Siebenunddreißig


 

 

Bevor Bella ihr Büro verließ, empfing sie beunruhigende Neuigkeiten vom Ende des Schachts. Der Kampf hatte begonnen. Zweieinhalb Lichtminuten von Janus entfernt waren die Perückenköpfe und vielleicht auch ihre übrigen Verbündeten auf die Ungebändigten gestoßen. Durch das immer noch offene Tor am Ende der Kammer drangen blitzende, zuckende Hinweise auf die tobende Schlacht. Blauweißes Licht verschob sich über Ultraviolett in den Röntgen- und Gammabereich. Die Strahlung brauchte zweihundert Sekunden, um Janus zu erreichen, wo sie von Überwachungskameras auf der Außenseite des Eisernen Himmels registriert wurde. Die Kameras in der Nähe des Tores waren längt durch verirrte Schüsse ausgeschaltet worden.

Bella versuchte, Jim Chisholm über den Botschaftskanal anzurufen, aber nachdem sie die zu erwartende Zeitverzögerung von fünf Minuten abgewartet hatte, sah sie ein, dass es keine Verbindung gab. Sie ging nicht sofort davon aus, dass Chisholm das Leben verloren hatte, obwohl das Ausbleiben einer Antwort sie keineswegs beruhigte. Offensichtlich wurde immer noch gekämpft, was bedeutete, dass die Ungebändigten noch nicht gewonnen haben konnten. Vielleicht schlug die Allianz den letzten Widerstand nieder. Die Perückenköpfe hatten gesagt, dass sie schon bei einer früheren Gelegenheit mit den Ungebändigten zu tun gehabt hatten. Dabei mussten sie einiges über die Schwächen ihres Gegners erfahren haben, was sie für diesen Kampf nutzen konnten.

Aber die Blitze hörten nicht auf. Hin und wieder gab es eine Pause, und Bella hoffte (oder fürchtete), dass der Kampf entschieden war. Dann ging es weiter, manchmal mit noch größerer Heftigkeit, und die weiterhin aktiven Sensoren wurden von Strahlungsschauern überflutet, die selbst für einen Menschen im Raumanzug tödlich gewesen wären. Gelegentlich kamen Störgeräusche über den Botschaftskanal herein, als würde jemand oder etwas versuchen, eine Nachricht zu senden, aber nicht durchkommen.

Obwohl sie weit vom Ursprungsort der Blitze entfernt war, spürte Bella die Wildheit der Schlacht. Es war schlimm genug, sie aus der Ferne zu verfolgen, doch wenn sie Jim Chisholm glauben konnte, wäre es für sie hier schon bald gefährlicher als in der Kampfzone.

Bella hatte sich schon oft Gedanken über den Ablauf ihres Lebens gemacht und sich gefragt, wie es eines Tages enden mochte. Sie hatte sich immer sanftes Licht und Krankenhausvorhänge, falsches Lächeln, Plastikblumen und traurige Besucher vorgestellt. Trotz Garrisons Schicksal hatte sie sich nie vorgestellt, im Weltraum zu sterben. Und sie hätte sich nie träumen lassen, dass sie vielleicht als Kollateralschaden in einem strategischen Konflikt zwischen verfeindeten Alien-Zivilisationen endete, in so ferner Zukunft, dass ihre Spezies nur noch als archäologische Fußnote existierte.

Vielleicht war sie undankbar, aber sie betrachtete diese Entwicklung nicht unbedingt als positiv.

Sie fragte sich, wie Svetlana die Dinge sah.

 

Der Zug traf pünktlich ein. Die Türen schoben sich genau vor die Andocköffnungen, die in die Wände des Tunnels geätzt waren. Glasabsperrungen gingen zischend auf, begleitet von Warnsignalen.

Niemand auf dem Bahnsteig rührte sich oder sagte etwas. Sie waren zu acht: Bella, Ryan Axford, Liz Shen, Mike Takahashi und vier weitere von Bellas zuverlässigsten Leuten. Sie hatte Takahashi dazugebeten, weil er zu Parrys früherem Bergleuteteam gehört hatte und alle ihn mochten. Sie hoffte, dass sich die Situation durch seine Anwesenheit entspannen würde. Parry war ebenfalls da. Der Justizausschuss hatte ihn kurz zuvor ausgeliefert. Er stand im Hintergrund der Gruppe und wurde von einem Roboter bewacht, der wie ein Garderobenständer aussah. Niemand trug einen Raumanzug, wie Bella angeordnet hatte. Sie waren normal gekleidet und hatten auf jeden Schmuck oder Pomp verzichtet, damit offensichtlich war, dass sie keine Waffen trugen.

Aus dem Zug traten drei Gestalten, die weiße Anzüge der Chakri-5-Serie trugen. Sie waren glatt wie Skulpturen aus Speckstein. Es war keine externe Ausrüstung zu erkennen, die man für Waffen hätte halten können. Bella hatte Jim Chisholms Chakri-5 untersuchen lassen. Daher wusste sie, dass der Anzug den Träger zwar vor allen möglichen gefährlichen Situationen schützen konnte, aber selbst nicht in der Lage war, anderen Schaden zuzufügen.

Die drei Gestalten entfernten sich von der gläsernen Abtrennung, und hinter ihnen schlossen sich die Zugtüren wieder. Sie stellten sich im Dreieck auf und näherten sich langsam dem Empfangskomitee. Nach der Hälfte der Strecke blieben sie stehen. An der Gangart erkannte Bella, dass Svetlana an der Spitze des Dreiecks stand.

Bella sprach zuerst. Ihre Kehle fühlte sich ausgetrocknet an, aber sie zwang die Worte heraus. »Danke, dass du gekommen bist. Wie du sehen kannst, sind wir alle unbewaffnet und ungeschützt. Du hast nichts von uns zu befürchten.«

Svetlanas verstärkte Stimme dröhnte aus dem vordersten Anzug. »Du hast Parry mitgebracht. Das ist gut.«

»Wir hatten eine Vereinbarung getroffen«, sagte Bella. »Ich habe die Absicht, meinen Teil zu erfüllen.«

»Also bist du bereit, dich an uns auszuliefern?«

»Sobald du uns den Schlüssel ausgehändigt hast. Wir brauchen ihn jetzt dringender als je zuvor. Ich weiß nicht, ob es dir aufgefallen ist, aber Janus entwickelt eine besorgniserregende Instabilität.«

»Nicht schon wieder diese Geschichte.«

»Es ist die Wahrheit. Die erste Evakuierungswelle ist bereits nach Underhole unterwegs. Wenn du das Kommando übernimmst, möchte ich, dass du die Evakuierung fortsetzt. Überlass Nick die Leitung. Er wird sich um alles kümmern.«

»Du willst mir erklären, was ich machen soll, wenn ich die Macht übernehme?«

»Ich fühle mich verpflichtet, meine Verantwortung bis zur letzten Sekunde zu erfüllen und alles zu tun, um Janus zu retten.«

»Gut. Die Daten kommen gleich.« Svetlanas Tonfall wurde geschäftsmäßiger. »Sie sind in meinem Anzug gespeichert, im üblichen Format für Schmiedekesselprogramme. Wenn du irgendwelche Tricks versuchst, werde ich die Datei löschen. Danach lässt sie sich nicht mehr rekonstruieren.«

»Ich werde keine Tricks versuchen. Ich will nur den Schlüssel. Das Einzige, was mich noch interessiert, ist die reibungslose Evakuierung der Kolonie und die Garantie, dass wir die Menschen durch das Tor aus dieser Kammer bringen können.«

»Sie sagt die Wahrheit«, sagte Mike Takahashi.

Svetlana hob langsam die Hände und öffnete ihren Helm. Sie nahm ihn ab und drückte ihn an die Seite ihres Anzugs, wo er haften blieb. Sie blickte sich zu ihren Begleitern um, die daraufhin ebenfalls die Helme abnahmen. Denise Nadis schüttelte ihre Dreadlocks und ließ sie über den Halsring des Anzugs hängen. Josef Protsenko war das dritte Mitglied der Gruppe. Er nickte Bella ohne Feindseligkeit zu, als wäre das alles nur eine unangenehme bürokratische Notwendigkeit.

»Ich werde dir den Schlüssel geben«, sagte Svetlana, »aber nicht in einem Stück. Ich habe die Datei geteilt. Keine Hälfte ist ohne die andere zu gebrauchen.«

Bella zuckte die Achseln. »Ganz wie du es durchziehen möchtest.«

»Schick Parry zu mir herüber. Wenn ich ihn habe, bekommst du eine Hälfte der Datei.«

Bella gab dem Wachroboter ein Zeichen. Die Maschine führte Parry über den Bahnsteig, bis er genau vor Svetlana stand.

»Lass ihn frei«, sagte Bella. Der Justizausschuss hatte ihr die verbale Befehlsgewalt über diesen Roboter gegeben. Er löste Parrys Handschellen und trat auf seinen dürren schwarzen Beinen zurück. Parry streckte die Arme aus und rieb sich die Handgelenke, wo er gefesselt gewesen war.

»Hat sie dich verletzt?«, fragte Svetlana.

Parry schüttelte den Kopf. »Mit geht es bestens, Baby. Bella hat mich gut behandelt.« Er versuchte sie zu küssen, doch die Masse des Anzugs ließ nicht zu, dass er ihr zu nahe kam. Er gab es auf und blickte sich zu Bella um. »Ich bin freiwillig mit den Beweisen zu dir gekommen«, sagte er. »Ich kann dir deine Entscheidungen nicht zum Vorwurf machen.«

»Ich weiß«, sagte sie. »Du brauchst deswegen kein schlechtes Gewissen zu haben. Es ist nicht dein Kampf.«

Svetlana nahm den Helm von der Hüfte. »Ich werde ihn jetzt wieder aufsetzen, Bella. Ich muss den Helm tragen, um dem Anzug sagen zu können, dass er die Datei übermitteln soll. Du vertraust mir doch, nicht wahr?«

»Tu, was du tun musst.«

Svetlana setzte den Helm auf. Nach zwanzig oder dreißig Sekunden nahm sie ihn wieder ab. »Die Übermittlung müsste gleich abgeschlossen sein. Es ist eine große Datei, auch wenn es nur die Hälfte des Materials ist. Ich habe sie an die Adresse gemailt, die du angegeben hast.«

»Ich muss mich vergewissern, dass sie angekommen ist«, sagte Bella und zog den Reißverschluss ihrer Jacke auf. »Ich werde meinen Flextop herausholen und Wang anrufen. Kannst du damit leben?«

»Mach nur.«

Bella zog den Flextop hervor und ließ ihn mit einer ruckartigen Drehung des Handgelenks steif werden. Diese Bewegung war ihr inzwischen so vertraut, dass es sich anfühlte, als wäre sie fest in ihre Muskeln einprogrammiert. Der Flextop erwachte zum Leben und zeigte die Optionen des Schiffsnetzes. Demnach waren die normalen Dienste aufgrund der Notsituation vorübergehend außer Funktion gesetzt. Aber Bella wollte ohnehin nicht auf normale Dienste zurückgreifen.

Wenig später hatte sie Verbindung mit Wang. Er war weißhaarig wie ein Zauberer, uralt wie die Erde und hatte keinerlei Ähnlichkeit mehr mit dem eifrigen jungen Mann, der vor einem halben Jahrhundert auf Janus abgestürzt war. Nur wenn er lächelte, schien es, dass diese Zeit wieder lebendig wurde. Er war ein tapferer Mann, der sich bereit erklärt hatte, in seinem Labor zurückzubleiben, während die übrige Kolonie die Flucht ergriff.

»Ich habe die Daten, Bella. Die Hälfte einer Bauplandatei.«

»Das ist gut. Die zweite Hälfte wird in Kürze eintreffen. Welchen Eindruck hast du?«

»Ich würde Tage brauchen, um allein die Dateiinformationen zu prüfen. Es gibt nur eine Möglichkeit, sich zu vergewissern, dass es wirklich eine Bauplandatei ist: Wir müssten abwarten, was geschieht, wenn wir einen Schmiedekessel damit programmieren.«

»Ich verstehe. Bitte denk daran, dass diese Datei etwas außergewöhnlich sein dürfte.«

Sie unterbrach die Verbindung, faltete den Flextop zusammen und steckte ihn wieder unter ihre Jacke, um ihn zu wärmen. »Jetzt reden wir über die zweite Hälfte.«

»Also über dich«, sagte Svetlana.

Bella breitete großmütig die Arme aus. »Ich gehöre dir. Wie möchtest du vorgehen?«

Das Tempo der Ereignisse und Bellas Nachgiebigkeit irritierten Svetlana ganz offensichtlich. »Du könntest damit anfangen, dass du deinen Rücktritt bekannt gibst.«

Bella verlor keine Zeit. »Ich trete zurück. Was noch?«

»Gib bekannt, dass du die Befehlsgewalt an mich abtrittst.«

»Das würde ich gerne tun.« Bella legte einen Finger an die Lippen. »Das Problem ist nur, dass ich gerade zurückgetreten bin. Ich besitze jetzt nicht mehr Autorität als du. Oder möchtest du, dass ich meinen Rücktritt widerrufe, damit ich es tun kann?«

Svetlana knurrte missmutig. »Geh zum Zug. Ganz hinten gibt es eine offene Tür.«

»Nur ich?«

»Nur du, Bella.« Svetlana fasste Liz Shen und die anderen Lind-Anhänger ins Auge. »Hier geht es nicht um Schuldvorwürfe. Jeder wird gerecht behandelt, auch du.«

Bella tat wie befohlen, dann blieb sie vor der Tür stehen. »Ich werde jetzt einsteigen. Gehe ich recht in der Annahme, dass der Zug mich nach Neustadt bringen wird, wo ich in irgendeiner Form inhaftiert werde?«

»Janus ist nicht groß genug für uns beide«, sagte Svetlana. »Wir können hier nur gemeinsam existieren, wenn eine von uns beiden eingesperrt ist.«

»Hauptsache, du bringst unsere Leute von hier weg. Es ist mir egal, wenn du mich zurücklässt, aber sorge dafür, dass die Stadt evakuiert wird.«

»Das hatten wir doch längst abgehakt. Niemand wird irgendwohin evakuiert.«

»Ist Emily in Neustadt?«

»Du weißt, wo sie ist.«

»Dann verurteilst du deine eigene Tochter zum sicheren Tod. Wenn dir etwas an ihr liegt – wenn dir noch irgendetwas an anderen Menschen liegt –, schaff sie sofort in den Zug.«

»Ziemlich mies von dir, Bella, diese Art von emotionaler Erpressung.«

»Ich weiß, dass du Emily liebst. Noch hast du die Chance, sie zu retten.«

»Steig in den Zug.«

»Einen Moment noch. Vorher möchte ich dir noch etwas zeigen.«

»Du hast ausgespielt, Bella.«

»Das mag sein, aber ich habe Chromis noch nicht ausgespielt.«

»Chromis?« Der Name bedeutete Svetlana nichts.

Bella blickte auf den Würfel. Svetlana folgte ihrem Blick. Der Würfel war die ganze Zeit da gewesen und hatte still im Hintergrund des Bahnhofs gewartet.

Svetlana blieb gerade genug Zeit, ihn wiederzuerkennen und Überraschung zu zeigen.

Dann bewegte sich die Luft. Ein Sturm aus schwarzen Gestalten brach aus dem Würfel hervor. Sie waren unheimlich schnell und bewegten sich wie die rasenden Schatten von Wolken an einem stürmischen Tag. Die Vögte strömten herbei und umkreisten die zwei Gruppen in einem gefährlichen schwarzen Wirbel. Der Luftzug war so stark, dass ihre Kleidung flatterte und sie sich gegen den Wind stemmen mussten. Immer noch strömten sie aus dem Würfel, ein endloser Schwall aus Schwarz, der den physikalischen Gesetzen zu trotzen schien, da ein so kleines Raumvolumen unmöglich so viel Masse enthalten konnte. Schlagartig hörte die wirbelnde Bewegung auf, und die Vögte standen plötzlich auf dem Boden. Es waren viele Dutzend, die reglos auf dem Bahnsteig in Stellung gegangen waren – schwarz, schlank, die Hände wie Klingen, die Gesichter wie Äxte, ein Schrecken aus den Tiefen der Geschichte.

Der Wind ebbte ab, auf dem Bahnhof wurde es still.

»Tu nichts, sag nichts, denk nichts«, sagte Bella, die immer noch neben dem Magnetbahnwaggon stand. »Diese Dinger sind sehr, sehr gefährlich.«

Svetlana fand den Mut zum Sprechen. »Was sind sie?«

»Vögte«, sagte Bella. »Vollstreckungsinstrumente. Sie bestehen aus reiner Femtotechnik. Es sind vermutlich um die hundert, aber der Würfel könnte ein paar tausend produzieren, wenn ich ihm dem Befehl geben würde.«

Svetlana sah den Würfel stirnrunzelnd an. »Ich wusste, dass du ihn gefunden hast. Ich habe auch gehört, dass du offenbar nicht mehr Glück hattest als ich, seine Funktion zu enträtseln.«

»So war es nur zu Anfang«, sagte Bella. »Der Unterschied ist der, dass ich ihn berührt habe.«

»Du hast ihn berührt?«

»Er ist eine Botschaft an mich, die achtzehntausend Jahre nach unserem Aufbruch abgeschickt wurde. Eine Art Ehrerbietung und so etwas wie ein Werkzeugkasten.«

»Achtzehntausend Jahre«, sagte Svetlana und schüttelte automatisch ungläubig den Kopf.

»Das ist nur der Anfang«, sagte Bella. »Es tut mir leid, aber wir sind schon viel, viel weiter als achtzehntausend Jahre in die Zukunft vorgestoßen. Wie weit, kann ich nicht sagen – aber es müssen mehrere zehn Millionen Jahre sein, wahrscheinlich sogar noch mehr.«

»Und das alles weißt du einfach so.«

»Ich weiß, dass die Menschen längst ausgestorben sind. Wir sind die Einzigen, die noch übrig sind. Der Würfel hat mir viel erzählt, Svetlana, aber das war noch längst nicht alles. Auch du hattest deine Zweifel. Irgendwann warst du überzeugt, dass die Perückenköpfe uns Lügen erzählen.«

»Ja«, sagte sie mit einer Spur Unbehagen.

»Du hattest Recht. Aber sie haben aus Rücksicht auf uns gelogen. Wir waren einfach noch nicht für die Wahrheit bereit.«

»Was soll jetzt passieren, Bella?« Svetlana blickte auf das Regiment der Vögte. »Du hast die Oberhand.«

»Nichts hat sich geändert«, sagte Bella. »Das sollte nur eine Demonstration sein, mehr nicht. Gleich werden die Vögte in den Würfel zurückkehren, und alles wird wie geplant weitergehen. Ich steige in den Zug, und du schickst Wang die Datei. Wang wird den Schlüssel produzieren, dann wirst du zusammen mit allen anderen von Janus verschwinden.«

»Und warum zeigst du mir das alles?«

»Weil ich es tun könnte. Damit du weißt, dass ich all das schon vor Stunden hätte beenden können. Ich hätte Neustadt einnehmen können, Svieta. Innerhalb weniger Minuten. Es hätte ein paar Todesopfer gegeben, aber die Vögte hätten sich ohne Schwierigkeiten gegen euch durchgesetzt.«

Svetlana verstand es immer noch nicht. »Warum hast du es also nicht getan?«

»Ich bin müde, Svieta«, sagte Bella. »Es geht mir genauso wie Parry, als er die Mörder deckte. Ich wollte nicht, dass es noch mehr Tote gibt. Wenn ich es nur schaffe, indem ich vor dir kapituliere, indem ich dir alles gebe, was du haben willst, dann bin ich bereit, es zu tun. Aber du solltest wissen, dass es anders hätte ablaufen können.« Bella verstummte, doch dann empfand sie das Bedürfnis, noch etwas hinzuzufügen. »Vorläufig hast du gewonnen, Svieta. Du übernimmst die Verwaltung, und du bekommst Parry zurück. Aber wenn ich diesen Zug besteige, werde ich nach Neustadt fahren und wissen, dass ich das Richtige getan habe. Wenn du gerne glauben möchtest, dass ich dir damit nur meine moralische Überlegenheit demonstrieren will, dann werde ich dich nicht daran hindern. Es wird mir kein großer Trost sein, wenn Janus explodiert.« Sie wandte sich dem Zugwaggon zu.

»Warte«, sagte Svetlana. Sie hob ihren Helm und blickte stirnrunzelnd auf das interne Helmdisplay.

»Schick Wang die zweite Hälfte der Datei«, sagte Bella.

»Warte, verdammt noch mal! Hier passiert etwas. Ich verstehe es nicht, aber …«

»Was?«, fragte Bella.

»Dem Anzug passt irgendwas nicht. Ich muss den Helm wieder aufsetzen. Sag deinen … Vögten, dass sie ruhig bleiben sollen.«

»Tu es langsam«, warnte Bella.

Svetlana setzte den Helm wieder auf. Diesmal dauerte es länger als beim letzten Mal. Als sie ihn wieder abnahm und an die Seite des Anzugs heftete, konnte Bella ihren Gesichtsausdruck nicht deuten. Es war etwas zwischen Beleidigung und Angst.

»Was?«, wiederholte Bella.

»Ich weiß es nicht«, sagte Svetlana mit Verständnislosigkeit in den weit aufgerissenen Augen. »Ich weiß nur … dass ich Neustadt nicht mehr sehen kann.«

»Was meinst du damit?«

»Es ist nicht mehr da. Es ist aus dem Netz verschwunden.«

Etwas überzeugte Bella, dass es kein Trick war. Sie zog ihren Flextop hervor und schaute im Schiffsnetz nach.

Es war genauso, wie Svetlana gesagt hatte: Es gab keine Verbindung nach Neustadt.

»Etwas ist passiert«, sagte Bella.

»Ich weiß. Ich weiß, dass etwas passiert ist.«

»Es betrifft nur Neustadt. Es kann nichts mit dem zu tun haben, was die Moschushunde mit Janus anstellen.«

»Das war eine Falle«, sagte Denise Nadis. »Der ganze Plan … diese Dinger … damit sollten wir nur von der eigentlichen Schweinerei abgelenkt werden. Sie hat irgendwas mit Neustadt gemacht.«

»Das habe ich nicht«, sagte Bella mit Nachdruck. »Glaub mir, damit habe ich nichts zu tun. Vielleicht irre ich mich, und Janus wird schon in wenigen Minuten explodieren. Vielleicht sind die Ungebändigten doch schon hier und …«

»Es hat nichts mit Janus und auch nichts mit den Ungebändigten zu tun«, sagte Chromis, als sie in lebensgroßer Gestalt aus der gravierten Seite des Gedächtniswürfels trat. »Aber es handelt sich möglicherweise um eine Frage der Bändigung.«

Alle sahen sie an, nur nicht Bella. Alle konnten die Politikerin sehen.

Chromis blieb stehen und verbeugte sich. »Verzeiht meine Unhöflichkeit. Ich wünschte, wir hätten Zeit, uns miteinander bekannt zu machen. Ich glaube, Bella kann sich für mich verbürgen. Mein Name ist Chromis Anemone Laubenvogel, und ich bin schon seit sehr langer Zeit tot. Aber nehmt mir das bitte nicht übel.«

»Du bist materiell«, sagte Bella verdutzt.

»Nachdem die Vögte aufgetreten sind, ist eine weitere Geheimhaltung überflüssig geworden.« Chromis berührte den perlweißen Stoff ihres Gewandes. »Ich möchte alle Anwesenden nachdrücklich darauf hinweisen, dass ich kein körperlich existierender Mensch bin. Ich bin lediglich eine plausible Extrapolation einer längst verstorbenen Persönlichkeit. Dieser Körper ist ebenfalls nur eine Hülle aus Femtotechnik, genauso wie bei den Vögten.« Ihre Miene wurde vorübergehend traurig. »Obwohl es sich für mich sehr echt anfühlt, wenn ich meinen Erinnerungen an das Leben trauen kann.«

»Was ist geschehen, Chromis?«, fragte Bella.

»In Neustadt ist es zu einem äußerst bedauerlichen Zwischenfall gekommen.« Chromis bedachte Svetlana mit einem strengen Blick. »Es gibt dort einen Schmiedekessel. Ihr habt versucht, den Schlüssel zu produzieren.«

»Ja«, sagte Svetlana mit neu aufflackerndem Trotz, »aber das sollte kein Täuschungsmanöver sein. Ich habe mich einverstanden erklärt, Wang die Konstruktionsdatei zu geben. Ich habe nie behauptet, dass ich sie nicht selber nutzen würde. Ich dachte mir, dass das die klügste Vorgehensweise wäre.«

»Ich fürchte, ihr habt euch damit in … gewisse Schwierigkeiten gebracht«, sagte Chromis.

»Ich verstehe nicht, was hier los ist«, sagte Svetlana wütend. »Sag mir endlich, was mit Neustadt passiert ist. Meine Tochter ist dort. Ich möchte wissen, dass es ihr gut geht.«

»Möglicherweise nicht«, sagte Chromis nur.

»Rede mit mir!«, verlangte Svetlana.

»Zur Herstellung des Schlüssels ist Femtotechnik nötig. Die Moschushunde haben dich vielleicht vor diesem Punkt gewarnt.«

»Das haben sie«, sagte Svetlana. »Aber sie meinten, ich könnte auch einen normalen Kessel benutzen.«

»Ich bezweifle nicht, dass sie das gesagt haben.« Chromis’ Miene wurde zornig. »Sie haben wahrscheinlich auch so etwas wie einen temporären Kern erwähnt. Das ist höllisch gefährlich. Es gibt nur eine sichere Methode, Femtotechnik zu produzieren, und zwar mit einem metastabilen Kern.«

»Was ist schiefgegangen?«, fragte Bella.

»Der Kern ist gebrochen«, erklärte Chromis. »Replikationsfähige Femtotechnik ist nach draußen gelangt. Sie dürfte den Schmiedekessel innerhalb weniger Sekunden vernichtet haben, den Raum nach ein paar weiteren Sekunden und den größten Teil von Neustadt nach einer Minute. Stell dir eine nukleare Explosion vor, Bella, aber verlangsamt, ein schwarzes, brodelndes Chaos. Dann hast du ein ungefähres Bild, was dort vor sich geht.«

Svetlana und Bella sprachen gleichzeitig. »Woher weißt du das alles?«

Chromis sah sie beide verärgert an. »Weil ich bereits dort bin. Wie wohl sonst?«

»Du stehst hier neben mir, Chromis«, stellte Bella fest.

»Ein Teil von mir ist hier«, erklärte sie geduldig, »aber mehrere hundert Kilogramm von mir sind derzeit in Neustadt, und von Sekunde zu Sekunde verlagere ich mehr von mir dorthin. Brauchst du die Vögte noch?«

»Nein«, sagte Bella.

Wieder tobte ein Sturm durch die Luft. Dann waren die Vögte verschwunden.

»Sie sind unterwegs«, sagte Chromis. »Wenn sie dort sind, werden sie mit dem Material verschmelzen, das ich bereits abgestellt habe.«

Bella warf einen Blick zu Svetlana und fragte sich, wie viel sie von allem verstand. »Um was zu tun?«

Die Frage war eine schwere Prüfung für Chromis’ gewöhnlich unerschütterliche Geduld. »Um etwas Konstruktives gegen die Kettenreaktion zu unternehmen. Was wohl sonst?«

»Tut mir leid«, sagte Bella.

»Lässt es sich aufhalten?«, fragte Svetlana.

»Ich weiß es nicht. Möglicherweise.«

»Meine Tochter … die anderen Menschen … du musst etwas für sie tun.«

»Viele von ihnen sind bereits tot«, teilte Chromis ihr mit.

Svetlana wurde blass. »Emily … sag mir, dass Emily nichts passiert ist.«

»Was kannst du tun?«, fragte Bella. »Sie hat Recht. Ganz gleich, was geschehen ist, wir müssen die Überlebenden retten.«

»Nach den ersten Anzeichen scheinen die Replikationselemente deformiert zu sein, was sich zu unseren Gunsten auswirken könnte. Wenn meine femtotechnischen Elemente eine Eindämmungshülle um die entartete Materie bilden können, gelingt es mir vielleicht, Einfluss zu nehmen und die Replikatoren zu überreden, sich zu zerlegen, was sie letztlich sowieso tun sollten.« Chromis ballte die Hand zur Faust, als würde es sie bereits jetzt große Anstrengung kosten. »Aber nichts ist gewiss. Femtotechnik ist kein Kinderspielzeug.«

Bella bemerkte plötzlich etwas. Obwohl die Vögte verschwunden waren, spürte sie immer noch einen leichten Luftzug. Dann erregte eine schwache, beinahe unterschwellige Bewegung ihre Aufmerksamkeit.

Eine schwarze Linie kam aus einer leeren Seite des Würfels. Bella beobachtete, wie sie sich durch die Luft schlängelte, bis sie das Dach des Bahnhofs erreichte, sich ins Vakuum dahinter durchtunnelte und dann die achtzig Kilometer bis Neustadt überwand.

Eine schwarze Schlauchverbindung aus Femtotechnik.

»Wie viel von dir wird dazu nötig sein?«, fragte Bella.

»Mehr, als ich gehofft hatte.« Chromis’ Miene zeigte feste Entschlossenheit. In diesem Moment erkannte Bella das politische Holz, aus dem das Jubiläumsprojekt geschnitzt worden war. Chromis Anemone Laubenvogel musste eine Frau gewesen sein, die nicht so schnell aufgegeben hatte.

»Wie viel vom Würfel hast du schon hinübergeschickt?«, fragte Svetlana.

»Ich habe bereits hundert Tonnen transferiert. Sie bilden eine Hülle, die aber noch nicht stark genug ist. Sie wird so schnell assimiliert, wie ich sie schicken kann. Dazu ist noch mehr von mir nötig.«

»Wie viel mehr?«, fragte Svetlana.

»Ich weiß es nicht. Ich gebe mein Bestes.«

»Wie viele sind gestorben? Wie viele leben noch?«

Chromis antwortete nicht.

Bella bemerkte bestürzt, dass der Würfel nicht mehr so groß wie vorher war. Er schrumpfte zusehends, während er einen immer größeren Teil seiner Substanz für die Schlacht um Neustadt opferte.

»Chromis …«, sagte sie.

»Es geht nicht anders, Bella.«

»Du stirbst.«

»Es ist meine Aufgabe, mich nützlich zu machen.« Dann sah sie Bella mit ernster, aber tröstender Miene an. »Trotzdem brauchst du den Schlüssel.«

»Du hast völlig Recht«, sagte Bella und erinnerte sich plötzlich daran, dass Svetlana immer noch nicht die zweite Hälfte der Datei übermittelt hatte. »Svieta, wir brauchen sofort den Rest der Daten.«

»Schick alles zu mir«, sagte Chromis in einem Tonfall, der Aufmerksamkeit verlangte. »Beide Dateien. Solange ich noch Zeit habe, werde ich versuchen, die schlimmsten Fehler zu entfernen. Dann besteht zumindest eine gewisse Chance, dass ihr mit einem größeren Schmiedekessel Erfolg habt.«

Svetlana sah sie hilflos an. »Wie soll ich sie dir schicken, Chromis?«

»Du hast Recht. Dazu ist nicht genug Zeit. Tritt vor.« Svetlana gehorchte, ohne nachzudenken. »Vertraust du mir?«

Svetlana schaute zu Bella. In ihrem Blick war etwas, das noch einmal zu sehen Bella nicht gedacht hatte. Es war keine Freundschaft oder gar Zuneigung – für so etwas war es bereits viel zu spät –, aber es war etwas, das Respekt sehr nahe kam, und das war etwas, das Bella schon sehr lange nicht mehr gesehen hatte.

Svetlana wollte von Bella wissen, was sie dachte.

»Vertrau ihr«, sagte Bella.

Svetlana ließ zu, dass Chromis sie berührte. Die Frau in Weiß verlor sofort ihre Gestalt und hüllte Svetlana ein. Sie floss über sie wie ein Schwall Milch. Die weiße Membran zitterte, hielt inne und nahm dann wieder die Umrisse einer stehenden Frau an.

Svetlana war immer noch da. Ihr Mund stand offen, und sie atmete schwer.

»Ich habe die Daten«, sagte Chromis. »Es wird einen Moment dauern, also geduldet euch bitte.«

Bella erschauderte, als sie an die Qual der hektischen Datenverarbeitung dachte, der Chromis sich unterzog. Der Politikerin musste klar sein, dass sie sterben würde – oder zumindest verwundet und geschwächt aus der Schlacht hervorgehen würde, die sie in Neustadt ausfocht. Der Würfel war auf die Hälfte seiner ursprünglichen Größe geschrumpft und wurde mit jeder verstreichenden Sekunde kleiner, während sich der Materiestrom verstärkte.

»Es funktioniert nicht, stimmt’s?«, sagte Bella bedrückt.

»Doch«, sagte Chromis mit Nachdruck. »Es funktioniert endlich. Wie ich sagte, sind die Elemente deformiert. Es hat nur ein wenig mehr Zeit und Mühe gekostet, als ich erwartet hatte …«

»Also gewinnst du?«

»Ja.« Aber der Würfel schrumpfte immer noch. Bella fragte sich, wie viel Substanz Chromis entbehren konnte, bevor die verteilte Simulation ihrer Persönlichkeit den Zusammenhalt verlor.

»Ich habe Angst«, sagte sie.

»Deine Angst ist berechtigt. Ich will dir einen Rat geben. Wenn ihr den Schmiedekessel startet, bringt ihn vorher in den Weltraum. Dort kann die Femtotechnik wenigstens keine Materie in der Umgebung befallen, falls es erneut zu Schwierigkeiten kommt. Die Datei ist übrigens bereit. Damit ist sie noch lange nicht sicher, obwohl es mir gelungen ist, die ungeheuerlichsten Fälle nachlässiger Assemblerprogrammierung zu entfernen …«

»Kannst du sie an Wang schicken?«, fragte Bella.

»Schon passiert.«

»Vielen Dank«, sagte Bella.

»Ich wünsche dir damit alles Glück, Bella. Bedauerlicherweise werde ich nicht lange genug hier sein, um das Ergebnis zu sehen.«

Der Würfel war auf die Größe eines Schemels geschrumpft, und der Prozess ging weiter. Er war wie ein abstrakter Block aus Schwarz, der sich in die Ferne zurückzog.

»Chromis … nein! Du hast doch gesagt, dass du gewinnst.«

»So ist es. Daran darfst du nicht zweifeln. Leider beansprucht die Aufgabe mehr von mir, als ich für die Datenverarbeitung erübrigen kann.«

»Aber wenn die Eindämmung gelungen ist – kannst du dich dann nicht rekonstruieren?«

Chromis schüttelte bedauernd den Kopf, als würden sie über Bellas Schwierigkeiten und nicht über ihre eigene bevorstehende Auslöschung sprechen. »Es wird nicht viel Femtotechnik übrig bleiben, weder von mir noch vom Kern.« Sie seufzte und griff wieder nach dem Stoff ihres Gewandes. »Ich fürchte, ich kann diese Masse nicht länger erübrigen. Ich werde sie in die Schlacht werfen müssen. Es ist eine Schande. Es war richtiggehend nett, nach so langer Zeit im Würfel wieder über einen Körper zu verfügen.«

Sie verschwand.

Bella starrte benommen auf die Stelle, wo sie gestanden hatte. Einen Moment später tauchte Chromis wieder auf.

»Keine Sorge«, sagte sie. »Nur du kannst mich jetzt noch sehen, Bella. Aber auch in dieser Form kann ich nicht lange bleiben. Meine Rechenleistung ist bereits sehr stark eingeschränkt. Ich wollte dir nur sagen, wie sehr ich es genossen habe, von dir gefunden worden zu sein.« Bella wollte etwas sagen, doch Chromis schnitt ihr mit behutsamer Hartnäckigkeit das Wort ab. »Nein – lass mich bitte zu Ende sprechen, bevor ich gehe. Ich bin nicht die Einzige, Bella. Ich habe dir gesagt, dass wir sehr viele Jubiläumswürfel auf den Weg gebracht haben. Wenn dieser überlebt hat, gibt es vielleicht weitere. Irgendwo da draußen könnten noch mehr von mir sein. Du müsstest sie nur finden.«

»Aber sie wären nicht du.«

»Aber sie wären Chromis«, stellte sie richtig. »Und jede Chromis hat es verdient, eines Tages ihre Bella zu finden. Du hast mich sehr glücklich gemacht. Jetzt sei zu einer anderen genauso freundlich. Versprich es mir bitte.«

»Ich werde mir Mühe geben«, sagte Bella.

»Das muss genügen.« Chromis lächelte, hob die Hand zum Abschied und verschwand. Diesmal war es endgültig. Bella wusste es auf einer elementaren Ebene, denn plötzlich war eine hallende Leere in ihrem Kopf, wie ein Haus, das nach der Abreise eines Gastes zu groß wirkte. Sie hatte Chromis gemocht, und sie würde ihre stille Weisheit in Zukunft vermissen.

Sie schaute zum Würfel, aber von ihm war nichts mehr übrig.

Längere Zeit wagte niemand, etwas zu sagen. Selbst jene, die Chromis nicht gekannt hatten, waren durch ihr Opfer gerührt, und es herrschte ein kollektiver Widerstand, die ehrfürchtige Stille zu stören.

Es war Bella, die schließlich das Wort ergriff. Sie nickte dem Wachroboter zu. »Nimm Parry Boyce fest, bitte.«

Parry machte keine Anstalten, sich zu wehren, als der Roboter zu ihm trat und ihm wieder die Handschellen anlegte. Alles, was Bella von ihm zu wissen glaubte, sagte ihr, dass er es erdulden würde, aber sie erlaubte sich trotzdem einen Moment der Erleichterung, dass er sie nicht enttäuscht hatte.

»Jetzt ruf die anderen Wachroboter«, sagte sie und wandte sich den drei Vertretern von Neustadt zu.

»Was jetzt?«, fragte Svetlana.

»Ich übernehme wieder das Kommando«, sagte Bella und zwang sich dazu, jede Spur von Triumph aus ihrer Stimme zu verbannen. Sie verspürte Niedergeschlagenheit – und ein Gefühl der Verpflichtung. Jemand musste wieder die Zügel in die Hand nehmen.

»Und was dann?«, fragte Svetlana.

»Wir setzen die Evakuierung fort. An diesem Problem hat sich nichts geändert, wir sitzen immer noch auf einer tickenden Zeitbombe. In der Zwischenzeit werde ich ein Rettungsteam nach Neustadt schicken.« Sie sah Axford an. »Ryan, du solltest deine Leute lieber vorwarnen, dass mit zahlreichen Opfern zu rechnen ist. Wir müssen sie nur so lange am Leben erhalten, bis wir die Botschaft erreicht haben. Alles andere spielt keine Rolle.« Dann wandte sie sich an Shen. »Liz, ich möchte, dass du zu Nick gehst und schaust, was er beisteuern kann. Rechnet vorsichtshalber damit, dass wir bis zu einhundertzwanzig Menschen herausholen werden.«

Shen nickte. »Ich werde auch mit Wang sprechen. Er kann schon mal anfangen, Notrationen und Kleidung zusammenzubrauen.«

»Auf jeden Fall. Aber schärfe ihm ein, dass wir trotzdem den Schlüssel brauchen. Wenn sich dadurch die Arbeit am Schlüssel verzögern würde, müssen wir mit dem zurechtkommen, was wir bereits haben.«

»Gut«, sagte Shen gepresst.

»Wir brauchen unbedingt den Schlüssel«, insistierte Bella. »Alles wird umsonst gewesen sein, wenn wir das Tor nicht schließen können.«

»Wird erledigt«, sagte Shen.

»Du hast die Beiboote noch gar nicht erwähnt«, sagte Svetlana. »Sie könnten Neustadt in wenigen Minuten erreichen.«

»Es gibt keine Beiboote auf dieser Seite des Himmels«, gab Bella verärgert zurück, weil sie sie auf diese Tatsache hinweisen musste. »Und vergiss das Loch über Underhole. Es würde viel zu lange dauern, sich durch die Aufbauten zu bohren.«

»Die Moschushunde haben ein neues Loch gebohrt – durch das ich zurückgekehrt bin.«

Daran hatte Bella gar nicht mehr gedacht. Sie fragte sich, ob sie sich irgendwann daran erinnert hätte, wenn Svetlana es nicht angesprochen hätte. »Ist es groß genug, um ein Beiboot hindurchzukriegen?«

»Eins von den alten müsste problemlos hindurchpassen – die Crusader oder die Avenger.«

Bella sah Shen an. »Bereite alles vor, Liz. Es wird einige Zeit beanspruchen, sie zu betanken und startklar zu machen. Also brauchen wir trotzdem die Magnetbahnen und Traktoren. Du musst eine Landestelle in Crabtree einrichten, vorzugsweise in der Nähe eines Andockschlauchs an einer äußeren Kuppel.«

»Auch das wird erledigt«, sagte Shen.

Bella wandte sich an Svetlana. »Du hattest Recht. Ich hätte die Beiboote nicht vergessen dürfen.«

»Hoffen wir einfach, dass es funktioniert, okay?«

»Ja.«

»Was wird mit uns geschehen?«

»Protsenko und Nadis sind frei. Sie können sich bei Nick Thale melden und ihm in Underhole helfen, nachdem sie ihre Anzüge abgegeben haben.«

»Was willst du mit ihren Anzügen?«

»Ich brauche sie für die Rettungsaktion. Außerdem brauche ich zwei Freiwillige, die sie tragen, vorzugsweise Leute, die einige Erfahrung mit dem Modell Chakri-fünf haben.«

»Ich bin dabei«, meldete sich Parry automatisch, bevor Protsenko oder Nadis die Chance hatten, etwas zu sagen. »Ich habe Erfahrung mit den Fünfern, und ich kenne Neustadt genauso gut wie alle anderen hier.«

»Ich bin ebenfalls dabei«, sagte Takahashi und trat aus Bellas Gruppe vor.

Bella schüttelte kategorisch den Kopf. »Auf gar keinen Fall, Mike. Wir haben dich nicht zurückgeholt, um dich schon wieder zu verlieren.«

»Wenn Parry geht, gehe ich auch.«

»Du kennst dich in Neustadt nicht aus. Du hast wahrscheinlich nicht mehr als eine Stunde im Anzug verbracht, seit du aus der Botschaft gekommen bist.«

»Parry kann mich im Zug einweisen. Keine Diskussion, Bella. Das ist eine Sache unter Bergleuten.«

Sie sah ihn eine Weile streng an, dann seufzte sie. »Also gut«, sagte sie, als sie einsah, dass sie diese Schlacht niemals gewinnen würde.

Protsenko und Nadis legten ihre Anzüge ab, um sie den beiden Männern zu übergeben.

»Ich bin auch dabei«, sagte Svetlana. »Meine Tochter ist dort. Ich lasse nicht zu, dass jemand anderer an meiner Stelle sie findet.«

Bella blickte ihr in die Augen. »Du weißt, dass ich dich trotzdem verhaften muss, wenn wir aus Neustadt zurückkommen. Du hast die Anweisung missachtet, keinen Kontakt zu den Moschushunden aufzunehmen. Darüber hinaus hast du einen illegalen Schmiedekessel betrieben und eine ungenehmigte Konstruktionsdatei benutzt. Deine Handlungen haben möglicherweise zur Folge, dass wir Janus verlieren. Durch dich haben wir bereits Neustadt verloren. Ich hoffe inständig, dass es Überlebende gibt, Svieta, aber ich bin mir verdammt sicher, dass es Opfer gegeben hat.«

»Fertig mit der Predigt?«

»Vorläufig.«

Svetlana kniff misstrauisch die Augen zusammen. »Du hast gesagt, dass ›wir‹ aus Neustadt zurückkommen – das war ein Versprecher, nicht wahr?«

»Nein. Ich komme mit euch.«

»Aber du glaubst doch, dass uns Janus um die Ohren fliegen wird.«

»Ja.«

»Trotzdem willst du hier bleiben, obwohl du mit den anderen zur Botschaft gehen könntest?«

»Ja.«

Hinter Svetlanas Augen gab etwas den Widerstand auf. »Das musst du nicht tun«, sagte sie leise.

»Ich weiß. Aber ich tue es trotzdem. Wie Mike gesagt hat: Es ist eine Sache unter Bergleuten. Das waren wir alle einmal. Wir schieben Eis.«

»Das war vor langer Zeit.«

»Es scheint mir immer noch das Einzige zu sein, worin wir richtig gut sind, wenn ich mir ansehe, was gerade hier los ist.«

Takahashi und Boyce waren bereits in den Anzügen von Nadis und Protsenko. Die Modelle verlängerten sich hier und verengten sich dort, um sich den unterschiedlichen Körpermaßen der beiden Männer anzupassen. »Dann brauchst auch du einen Anzug«, sagte Takahashi zu Bella. »Lass dir von einem Roboter einen Fünfer bringen, dann können wir aufbrechen.«

»Ich bin nicht auf die Chakris trainiert«, sagte Bella. »Um genau zu sein, ist es schon etwa dreißig Jahre her, seit ich das letzte Mal irgendeinen Raumanzug getragen habe.«

»Aber du brauchst etwas«, insistierte Takahashi.

»In der Magnetbahn dürfte es Notanzüge geben. Solange sie die Luft halten, werde ich nicht zu wählerisch sein.«