Vierundzwanzig


 

 

Am neunten Tag erwachte Jim Chisholm aus dem Koma. Er öffnete die Augen und fragte die diensthabende Pflegerin – Judy Sugimoto –, ob er ein Glas Wasser haben könnte.

Sugimoto weckte Axford. Der Arzt rieb sich noch den Schlaf aus den Augen, als Svetlana mit Parry im Schlepptau eintraf.

»Wie fühlst du dich, Jim?«, fragte Axford, während Sugimoto ihm half, sich im Bett aufzusetzen, und seine Lippen befeuchtete.

»Gut. Viel besser als vorher.« Er blickte in die misstrauischen Gesichter des Empfangskomitees. Neun Tage später hatte Axfords Nährlösung einige der Konturen an Chisholms Schädel weicher gemacht. Seine Kopfhaut war mit einem Schatten nachwachsender Stoppeln überzogen. Axford hatte darauf geachtet, ihm den Bart zu rasieren, genauso wie Chisholm es selbst immer getan hatte. Er lächelte entschuldigend. »Tut mir leid, wenn ich euch alle in Aufregung versetzt habe.«

»Wir waren nicht in Aufregung, sondern nur besorgt«, sagte Svetlana. »Erinnerst du dich, was in Underhole geschehen ist?«

Er atmete aus. »Oh ja. Als wäre es gestern gewesen. Was natürlich nicht den Tatsachen entspricht. Wie lange ist genau her?«

»Neun Tage«, sagte Svetlana.

»So fühlt es sich nicht an. Ich weiß noch, wie ich vom Himmel gefallen bin, wie ich am Tisch saß, wie ich dich mit Bella verwechselt habe …« Er schürzte die Lippen und wirkte beschämt. »Dafür möchte ich mich entschuldigen. Es ist nur so, dass ihr alle etwas älter ausseht, als ich mich erinnere. Und du hattest wirklich schon immer eine gewisse Ähnlichkeit mit Bella, Svetlana.«

»Kein Problem, Jim«, sagte Svetlana und lächelte, damit er wusste, dass sie sich nicht beleidigt fühlte. Es war sehr seltsam, mit ihm zu sprechen – so seltsam, dass sie ehrlicherweise nicht behaupten konnte, dass es angenehm war. Sie befand sich auf unerkundetem emotionalem Territorium, und je weiter sie sich hineinwagte, desto mehr verwirrte sie die Situation. Es gab nichts, was sie auf diese Erfahrung hätte vorbereiten können. »Es ist einfach nur gut, dass du wieder bei uns bist«, sagte sie und hoffte, dass es aufrichtig klang.

Chisholm nickte. »Es kann nicht halb so gut sein wie das Gefühl, tatsächlich wieder da zu sein. Und sich wieder gesund zu fühlen … Ich hätte nie gedacht, dass es eines Tages geschehen würde.« Er hob das Wasserglas zum Mund und hielt auf halber Strecke inne, um die zarte, haarlose Haut seiner Hand zu betrachten, die völlig frei von Runzeln und geplatzten Äderchen war. Svetlana glaubte zu sehen, wie er von einem leichten Schauder des Grauens geschüttelt wurde.

»Sie haben dich wieder in Ordnung gebracht«, sagte sie.

»Ich weiß. Sie haben es mir gesagt – oder mir irgendwie das Wissen darüber vermittelt, was sie getan haben, aber es wird mir erst nach und nach bewusst. Ich würde gerne darum bitten, dass mir jemand einen Spiegel bringt, irgendwann demnächst. Sie haben mein Gesicht verändert, nicht wahr?«

»Sie haben die Uhr zurückgedreht«, sagte Svetlana, »das ist alles. Du siehst immer noch wie Jim Chisholm aus.«

Er strich sich über den glatt rasierten Unterkiefer, wie jemand, der im Dunkeln einen Gegenstand ertastet, dann über sein stoppeliges Haar. »Ich bin mir nicht mehr so sicher, ob ich wirklich einen Spiegel haben möchte.«

»Du siehst gut aus, Kumpel«, sagte Parry. »Du nimmst von Tag zu Tag zu. Du warst schon immer ein attraktiver Mistkerl. Schade, dass sie nichts daran geändert haben.«

»Nur … schlanker und jünger, meinst du?« Chisholm lächelte wehmütig. »Nun, damit kann ich leben. Ich schätze, ich kann mit allem leben, wenn ich die Alternative bedenke. Ich möchte nicht undankbar sein für das, was mit mir geschehen ist.«

»Wir sind leider nicht dafür verantwortlich«, sagte Parry.

»Aber jemand muss den Mumm gehabt haben, mich in dieses Schiff zu bringen. Dazu sind gute Nerven nötig. Wer hat den Kürzesten gezogen?«

»Ich habe dich hineingebracht«, sagte Svetlana. »Wir haben es nicht ausgelost. Es gibt niemanden auf Janus, der nicht genauso wie ich dazu bereit gewesen wäre.«

»Trotzdem hast du es getan, Svieta.«

Sie fragte sich, wie viel er über das wusste, was mit Craig Schrope geschehen war. Hatte er auf irgendeine Weise davon erfahren, während sich die Aliens um ihn gekümmert hatten?

»Du hast es verdient«, sagte sie. »Für mich war es … eine besondere Ehre. Und ich hatte keine Angst. Zumindest nicht vor dem Schiff. Ich hatte nur Angst vor dem, was geschehen wäre, wenn wir nichts getan hätten.«

»Auf jeden Fall hast du das Richtige getan. Ich möchte mich noch einmal für das entschuldigen, was in Underhole geschehen ist. Ich wollte euch keine Sorgen bereiten. Ich glaube nicht, dass ich da schon bei vollem Bewusstsein war. Ich meine, ich erinnere mich an alles … aber es fühlt sich nicht so an, als hätte ich selbst mit euch gesprochen.«

»Und jetzt?«, fragte Svetlana.

»Mein Kopf ist viel klarer. So wie sich die Luft nach einem Gewitter anfühlt. Jetzt ist es vorbei.«

»Du bist noch nicht wieder auf dem Damm«, sagte Axford entschieden. »Objektiv gesehen hast du eine Reihe von sehr stressreichen Ereignissen hinter dir, auch wenn du dich gar nicht bewusst an alles erinnerst.«

»Ehrlich gesagt würde ich mich gerne an mehr erinnern können. Aber bevor die Aliens mich wieder zusammengeflickt haben, gab es nicht viel von mir, das sich an etwas hätte erinnern können.«

Svetlana seufzte insgeheim vor Erleichterung, dass Chisholm das Thema Aliens von sich aus angeschnitten hatte. Zumindest konnte sie jetzt darüber sprechen, ohne sich Sorgen machen zu müssen, dass die Sache ihn erneut in ein Schockkoma stürzte.

»Erinnerst du dich an sie?«, fragte sie.

»Aber sicher. Sie haben sich mir vorgestellt, bevor sie mich aus dem Schiff steigen ließen. Und um dir eine Frage zu ersparen, die dir zweifellos auf der Seele brennt – sie sind friedlich. Sie wollen uns keinen Schaden zufügen. Wir haben nichts von ihnen zu befürchten, aber sehr viel zu lernen.«

Er schien es ehrlich zu meinen, dachte Svetlana, aber das war kaum überraschend, nachdem die Aliens seinen Kopf wieder zusammengeflickt hatten. Sie hätten ihn darauf programmieren können, alles Mögliche mit absoluter Überzeugung zu sagen.

»Ich bin sehr daran interessiert, von ihnen zu lernen«, sagte sie mit einem zweifelnden Unterton, »aber ich wüsste nicht, was sie dafür im Gegenzug von uns erwarten könnten.«

»Nicht direkt von uns«, sagte Chisholm, »aber wir haben etwas, das sie sehr gut gebrauchen können – Janus. Sie haben nicht vor, den Mond zu erobern oder uns zu unterwerfen oder ähnliche banale Aktionen, aber es gibt Dinge in Janus, die sie für ihre Zwecke nutzen können. Hauptsächlich Energie und Rohstoffe, genauso wie wir es bereits getan haben, nur auf etwas raffiniertere Weise.«

Svetlana runzelte die Stirn. Es gab noch viele Fragen, die sie gerne gestellt hätte, aber sie war sich nicht sicher, wie sie sie nach ihrer Wichtigkeit ordnen sollte. »Welche Folgen hätte das für uns?«

»Im Grunde würde alles so bleiben, wie es ist. Bisher haben wir nur einen winzigen Teil von Janus ausgebeutet. Die Aliens wollen den Mond auf einer tieferen Ebene anzapfen, die keinerlei Auswirkungen auf unsere Energiegewinnung hätte. Wir können mit allem weitermachen, was wir seit unserer Ankunft getan haben. Ich brauche zwar noch ein bisschen Nachhilfeunterricht, aber ich vermute, dass sich in den letzten neun Jahren keine allzu drastischen Umwälzungen vollzogen haben.«

»Es hätte wohl keinen Sinn, etwas anderes behaupten zu wollen«, sagte Parry.

»In diesem Fall würden wir nichts verlieren. Wir gewähren ihnen die Zugangsrechte zum Innern von Janus, und dafür bekommen wir von ihnen mehr, als wir uns erträumen können.«

»Gut«, sagte Parry, »aber wenn ihnen so viel an Janus liegt – und im Moment wüsste ich dafür keinen einleuchtenden Grund, wenn sie wirklich so hoch entwickelt sind –, warum nehmen sie uns den Mond dann nicht einfach weg? Für sie müssen wir doch so etwas sein wie … ich weiß nicht … kleine Kinder mit Lutschern.«

Chisholm schüttelte den Kopf. »Das ist nicht ihre Art. Während ihrer Reisen haben sie festgestellt, dass es immer besser ist, eine einvernehmliche Lösung auszuhandeln.«

»Und was ist, wenn wir uns weigern?«

»Sie würden unsere Entscheidung respektieren.« Chisholm lächelte. »Für euch ist es offenbar nur schwer zu verstehen, aber uns mit Gewalt zu etwas zu zwingen, wäre aus zwei Gründen keine sinnvolle Strategie für sie. Erstens sind wir zwar technisch nicht so weit fortgeschritten wie sie, aber wie man es von einer raumfahrenden Zivilisation erwarten kann, besitzen wir grundsätzliche Kenntnisse über die kontrollierte Kernfusion. Auch wenn wir nicht über Nuklearwaffen verfügen, besitzen wir doch die Möglichkeit, welche herzustellen. Und Nuklearwaffen sind bereits ein hinreichender Grund, um den Einsatz von Gewalt auszuschließen. Nicht weil wir diese Waffen sehr effektiv gegen sie einsetzen könnten, obwohl wir es natürlich versuchen könnten, sondern weil wir dabei sehr leicht das zerstören könnten, woran sie interessiert sind. Atomwaffen sind die ultimative Trumpfkarte. Es ist wie Schere, Papier und Stein. Kernkraft zerstört Materie, in jedem Fall.«

»Sie befürchten, wir könnten Janus in die Luft jagen, damit sie ihn nicht bekommen?«, sagte Parry.

»Darauf läuft es hinaus. Ähnliche Vereitelungsaktionen sind zur Genüge aus der Vergangenheit bekannt, sodass sie eine gewaltsame Lösung nur dann riskieren würden, wenn alle anderen Möglichkeiten erschöpft sind.«

»Du hast von zwei Gründen gesprochen«, sagte Axford.

»Zweitens mögen wir den Eindruck eines leichten Opfers erwecken, aber sie – oder andere außerirdische Wesen, die ihnen bekannt sind – hatten gelegentlich Begegnungen mit fortgeschrittenen Zivilisationen, die ein niedrigeres Entwicklungsstadium vorgetäuscht haben. Sie wollen nicht mit einem dicken Knüppel auf uns einschlagen, da es sein könnte, dass wir irgendwo einen noch dickeren Knüppel versteckt haben.«

»Und das heißt, wenn wir uns weigern, würden sie einfach abziehen?«

»Nein, ich sagte nur, dass sie unsere Entscheidung respektieren würden. In diesem Fall würden sie nach anderen Verhandlungslösungen suchen. Macht euch klar, dass sie sehr viel Zeit haben. Irgendwann brauchen sie Janus, aber nicht unbedingt heute. Sie planen nur langfristig, bevor sich jemand anderer die Rohstoffquelle unter den Nagel reißt.«

»Jemand anderer«, wiederholte Svetlana mit leichtem Unbehagen. »Also leben da draußen noch andere Aliens?«

»Etwas habe ich von ihnen gelernt«, sagte Chisholm. »Dass wir in einem verdammt großen Universum leben und dass nicht alles, was darin kreucht und fleucht, so freundlich wie diese Typen ist.« Er beugte sich auf dem Bett vor. »Das ist der Grund, weshalb wir unbedingt auf sie hören sollten. Sie haben mich wieder zusammengeflickt. Damit sind wir ihnen bereits etwas schuldig.«

 

Chisholm war immer noch Axfords Patient, und der Arzt ließ nicht zu, dass er durch endlose Fragerunden erschöpft wurde. Svetlana beugte sich seinem Urteil, aber sie achtete darauf, dass sie ihren Schlaf- und Arbeitsrhythmus auf Chisholms Besuchszeiten abstimmte. Jedes Mal, wenn sie zu ihm kam, wirkte er etwas gesünder und weniger wie ein Gespenst. Er lächelte aufmunternd, wenn er sie sah, und tat nur Dinge, die sie eigentlich hätten überzeugen müssen, dass mit ihm alles in Ordnung war. Er plauderte über Nebensächlichkeiten, machte Witze und konnte seine eigene Situation sehr realistisch einschätzen. Aber hin und wieder äußerte er etwas, das ihr sehr außerirdisch vorkam.

»Der Anzug, in dem du gekommen bist«, sagte Svetlana, als es an der Zeit war, etwas genauer nachzuhaken. »Er hat Thai gesprochen. Er behauptete, im Jahr 2134 auf Triton hergestellt worden zu sein. Weißt du irgendetwas darüber?«

»Wenn der Anzug behauptet, von Triton zu stammen, bin ich geneigt, ihm zu glauben.«

»Dieser Anzug beunruhigt uns, Jim.«

Er hatte sich mit einem Kugelschreiber Notizen auf einem Stück Papier aus den Schmiedekesseln gemacht. Jetzt legte er Blatt und Stift weg. »Dazu besteht kein Grund«, sagte er. »Es ist nur ein Raumanzug. Er kann euch keinen Schaden zufügen.«

»Darum geht es nicht. Was uns beunruhigt, ist die Frage, wie er nach Spica gelangt ist?«

»Die Aliens haben ihn gefunden. Es sind übrigens nicht die Spicaner, aber das habt ihr euch wahrscheinlich schon gedacht.«

Parry hatte ihr bereits von Bellas Vermutungen erzählt. Es fiel ihr schwer, aber sie musste sich eingestehen, dass sie etwas für sich hatten. »Wir bezeichnen sie vorläufig als Perückenköpfe. Falls sich erweisen sollte, dass sie doch mit den Spicanern identisch sind, werden wir es uns noch einmal überlegen.«

»Perückenköpfe.« Er neigte den Kopf, dann nickte er. »Das gefällt mir. Ich glaube, dass auch sie es gut finden würden.«

»Craig Schrope hat den Namen geprägt«, sagte sie. »Er hat sie als Erster gesehen.«

Man hatte ihm gesagt, was mit Schrope geschehen war. Er hatte die Information registriert, schien aber kein emotionales Verhältnis zu seinem Tod zu haben. »Gut für Craig«, sagte er.

»Was uns besorgt«, sagte Svetlana, »ist die Frage, wie die Aliens in Kontakt mit den Menschen kamen, die diesen Raumanzug hergestellt haben.«

»Sie sind Raumfahrer«, sagte Chisholm.

»Also begegneten sie irgendwann einem menschlichen Schiff, das zufällig einen im Jahr 2134 produzierten Raumanzug an Bord hatte?«

»Eine recht plausible Erklärung.«

»Nur dass sie nicht passt. Wir haben das Sonnensystem im Jahr 2057 verlassen. Seitdem haben wir etwa zweihundertsechzig Lichtjahre zurückgelegt, die meiste Zeit bei einer Geschwindigkeit knapp unter der des Lichts. Die jüngsten Informationen, die uns hier erreichen könnten, würden aus dem Zeitraum von ein oder zwei Jahren nach unserem Abflug stammen. Selbst wenn die Perückenköpfe bereits 2059 Kontakt mit Menschen hatten, wäre ihnen gerade genug Zeit geblieben, uns hier rechtzeitig einzuholen – vorausgesetzt, sie sind in der Lage, der Lichtgeschwindigkeit ein bisschen näher zu kommen als wir. Aber dieser Anzug wurde fast achtzig Jahre nach unserem Abflug hergestellt! Informationen aus dem Jahr 2134 sind auf dem Weg zu uns, aber sie werden hier frühestens eintreffen, wenn wir nach unserer subjektiven Zeitrechnung das Jahr 2134 erreicht haben.«

»Trotzdem existiert der Anzug.«

»Aber das kann nicht sein, Jim. Dazu müssten wir das Tempolimit der Lichtgeschwindigkeit aufgeben. Sind wir dazu bereit? Selbst Janus ist nicht schneller als das Licht geflogen.«

»Aber es waren die Perückenköpfe, die euch den Anzug gebracht haben. Ihre Technik steht eindeutig auf einem anderen Level als die Maschinen von Janus. Vielleicht haben sie die Lichtgeschwindigkeit überschritten, um rechtzeitig hier zu sein.«

»Was haben die Aliens gesagt, Jim? Haben sie dir erzählt, woher sie diesen Anzug haben?«

»Nein«, sagte er. »Das haben sie mir nicht verraten.«

»Und du hast nicht daran gedacht, sie zu fragen?«

Zum ersten Mal wirkte er leicht gereizt. »Ich habe mir keine Gedanken über den Anzug gemacht, Svieta. Sie haben mich geheilt, mir ein paar Informationen gegeben, mich in den Anzug gesteckt und zu euch geschickt. Du hast gesehen, dass ich mich praktisch wie eine aufgezogene Puppe bewegt habe. Glaubst du, ich hätte auch nur einen Moment über den Anzug nachgedacht?«

»Trotzdem mache ich mir Sorgen, Jim.«

»Dann hör auf damit. Sie haben friedliche Absichten, wie ich bereits sagte. Sie wollen etwas, das uns nichts kostet, und als Gegenleistung geben sie uns die Welt.«

»Außerirdische Technik?«

Er bedachte sie mit einem knappen, spöttischen Lächeln. »Nein, aber sie können uns mehr solche Sachen wie den Anzug geben – Daten und Technik aus unserer eigenen Zukunft, der Zukunft der Menschheit. Mach dir klar, was das bedeutet, Svieta. Wir reden hier nicht nur über nützliche Dinge wie Raumanzüge. Hier geht es um medizinische Entwicklungen, bessere Computer … Nanotechnik, die Wangs Schmiedekessel wie Kanonenöfen erscheinen lassen. Du hast gute Arbeit geleistet, um die Kolonie all die Jahre am Leben zu erhalten, und ich bin schon lange genug wach, um erkannt zu haben, wie schwer es gewesen sein muss. Es waren nicht einfach nur dreizehn Jahre, die so tiefe Falten in Axfords Gesicht hinterlassen haben.«

»Es war hart«, räumte sie mit einem Achselzucken ein.

»Aber jetzt kann es besser werden. Die Perückenköpfe sollen uns geben, was uns eigentlich sowieso gehört. Verhandle mit ihnen. Schick mich als Sprecher zu ihnen. Sie kennen mich in- und auswendig. Sie vertrauen mir.«

»Ich werde darüber nachdenken«, sagte sie.

»Gut. Aber denke nicht zu lange nach.«

»Keine Sorge«, sagte sie und erhob sich. »Ich werde dir jetzt etwas Ruhe gönnen. Brauchst du etwas, das dir hier das Leben erleichtern würde?«

Er tippte mit dem Kugelschreiber gegen die Unterlippe. »Nein. Axford und seine Leute behandeln mich wie einen König.«

»Falls dir noch etwas einfällt, sag einfach Bescheid.«

»Das werde ich tun«, versprach er. Als sie fast die Tür erreicht hatte, rief er sie noch einmal zurück. »Svetlana … es gibt doch noch etwas, aber es fällt mir schwer, darüber zu sprechen.«

Sie ging zurück und blieb vor seinem Bett stehen. »Sag es einfach, Jim.«

»Die Leute hier waren sehr freundlich zu mir, seit ich zurückgekehrt bin. Ich weiß, dass ihr alle versucht, mich zu schonen, damit ich möglichst wenig Schwierigkeiten habe, die Zeit aufzuholen, die ich verloren habe. Aber jetzt komme ich mit allem klar.«

»Das ist gut.«

»Also kannst du es mir sagen.«

»Was soll ich dir sagen?«

»Ich weiß, dass ihr es gut mit mir meint, aber ich kann die Wahrheit vertragen.«

»Die Wahrheit?«, fragte sie verdutzt.

»Bella ist tot, nicht wahr? Deshalb spricht niemand über sie, und deshalb wendet ihr alle den Blick ab, wenn ich ihren Namen erwähne. Ihr macht euch Sorgen, wie ich damit klarkomme. Ich sage dir, ich komme damit klar. Ich komme mit jeder Stunde, mit jedem Tag besser klar. Ich möchte nur wissen – ist sie zu dir gekommen, um dir von meinem letzten Willen zu erzählen, oder habt ihr die Verschlüsselung meiner Nachricht geknackt?«

»Sie ist zu uns gekommen«, sagte Svetlana zögernd.

»Wie lange ist das her? War sie krank? Hat sie gewusst, dass sie sterben würde?«

»Sie ist nicht gestorben.«

Chisholms Lippen zuckten. »Wie bitte?«

»Sie ist nicht tot«, wiederholte Svetlana. »Sie lebt, und es geht ihr recht gut. Axford kann es dir genauer sagen, aber … ihr fehlt nichts.«

Sie beobachtete, wie seine Miene mehrere Regungen durchlief – Erleichterung, dass Bella am Leben war, dann Verwirrung, schließlich so etwas wie Enttäuschung. »Ich hätte gedacht …«, begann er.

»Dass sie dich inzwischen besucht hätte?«

»Das wäre kaum zu viel verlangt.«

»Sie kann es nicht. Sie kann dich nicht besuchen, weil sie immer noch im Exil lebt.«

»Im Exil? Wo?«

»Immer noch in der Kuppel.«

Er sah sie mit entsetztem Gesichtsausdruck an. »Du hast sie dort dreizehn verdammte Jahre lang eingesperrt? Ich habe schon immer gewusst, dass du zäh bist, Svieta. Genauso wie Bella. Das hat wohl etwas mit Revierkämpfen zu tun. Aber ich hätte nie gedacht, dass du so herzlos sein kannst.«

»Hier geht es nicht um Bella und mich«, sagte sie.

Chisholm schüttelte langsam den Kopf. »Aber jetzt geht es darum. Ich möchte persönlich mit Bella sprechen, unter vier Augen. Nur wir beide, wie in alten Zeiten.«

In diesem Moment spürte sie das erste bedrohliche Anzeichen, dass ihr die Kontrolle zu entgleiten begann. Es war wunderbar und sehr menschlich von ihr gewesen, Chisholm von den Toten zurückzuholen. Damit hatten sie einen Draht zu den Perückenköpfen bekommen. Gleichzeitig war es der schwerste politische Fehler, den sie in den dreizehn Jahren begangen hatte, seit sie das Kommando führte. Sie hätte sich etwas anderes überlegen müssen … sie hätte jemand anderen zu den Perückenköpfen bringen können. Vielleicht Takahashi oder eins der anderen Opfer. Bagley oder Fletterick, Mair oder Ungless. Es gab immer Tote. Es würde immer Tote geben, solange die Menschen auf Janus zu überleben versuchten. Warum war es ihr niemals in den Sinn gekommen, dass es möglicherweise nicht die klügste Entscheidung war, Bellas engsten Vertrauten und Freund von den Toten zurückzuholen?

»Du bist zu schwach, um zu ihr hinauszugehen«, fand Svetlana eine Ausrede.

»Dann bring sie zu mir. Bring sie zurück nach Crabtree.« In seinen Augen funkelten Pläne und Träume. »Es ist höchste Zeit, dass sie rehabilitiert wird. Dass sich hier einiges verändert.«

Dann ließ er den Kugelschreiber langsam dreimal klicken.