weile tot, als wir sie endlich behandeln konnten.«

»Sie haben mich wieder hingekriegt. Vielleicht können sie auch etwas für Bella tun.«

In diesem Moment verspürte Svetlana den trotzigen Drang, ihn daran zu erinnern, dass die Aliens nicht den früheren Jim Chisholm wiederhergestellt hatten, sondern eine Schimäre aus zwei Toten geschaffen hatten, an der Chisholm lediglich den größeren Anteil hatte. Das Glioblastom hatte so viel von seinem Gehirn zerstört, dass die Aliens die fehlenden Teile seines Gedächtnisses und seiner Persönlichkeit nur mit dem ausfüllen konnten, was sie von Craig Schrope geborgen hatten. Bella musste mindestens genauso viel verloren haben.

»Wir sollten aufbrechen«, sagte Svetlana.

Er blickte durch das Fenster der Frachtschleuse. »Hat Nick vergessen, meinen Gast zu erwähnen?«

Durch das Fenster sah sie, wie sich eine rollende Sphäre näherte, in der die blauen Strähnen eines Perückenkopfes zu erkennen waren, der sie von innen antrieb.

»Ist das McKinley?«, fragte sie, als sie sich an den Alien erinnerte, der zu Mike Takahashis Heimkehrparty erschienen war.

»Der und kein anderer.«

»Ich hatte nicht damit gerechnet, dass er dich begleiten würde.«

»Der Schacht-Fünf-Nexus ist eingetroffen, während ihr in Neustadt beschäftigt wart«, sagte Chisholm. »Das Blatt hat sich zu Ungunsten der Ungebändigten gewendet.«

»Aber die Schlacht ist noch nicht vorbei.«

»Richtig, aber jetzt ist es sehr unwahrscheinlich, dass die Ungebändigten den Sieg davontragen. Zum Glück war es kein großes Kontingent, und auf dem Weg hierher wurden sie bereits teilweise aufgerieben. McKinley fand, dass es vorläufig sicher genug ist, zu Janus zurückzukehren.«

»Wie steht es um die anderen Perückenköpfe?«

»Ganz gut, obwohl sich das nicht von allen Elementen des Nexus sagen lässt.«

»Aber jetzt können wir ungefährdet in die nächste Kammer einfliegen?«

»Sagen wir einfach, dass es sicherer ist, als hier zu bleiben.«

Sie ließen McKinley an Bord kommen und quetschten die Sphäre in die letzte freie Ecke des bereits überfüllten Frachtraums. Dann starteten sie von der Botschaft und entfernten sich mit zunehmender Geschwindigkeit vom Eisernen Himmel, bis er nur noch eine schwarze Kugel war, die unter ihnen zurückfiel und sich vor dem fernen orangefarbenen Licht des Schachtes abzeichnete.

»Du musst mit einem Schiff der Perückenköpfe gekommen sein«, sagte Svetlana, als sie Chisholm den Schlüssel zeigte. »Warum fliegen wir nicht damit? Es wäre doch bestimmt schneller.«

»McKinley hat daran gedacht und vorgeschlagen, dass wir gegenüber den Moschushunden den Eindruck wahren sollten, dass ausschließlich die Menschen die Evakuierung durchführen, ohne Unterstützung durch die Perückenköpfe.«

»Abgesehen von McKinley.«

»Nicht ganz. Nach eurer Landung hat McKinley etwas an der Hülle des Beiboots befestigt. Es ist klein genug, um höchstens dann von den Moschushunden bemerkt zu werden, wenn es bereits zu spät ist. Aber es könnte unsere Chancen, sie zu überholen, entscheidend verbessern.«

»Was hat er getan?«

»Salopp ausgedrückt: Er hat einen kleinen Frameshift-Antrieb an die Star Crusader gepappt. Es handelt sich um eine menschliche Erfindung, also brauchst du dir deswegen keine Sorgen zu machen. Ich bin überzeugt, dass Bella diese Technologie früher oder später von Chromis erhalten hätte.«

»Ein Frameshift-Antrieb.« Sie erinnerte sich, dass die Moschushunde ihr als Gegenleistung für weitere Verhandlungen etwas Ähnliches versprochen hatten. Alles nur weitere Lügen, mit denen sie geködert werden sollte, wie sie nun erkannte.

»Wie gesagt, es ist nur ein kleiner – nicht genug, um damit in der Galaxis herumzuschwirren, aber entscheidend für die Beschleunigung, die dieses Beiboot aushalten kann, wenn die Maschinen auf volle Leistung hochgefahren werden.«

Sie dachte an die Moschushunde, die sich immer noch irgendwo zwischen Janus und dem Schachttor befinden mussten. »Warum müssen wir sie überholen?«

»Weil sie zweifellos hoffen, dass wir nicht vor ihnen durch das Tor fliegen.«

»Sie haben doch schon verloren, wenn ihr die Ungebändigten jetzt unter Kontrolle habt.«

Chisholm sah sie mit schmerzerfüllter Miene an. »Ich habe nicht gesagt, dass wir sie unter Kontrolle haben, sondern nur, dass die Lage etwas positiver für uns aussieht als für sie. Wenn die Moschushunde dazustoßen – die strategische Verbündete der Ungebändigten sind, zumindest bis Janus in die Luft geflogen ist –, wäre das eine Komplikation, auf die wir gern verzichten würden.«

»Was hast du also geplant?«

»Ich plane eine Bestrafung«, sagte Chisholm.

Sie hatten den Schlüssel erreicht. Chisholm glitt mit der Hand über die komplexen gläsernen Strukturen des Instruments der Flüsterer, als würde er sich am erotischen Kontakt zwischen seiner Haut und der schlanken, transparenten Maschine ergötzen. Dann gerieten seine Finger in eine Abwesenheitszone, wo es den Anschein erweckte, als ob dort weitere Systeme installiert sein müssten, und im nächsten Moment zuckte seine Hand zurück, als hätte er einen stromführenden Leiter oder heißes Wasser berührt. Doch inzwischen hatte der Schlüssel die Schmiedehitze abgegeben. Er fühlte sich so kalt an, als würde er sich auf obskure Weise selbst kühlen. Er hatte den Transport vom Schmiedekessel zum Beiboot überstanden (soweit Svetlana es beurteilen konnte), und war anschließend auf ein starres Gitter aus perforierten Streben montiert worden, ähnlich einem Gestell für DUE-Atomsprengköpfe.

»Eins kann ich dir bestätigen«, sagte Chisholm und blickte sich zu Svetlana um. »Das Ding sieht echt aus. Wenn es kein funktionsfähiger Schlüssel ist, ist es zumindest eine verdammt gute Nachbildung.«

»Jetzt musst du mir nur noch sagen, dass er tatsächlich funktioniert.«

»Das werden wir erst erfahren, wenn wir ein messbares Resultat am Tor sehen.«

»Wie bedient man das Ding?«

»Ganz einfach: zielen und drücken. Im Prinzip arbeitet es wie ein Garagentüröffner, nur dass die Garage mehr als zwei Lichtminuten entfernt und die Tür so groß ist, dass Madagaskar in einem Stück hindurchpassen würde. Alles weitere ist ein Kinderspiel.«

»Wenn er funktioniert.«

»Ja«, sagte er, als wäre ihm erst jetzt die vage Möglichkeit bewusst geworden, dass es vielleicht doch nicht klappte.

»Die Moschushunde haben doch bestimmt ihren eigenen Schlüssel. Ansonsten könnten sie das Tor nicht hinter sich schließen.«

»Entweder die Moschushunde oder die Ungebändigten.«

»Warum haben sie ihn dann noch nicht benutzt? Bella sagte, wir müssen den Schließimpuls senden, bevor wir das Tor erreicht haben. Müsste für die Moschushunde nicht das Gleiche gelten?«

»Sie sind noch nicht nahe genug dran. Wenn sie jetzt den Schließvorgang einleiten würden, wäre das Tor dicht, bevor sie es erreichten. Das wäre unklug, selbst nach ihren Standards.«

»Und warum warten sie nicht damit, bis sie sicher auf der anderen Seite angelangt sind?«

»Weil das Risiko zu hoch ist, dass Janus vorher hochgeht. Sie dürften mit einem sehr knappen Zeitplan arbeiten.«

»Und wir?«

»Wir müssen jetzt nur ein wenig schneller sein.«

Chisholm griff nach dem schweren Ende der Maschine und bewegte es mit einem kräftigen Ruck. Entlang verschiedener Fugen, die Svetlana zuvor nicht gesehen hatte, drehte sich ein Teil des Schlüssels. Wie ein raffiniert zusammengesetztes Puzzle passte sich die Gestalt des Gesamtobjekts der Veränderung der zwei Teile an. Ein zitronengelbes Leuchten breitete sich in den gläsernen Eingeweiden aus und wechselte ins Bläuliche, wo es auf die Übergänge zwischen verschiedenen Materiephasen stieß. Der Schlüssel vibrierte, als wollte er sich aus dem Gestell befreien.

»Arbeitet er jetzt?«, fragte Svetlana erstaunt.

Chisholm legte einen Finger an die Lippen. »Fast«, flüsterte er. »Noch ein Dreh, und er ist aktiviert. Dann sendet er den Befehl, das Tor zu schließen. Wir müssen das Schiff genau ausrichten, denn das Signal ist sehr eng gebündelt. Wenn der Strahl die Rezeptoren nicht berührt, wird nichts geschehen.«

»Was ist das für ein Strahl?«

»Ich würde es dir gerne erklären«, sagte Chisholm ohne eine Spur von Herablassung, »aber leider haben wir nicht den ganzen Tag lang Zeit.«

Svetlana ließ die Sache damit auf sich beruhen.

Seine Absichten bezüglich der Moschushunde hatten nichts Elegantes oder Subtiles. Der Plan beruhte ausschließlich auf List und Täuschung – und der Hoffnung, dass die Moschushunde einem Fahrzeug, mit dem die Menschen einen verzweifelten Versuch unternahmen, die nächste Kammer zu erreichen, bevor Janus explodierte, nur wenig Beachtung schenken würden. Der einzige weitere Punkt zu ihren Gunsten war die Erwartung, dass sich die Moschushunde nicht offen feindselig verhalten würden, nicht einmal in diesem späten Stadium der Entwicklung. Wären sie von den anderen Elementen im Schacht-Fünf-Nexus zu einer Rechtfertigung gedrängt worden, hätten sie vermutlich plausibel Verblüffung und Unwissenheit vorgeschützt, was die Zerstörung von Janus betraf. Wenn er bedachte, was er durch McKinley und die anderen Aliens über die Moschushunde erfahren hatte, konnte er die Parameter ihrer Verschlagenheit gut einschätzen. Sie würden behaupten, sie hätten nur versucht, Energie von Janus abzuzapfen, wie sie es mit den menschlichen Bewohnern vereinbart hatten. Sie würden ihr Erstaunen zum Ausdruck bringen, dass ihre unschuldigen Manipulationen die gewaltsame Selbstvernichtung des Mondes ausgelöst haben sollten. Natürlich versuchten sie jetzt, sich in Sicherheit zu bringen. Was hätten sie sonst auch tun sollen? Wenn es in ihrer Macht gestanden hätte, den armen, bedrängten Menschen zu helfen …

Alles nur Lügen, aber die Moschushunde hatten sich schon zuvor mit Lügen durchgemauschelt. Das war einer der Gründe, die den Umgang mit ihnen so erschwerten. Aber wenn sie weiterhin Unschuld heucheln wollten, konnten sie es sich nicht erlauben, die Star Crusader anzugreifen, während sich Mitglieder des Nexus in der Nähe aufhielten.

Deshalb musste es der Star Crusader gelingen, sich am Knorpelschiff vorbeizuschleichen, bevor die Moschushunde auf ihre ungewöhnlichen Beschleunigungswerte aufmerksam wurden. Doch dann wäre es für sie bereits zu spät.

Jim Chisholm nahm die letzte Einstellung am Schlüssel vor. Das Artefakt strahlte nun in intensivem goldenem Licht und zitterte so heftig, als wollte es im nächsten Moment in Millionen glitzernder Scherben zerspringen. Doch das geschah nicht. Da es keine Möglichkeit gab, das empfindliche Instrument innerhalb des Beiboots auszurichten, wies Chisholm den Piloten der Star Crusader an, das Triebwerk eine Zeitlang auszuschalten, damit das gesamte Beiboot benutzt werden konnte, um den Strahl des Schlüssels auf die fernen Rezeptoren am Tor zu lenken.

Darauf folgte eine Minute quälender Ungewissheit, bevor von den Perückenköpfen die Meldung kam, dass das Tor den Schließvorgang eingeleitet hatte. Nun ging es nur noch darum, rechtzeitig durch die kleiner werdende Öffnung zu gelangen. Svetlana brachte nicht die nötige Selbstdisziplin auf, untätig abzuwarten, bis es so weit war. Deshalb ging sie zu McKinley, der sich neben dem Schutzanzug mit dem gefrorenen Körper ihrer alten Freundin und ehemaligen Feindin aufhielt.

»Ich habe getan, was ich konnte«, sagte sie wehleidig. »Vielleicht könnt ihr einen Teil des Schadens beheben …«

Obwohl er in seiner Sphäre geblieben war, musste McKinley gewisse Möglichkeiten haben, einen Blick in den Anzug und in Bellas durchbohrten Schädel zu werfen. Als er antwortete, konnte er nur wenig Trost spenden. »Du hast das Richtige getan. Es ist immer besser, etwas zu versuchen und zu scheitern, als es gar nicht erst zu versuchen. Aber die Schäden am orbitofrontalen Kortex sind gravierend.«

»Zu gravierend, um sie zu reparieren?«

»Man kann einen Geist nicht aufs Geratewohl zusammenflicken. Möglicherweise erweckt man jemanden zum Leben, aber es wird nicht mehr die Persönlichkeit sein, die du gekannt hast.«

»Wir haben heute schon zu viele Leute verloren, McKinley. Ich will sie nicht auch noch verlieren.«

»Du hast dich in Gefahr begeben, um sie zurückzuholen. Alles, was du ihr schuldig warst, alles, was sie dir schuldig war … ich würde meinen, dass du jetzt alle offenen Rechnungen als beglichen betrachten kannst.«

Sie blickte durch die Glashülle auf die Masse aus wallenden blau-grünen Fühlern. »Du bist darin ziemlich gut, McKinley.«

»Gut worin?«

»Dich menschlich zu artikulieren, die richtigen Töne zu erzeugen. Du hast seit unserer ersten Begegnung eine Menge gelernt, und du bist jeden Tag besser geworden. Aber manchmal glaube ich, dass du immer noch nicht verstanden hast, wie wir ticken.«

»Ich habe verstanden, dass ihr die Existenz höher als die Nichtexistenz schätzt«, sagte McKinley. »Zumindest das haben wir gemeinsam. Ich kann dir versichern, dass sich das nicht von allen Kulturen behaupten lässt, die sich in der Struktur aufhalten.«

»Falls mich das beruhigen soll …«

»Das soll es nicht.«

Sie schloss die Augen und nahm einen tiefen, erschöpften Atemzug. »Ich wollte nicht undankbar erscheinen. Es ist nur … sie war meine Freundin. Zwischen uns ist einiges vorgefallen, aber nicht so viel, dass ich sie mir nicht zurückwünschen würde.«

»Das tut mir leid«, sagte McKinley in tröstlichem Tonfall. »Ich wünschte, wir könnten etwas tun. Aber organisierte Strukturen sind das Kostbarste, was es im Universum gibt. Wenn sie verloren sind, sind sie nicht zu ersetzen.«

Etwas später ließ Svetlana den Alien mit Bella allein und stieg durch die technischen Innereien des Beiboots, bis sie ein Inspektionsbullauge erreicht hatte, das weit genug von den anderen Menschen entfernt war, um ihr ein gewisses Maß an Abgeschiedenheit zu ermöglichen. Sie blickte zurück und versuchte vor dem matten Orange der Schachtwand den fernen dunklen Fleck zu erkennen, der Janus darstellte. Inzwischen waren sie an den Moschushunden vorbeigezogen und holten alles aus dem Frameshift-Antrieb im Taschenformat heraus, was möglich war. Das Knorpelschiff war gerade noch in ein paar tausend Kilometern Entfernung sichtbar, eine verworrene Masse vor dem Widerschein ihres unbekannten Antriebssystems. Auch die Moschushunde holten das Letzte aus ihrem Schiff heraus. Die Belastung war so groß, dass ganze Stücke von ihm abbrachen und eine mit dem Radar verfolgbare Spur aus Fettklumpen und knochigen Maschinenteilen hinterließen.

Auf dem Radar zeigte sich auch, dass die Moschushunde das Wettrennen zum Schachttor verloren. Vor der Star Crusader schloss es sich mit besorgniserregender Geschwindigkeit, so schnell, dass Svetlana Zweifel an der Genauigkeit von Chisholms Timing hegte.

Aber es bestand kein Grund zur Sorge.

Kurz nachdem die Star Crusader durch den engen Spalt geflogen war, bat Jim Chisholm sie um Erlaubnis, dem Knorpelschiff eine Nachricht schicken zu dürfen.

»Warum?«, fragte sie irritiert.

»Reine Formsache«, sagte er. »Für den Nexus ist es furchtbar wichtig, sich an bestimmte Regeln zu halten.«

Es ließ sich ohne Schwierigkeiten bewerkstelligen, und Svetlana hatte keine Einwände. Die Botschaft wurde über alle Lautsprecher des Beiboots verbreitet, damit jeder mithören konnte, was Chisholm den Moschushunden mitzuteilen hatte. Erneut wurde es totenstill unter den Überlebenden.

Es war eine Ansprache, die sie nicht so bald vergessen würde.

»Hier spricht James Henry Chisholm, der menschliche Vertreter des Schacht-Fünf-Nexus. Ich wende mich an den Verhandelnden. In Kürze werden Sie und die anderen Moschushunde an Bord Ihres Schiffes sterben. Falls Sie nicht durch die Explosion von Janus umkommen, werden Sie von den überlebenden Elementen des Nexus unter Beschuss genommen, als Strafe für Verbrechen gegen eine vom Nexus geschützte Spezies und wegen Unterlassungshandlungen, die zum Eindringen feindseliger Einheiten der Ungebändigten geführt haben. Diese Entscheidung wurde einstimmig vom Nexus-Tribunal getroffen, und gegen sie kann kein Einspruch erhoben werden. Doch da der Nexus nicht ohne Mitgefühl ist, wurde Ihnen erlaubt, eine letzte Nachricht zu senden, die wir aufbewahren werden. Diese Nachricht wird so lange archiviert, bis wir sie an andere Gruppen der Moschushunde übermitteln können oder an eine dritte Partei, die von Ihnen als Empfänger benannt werden kann. Der Inhalt dieser Nachricht wird von uns nicht zensiert, und wir werden alles aufzeichnen, bis wir den Kontakt zu Ihnen verlieren.« Chisholm machte eine kurze Pause, bevor er zum Ende seiner Ansprache kam. »Wir werden zuhören. Wenn wir von Ihnen innerhalb der nächsten fünf Standardzeiteinheiten des Nexus auf dieser Frequenz keine Sendung empfangen, gehen wir davon aus, dass Sie keine Nachricht zu senden gedenken.«

Als er fertig war, fragte Svetlana ihn, wie lange fünf Standardzeiteinheiten des Nexus waren.

»Etwas unter drei Minuten«, sagte er.

Drei Minuten vergingen, ohne dass sich die Moschushunde meldeten. Nach sechs Minuten registrierte der Radar, dass sich etwas Dramatisches am Knorpelschiff ereignete. Nachdem die Grenze der Belastungsfähigkeit weit überschritten worden war, kam es zur Katastrophe: Es zerbrach in zwei Stücke, die sich trudelnd voneinander lösten.

Das Schiff beschleunigte nicht mehr. Erst in der siebten Minute, als sich das Schachttor fast vollständig geschlossen hatte, kam das Fragment eines Signals auf der Antwortfrequenz herein. Svetlana ließ es ebenfalls über die Lautsprecher verbreiten. Es war ein grässlicher schmatzender Laut, als würde jemand gleichzeitig erwürgt und ertränkt.

In diesem Moment explodierte Janus.

 

Die Kameras an den Innenwänden des Schachts übertrugen Bilder des Spektakels an das Beiboot, bis der Feuerball sie vernichtete. Zuerst entlud sich die Explosionsenergie durch die zwei Löcher im Himmel, in Form zweier scharf gebündelter weißglühender Jets. Als er der ausbrechenden Energie des Mondes nicht mehr standhielt, gab der Eiserne Himmel nach und zerbarst in tausend schwarze Scherben.

Die Öffnung des Schachttors war nur noch ein paar hundert Meter weit, als die Explosionswelle eintraf. Eine scharfe Nadel aus tödlicher Strahlung zwängte sich durch die enger werdende Irisblende. Das grelle Weiß war nur von ein paar dunklen Spuren des vernichteten Knorpelschiffs durchsetzt.

Dann hatte sich das Tor geschlossen.