Sechzehn
Die Klippe ragte hoch hinauf und über Svetlana hinweg. Der schwindelerregende Überhang war von bedrohlich wirkenden Rissen durchzogen. Seit den frühen Tagen des Aufbruchs von Janus kalbte das Eis nur noch selten, aber es brachen weiterhin größere Brocken ab. Die Wahrscheinlichkeit, dass es dazu kam, während sie unter dem Überhang standen, war beruhigend gering, aber Svetlana konnte ihre leichte Unruhe trotzdem nicht ganz abschütteln.
Sie blicke zurück und vergewisserte sich, dass Parry und Nick nicht zu weit zurückgefallen waren. Sie waren vom gelandeten Beiboot aus fünfzig Meter weit zu Fuß in nördlicher Richtung gegangen, bis zum feurigen Band der Lavastraße. Sie glühte orangerot und schnitt wie eine Spur aus brennendem Benzin durch das Eis.
In einer Richtung schlängelte sich die Straße zum Horizont. In der anderen verschwand sie in einem klobigen, eisbedeckten Block spicanischer Technik in der Größe eines Bürohochhauses. Wo sich kein Eis befand, hatten sie beobachtet, wie die Lava einfach über die Maschinen hinwegfloss und der Strom nur an den Stellen gestützt wurde, wo er aus dem Innern von Janus kam oder darin eintauchte. Man hatte Roboter unter den Strömen hindurchgeschickt, aber sie hatten keine besonderen Feldeffekte registriert.
Vor ihnen stimmte etwas mit dem Strom nicht. Statt dem üblichen geraden oder leicht gekrümmten Weg zu folgen, knickte die Straße hier abrupt fast im rechten Winkel ab. Hinter dem Knick hatte sich der Strom auf subtile Weise verändert. Die Farbe wechselte zu Rosa, und der Durchmesser der glühenden Röhre war verringert, als würde sie unter Druck stehen, als stünde sie kurz vor dem Zerbrechen.
Svetlana überließ Thale die Führung. Sie überquerten den Weg, dem der Strom gefolgt wäre, wenn es den Knick nicht gegeben hätte. Bitte spring jetzt nicht in die richtige Spur zurück, dachte sie.
»Nichts ist vorbeigekommen, um es zu reparieren«, sagte er. »Vielleicht gibt es irgendwo in Janus eine lange Warteliste, oder die Maschinen wissen nichts von dieser Störung, oder sie ist ihnen egal.«
»Und das hier wurde durch Eis verursacht?«, fragte Parry.
»Durch Eis und Gestein«, sagte Thale. »Als sich Janus noch in der Saturnumlaufbahn befand, muss ein Chondrit-Brocken in das Eis eingeschlagen sein. Als dieser Teil des Eisschildes zusammenbrach, wurde der Steinbrocken mitgerissen, der genau in dem Moment auf die Lavastraße stürzte, als ein Transporter vorbeikam.«
Parry und Thale hatten seit ihrem Aufbruch den größten Teil der Gespräche bestritten und das betroffene Schweigen mit angestrengtem Geplauder vertrieben. Thale und Svetlana hatten sich immer noch nicht vertragen, obwohl er inzwischen aus der Haft entlassen war und Svetlana widerstrebend einigen Erleichterungen für Bella zugestimmt hatte.
Sechs Jahre nach der Siedlungsgründung waren viele Wunden immer noch nicht verheilt. Die Kolonisten wurstelten sich Monat um Monat durch, als wären die alten Konflikte längst Geschichte. Für viele waren sie das auch – vor allem für jene, die geheiratet und Kinder bekommen hatten. Doch ein paar konnten die Vergangenheit einfach nicht ruhen lassen. Immer wieder geschah etwas, das Svetlana daran erinnerte, dass die Krise an Bord der Rockhopper noch lange nicht vergessen war, dass sie es nie sein würde. Auch wenn die Unruhestifter nicht die Absicht hatten, etwas an den politischen Verhältnissen in Crabtree zu ändern, gab es immer noch viele offene Rechnungen.
Die meiste Zeit ging es nicht über Drohungen und Einschüchterungen hinaus, aber gelegentlich ereignete sich etwas von größerer Tragweite. Jeder Unfalltod auf Janus musste im Licht der Vergangenheit untersucht werden. Meredith Bagley war das letzte bedauernswerte Opfer gewesen. Sie hatte Routinereparaturen in der Zentrifuge durchgeführt und tief im Antriebsmechanismus gesteckt, als sich die Zentrifuge plötzlich in Bewegung gesetzt hatte. Die vorläufige Untersuchung hatte ergeben, dass bestimmte Sicherheitssperren nicht eingestellt worden waren, was darauf hindeutete, dass sie zu sehr in Eile gewesen war.
Meredith Bagley war als gewissenhafte und gründliche Arbeiterin bekannt, aber es gab da noch die Geschichte, wie Bella mit Bagleys Hilfe hinter Svetlanas Rücken die Treibstoffdaten im Schwitzkasten überprüft hatte. Svetlanas Verbündete hatten ihre sichtbare Kooperation als eine Art Verrat betrachtet. Die meisten hätten Bagley längst verziehen – sie war jung, erst vor kurzem an Bord gekommen und durfte es sich nicht erlauben, einen direkten Befehl zu verweigern –, und die meisten anderen begnügten sich damit, ihr die kalte Schulter zu zeigen. Aber damit bestand weiterhin die Möglichkeit, dass ein harter Kern der Ansicht war, dass man Bagley nicht angemessen bestraft hatte. Leute, die überzeugt waren, Svetlanas unausgesprochenen Wunsch zu erfüllen. Es gab bereits Gerüchte, dass Svetlana keineswegs unglücklich über diesen Vorfall war.
Mit hoher Wahrscheinlichkeit war es genau das, wonach es aussah – ein Unfall und kein Mord. Selbst gute Arbeiter wurden nachlässig, wenn sie unter Zeitdruck standen und jemand sie anschrie, dass die Zentrifuge ganz schnell wieder zum Laufen gebracht werden musste. Doch man durfte die Möglichkeit eines Mordes nicht von vornherein ausschließen. Der Justizausschuss musste alle offenen Fragen klären, bevor die Akte geschlossen werden konnte.
Bagley war nur einer von mehreren Fällen. Jeder Unfalltod wurde mit der gleichen Gründlichkeit untersucht. Verdächtige wurden ins Habitat gebracht und befragt. Niemandem gefiel es, und es trug auch nicht dazu bei, die alten Konflikte in Vergessenheit geraten zu lassen, aber es war nicht die Aufgabe des Gerichts, die Vergangenheit zu begraben.
Es wurde auch nicht leichter, wenn sie mit Männern wie Thale zu tun hatte. Er hatte sehr deutlich Farbe bekannt, als er versucht hatte, Bella aus dem Gefängnis zu befreien. Es gab keinen Zweifel, wem seine Loyalität galt, dachte Svetlana bissig. Aber niemand anderer auf Janus hatte mehr Zeit mit dem Studium der Lavastraßen verbracht als Nick Thale, und die Kenntnisse, die er zusammengetragen hatte, waren einfach zu wertvoll.
Nicht zum ersten Mal war Svetlana dankbar, Parry zu haben. Er war das einzige Besatzungsmitglied, mit dem niemand ein Problem hatte. Die Lind-Anhänger wussten, dass er großzügig zu Bella gewesen war, sodass sie ihm seine Partnerwahl verziehen. Selbst Nick Thale schien in seiner Gegenwart völlig entspannt zu sein – auf jeden Fall mehr als in Svetlanas Nähe.
Trotzdem würde sie froh sein, wenn diese Expedition vorbei war.
Sie konnten jetzt den Transporter erkennen, der ein Stück hinter dem Knick festsaß. Es war das erste Mal, dass sie einen aus der Nähe sah. Normalerweise bewegten sie sich so schnell, dass das menschliche Auge ihnen nicht folgen konnte. Nachdem der Gesteinsbrocken ihn aus der Bahn geworfen hatte, war dieser Transporter abrupt zum Stehen gebracht worden und steckte nun in einem Maschinenteil. Die äußere Gestalt war sehr einfach, zwei dicke, münzenförmige Endplatten, zwischen denen sich ein Suspensionsfeld mit der »Fracht« ausdehnte. Aber dieser Transporter war beschädigt, der Zusammenstoß hatte die Endplatten gegeneinander verschoben. Die Lava hatte sich durch die Behinderung in fingerartige Schläuche aufgeteilt, die wie Elmsfeuer über die Endplatten flossen und seltsame Muster aus bronzefarbener Erosion auf die zinngraue Oberfläche zeichneten. Hinter dem Transporter bog sich der Strom wieder auf den ursprünglichen Weg zurück.
Der beschädigte Transporter hatte seine Fracht verloren. Das Suspensionsfeld war noch aktiv, in Form eines flackernden Zylinders zwischen den Endplatten, aber die Fracht war durch eine Schwachstelle herausgefallen. Platten, Spulen und Röhren aus mattem Material hatten sich fächerförmig auf dem Eis verteilt.
»Glaubst du, dass wir sie einfach … mitnehmen können?«, fragte Parry, als sie stehen geblieben waren und ihre Stiefel nur noch wenige Meter von der Fracht entfernt waren.
»Ich vermute, dass uns nichts daran hindern wird«, sagte Thale. »Wenn das Eis verschwindet, könnte es sein, dass die Maschinen diese Sachen reabsorbieren. Oder sie werden einfach als Müll liegen bleiben, wie abgestorbene Hautschuppen.«
Parry hantierte mit seinem Helm und probierte verschiedene Blendfilter aus. »Und keine anderen Transporter sind mehr über diese Straße gekommen?«
»Nicht seit dem Durchbruch des Steinbrockens. Auf diesem Strom gab es ohnehin nie viel Verkehr – höchstens ein oder zwei Transporter pro Woche. Falls sie auf andere Wege umgeleitet werden, wird es uns schwer fallen, einen Unterschied zu bemerken.«
»Irgendeine Idee, woraus dieses Zeug besteht?«
»Das lässt sich erst sagen, wenn wir etwas davon in Wangs Labor geschafft haben.«
»Es sieht wie Metall aus«, sagte Parry. »Wie Blei oder etwas in der Art. Mein Anzug misst keine Erhöhung der Hintergrundstrahlung, also ist es vermutlich nicht radioaktiv.«
»Oder der Anzug irrt sich«, sagte Svetlana.
»Auch das wäre möglich.« Parry lachte mit Galgenhumor. »Meinst du, wir sollten versuchen, jetzt etwas mitzunehmen?«
»Ich würde lieber die Roboter vorschicken«, sagte Thale. »Wenn das hier eine Art Falle ist oder sich das Material als toxisch erweist, wäre es besser, wenn sie sich dem Risiko aussetzen.«
»Ich weiß nicht, ob Saul ein paar Roboter erübrigen kann«, sagte Parry.
»Ist es wirklich so schlimm?«, fragte Thale skeptisch. »Ich dachte, das wäre nur Parteipropaganda, damit wir nicht aufmucken.«
»Es ist schlimmer«, sagte Parry.
In den letzten Monaten war der Roboterbestand durch Pannen und Unfälle gefährlich geschrumpft. Komplexe Bauteile wie Mikroprozessoren benötigten gleichermaßen komplexe Baupläne, die bis in den atomaren Bereich exakte Vorgaben machten. Für die meisten ihrer Maschinen hatten sie keine solchen Pläne zur Verfügung. Wang gab sein Bestes und erweiterte die integrierten Dateien des Kessels durch einen gewissen Anteil umgekehrter Konstruktion, doch bisher hatte er kaum etwas hervorgebracht, das tatsächlich funktionierte.
»Aber du könntest doch bestimmt deinen Einfluss in die Waagschale werfen.« Thale zeigte auf die verstreute Fracht. »Das ist Rohmaterial. Genau das, worauf wir gewartet haben.«
»Ich werde mal sehen, was Saul erübrigen kann.«
»Wir müssen nicht auf Saul warten«, sagte Svetlana. »So viel Zeit haben wir nicht. Wir müssen feststellen, ob dieses Zeug uns etwas nützt, und wenn ja, brauchen wir eine Strategie, wie wir mehr davon beschaffen können.« Damit stapfte sie los.
»Svieta …«, setzte Parry an.
Aber sie war bereits auf den Knien und schob ihre Handschuhe in das Eis unter dem nächsten dunkelgrauen Stück. »Fühlt sich in Ordnung an«, sagte sie. »Meine Finger kribbeln nicht, auch kein anderer seltsamer Effekt. Es fühlt sich einfach wie ein Stück Metall an … ziemlich hartes Metall. Ich glaube, es lässt sich bewegen.« Sie pfiff. »Mann, ist das schwer! Es muss wesentlicher dichter als alles sein, was wir benutzen.«
Parry und Thale standen links und rechts von ihr, hin und her gerissen von Faszination und Sorge. Svetlana zog die Metallplatte hoch, bis sie sich aus dem Eis löste, in das sie sich eingegraben hatte. Danach war sie leicht zu bewegen, obwohl sie in ihren Händen deutlich schwerer war als alles, womit sie in der Gravitation von Janus bislang zu tun gehabt hatte. »Es fühlt sich wie ein Stück Beton an. Ich möchte mir gar nicht vorstellen, wie viel es unter einem Ge wiegen würde. Es müssen Tonnen sein.«
»Sei vorsichtig damit«, warnte Thale. »Die Massenträgheit ist dieselbe geblieben. Wenn es dir auf den Fuß fällt, wirst du es spüren.«
»Sammelt mehr von dem Zeug ein«, ordnete sie an. »Wir verladen so viel wie möglich in die Crusader. Und behaltet eure Sheng-Würfel im Auge.«
Zuerst waren sie nervös, wie Kinder, die Äpfel aus einem fremden Garten stahlen. Doch nach drei oder vier Touren zum Beiboot – wobei sie jedes Mal einem anderen Weg folgten, um den Wiederholungsalarm nicht auszulösen, mit dem ihre Anzüge ausgerüstet waren – wurde ihnen klar, dass es Janus offenbar völlig gleichgültig war, was sie mit der verlorenen Fracht taten. Nur eine gewisse Furcht, dem Suspensionsfeld zu nahe zu kommen, hielt sie davon ab, den gesamten Fund zu bergen. Diese Aufgabe würden sie den Robotern überlassen, falls welche zu diesem Zweck abgestellt werden konnten.
Als sie mit ihrer tonnenschweren Fracht wieder im Beiboot saßen, stellte sich zum ersten Mal das Gefühl ein, einen bedeutenden Durchbruch erzielt zu haben. Svetlana rief im Kinderhort an, um ihre Tochter zu begrüßen. Emily und Danny Mair waren gerade damit beschäftigt, mit Fingerfarben zu malen. Die beiden Kinder waren etwa im gleichen Alter und schienen sich auf einer Kommunikationsebene zu verständigen, die Erwachsenen nicht zugänglich war, vor allem, wenn sie neue Parameter der Unordnung erkundeten. Emily hielt ihr neuestes Kunstwerk in die Kamera: gelbe und rote Kleckse, die vielleicht Blumen darstellen mochten, und darüber etwas verwischtes Blau, das vielleicht ein Himmel war.
In ihrem Leben hatte sie nie Blumen oder den Himmel gesehen.
Svetlana wären beinahe die Tränen gekommen, aber sie konnte sich zusammenreißen. Dann rief sie Denise Nadis an und sagte ihr, dass sie alles für ihre Ankunft vorbereiten sollte.
»Sobald wir gelandet sind, soll sich Wang mit dem Fall beschäftigen«, sagte sie. »Wir haben jetzt genug Energie und jede Menge Eis. Und nun haben wir vielleicht endlich auch genug Material.«
»Das ist gut«, sagte Parry, als sie den Anruf beendet hatte, »aber wir sollten nicht zu euphorisch werden. Diesmal haben wir Glück gehabt – vielleicht. Aber wir können nicht erwarten, dass uns so etwas jede Woche in den Schoß fällt.«
»Das liegt nur an uns«, sagte sie. »Janus hat uns eine Möglichkeit gezeigt. Jetzt müssen wir sie nur kopieren. Wenn die Natur Einfluss auf eine Lavastraße nehmen kann, können wir es auch.«
Thale schien den Mund öffnen zu wollen, aber er sagte nichts.
»Was gibt es, Nick?«, fragte sie. Ihr war es nicht entgangen. »Meinst du nicht, dass wir uns holen sollten, was zu holen ist?«
»Ich bin keiner von diesen dummen Sektierern«, sagte er. »Ich glaube nicht, dass dieser Mond irgendetwas Heiliges hat. Er ist nur eine verdammte Maschine. Andererseits bin ich genug Rationalist, um zu erkennen, dass wir darauf achten sollten, keine Reaktion zu provozieren.«
»Ich habe vorhin keine Reaktion bemerkt.«
»Vielleicht haben wir nicht heftig genug geruckelt. Wenn wir Bomben auf die Lavastraßen werfen, überschreiten wir vielleicht die Schwelle und bekommen eine Reaktion.«
Sie schüttelte den Kopf, verständnislos über seine Ängstlichkeit. »Vielleicht liegt es an mir, aber ich kann mich nicht erinnern, dass ich Janus erlaubt habe, mich von zu Hause wegzubringen. Wir sind hier schon viel zu lange auf Zehenspitzen herumgeschlichen. Es wird Zeit, diese Maschinen dazu zu bewegen, etwas für uns tun.«
»Du hast schon immer wie ein Ingenieur gedacht, Svieta.«
Sie nickte. Erst Stunden später wurde ihr klar, dass er diese Bemerkung nicht zwangsläufig als Kompliment gemeint haben musste.
Eines Tages, irgendwann während des siebten Jahres, wurde Svetlana von Ryan Axford in die Klinik gerufen. Der Arzt hatte ihr keine Erklärung gegeben, aber er hätte sie nie ohne guten Grund belästigt. Seit Emilys Geburt hatte sie nur noch sporadischen Kontakt zu ihm und erst recht seit dem Tod von Jim Chisholm, aber sie setzte immer noch ihr volles Vertrauen in seine Professionalität. Die medizinische Abteilung hatte sich verändert, seit Chisholm nicht mehr da war. Einerseits war es lebhafter geworden – nicht zuletzt wegen der Kinder –, aber Svetlana spürte gleichzeitig Chisholms Abwesenheit. Er hatte so viel Zeit in dieser Umgebung verbracht, dass er so etwas wie seinen psychischen Abdruck hinterlassen hatte.
»Was gibt es?«, fragte sie, als Axford die Tür hinter ihr geschlossen hatte.
»Du hast darum gebeten, informiert zu werden«, sagte er.
Sie sah ihn verständnislos an. »Worüber?«
»Wenn es eine Veränderung gibt.«
»Wobei?«, fragte sie mit hörbarer Ungeduld.
Axfords abgemagertes Gesicht verzog sich amüsiert. »Du erinnerst dich kaum noch daran, nicht wahr? Er ist schon so lange hier, ohne sich zu verändern …«
Ihr Unterkiefer klappte herunter. »Craig?«
Für einen kurzen Moment ließ jungenhafter Enthusiasmus die Jahre von ihm abfallen, und sie erkannte wieder etwas vom Ryan Axford, wie er früher gewesen war. »Er kommt zurück, Svieta. Nach all den Jahren habe ich heute etwas Menschliches in seinen Augen gesehen. Ich glaube, es gibt doch wieder Hoffnung.«
»Spricht er?«
»Ein gelegentliches Wort, manchmal sogar einen Satz. Das ist mehr, als wir je erwartet oder erhofft haben.«
Svetlana war überrascht, wie sehr sie sich darüber freute. An Bord der Rockhopper war sie mit Schrope nie einer Meinung gewesen, und sein strategisches Bündnis mit ihr war so offensichtlich eigennützig gewesen, dass er sich damit bei ihr kaum Respekt verschafft hatte. Aber wenn sie sah, was seitdem aus Schrope geworden war, konnte sie nur tiefes Mitgefühl empfinden.
»Was ist passiert?«, fragte sie.
»Die Zeit«, sagte Axford. »Die alle Wunden heilt. Darin liegt viel Wahrheit, weißt du. Und das Einzige, was ich mit Sicherheit diagnostizieren kann, ist die Tatsache, dass er sehr viel Zeit gehabt hat.«
»Kann ich ihn sehen?«
»Es wäre nicht schlecht, wenn er ein paar neue Gesichter sehen würde. Das könnte ihm helfen.« Er hob warnend einen Finger. »Aber überstürze nichts. Er steht noch ganz am Anfang, und ich möchte nicht, dass er sich wieder in sein Schneckenhaus zurückzieht.«
Axford führte sie in den Raum, in dem Schrope untergebracht war. Svetlana blieb zögernd an der hohen Tür mit dem kleinen Fenster stehen.
»Vielleicht ist es doch keine so gute Idee, Ryan. Wie viel weiß er tatsächlich?«
»Einerseits mehr und andererseits weniger, als du glaubst.«
»Ich habe nicht viele gute Neuigkeiten für ihn. Falls er glaubt, dass wir demnächst zur Erde zurückkehren …«
»Das glaubt er nicht«, antwortete Axford leise. »Dafür habe ich gesorgt. Du musst keinen großen Bogen um die Wahrheit machen. Geh es einfach langsam an. Einen Schritt nach dem anderen.«
»Ich werde vorsichtig sein.«
Schrope stand auf, als sie das Zimmer betrat. Er hatte auf einem Stuhl neben einem kleinen Nachttisch gesessen. Er legte ein Buch weg, keinen Text auf einem Flextop, sondern eins der wenigen tatsächlich gedruckten Bücher, die sich an Bord der Rockhopper befunden hatten und nun eine wertvolle Bibliothek bildeten, wie die kostbare Sammlung eines mittelalterlichen Gelehrten. Es war ein eselsohriger Justizthriller mit dem Titel Die Firma.
»Hallo«, sagte Schrope.
»Schön, dich zu sehen«, erwiderte sie, aber die Worte waren nur automatisch dahingesagt und klangen selbst in Svetlanas Ohren wenig überzeugend. Doch was empfand sie wirklich? Während der Zeit an Bord der Rockhopper hatte sie Schrope nie gemocht, und sie hatte ihn verachtet, als er (wovon sie inzwischen überzeugt war) Bella überredet hatte, dass sie von ihren Pflichten entbunden werden musste. Aber dies war gar nicht der wirkliche Schrope, sondern ein bedauernswertes, zerstörtes Wesen, das in tausend psychologische Scherben zersplittert und später zu etwas zusammengeklebt worden war, das ungefähr an seine frühere Gestalt erinnerte. Schrope zu hassen kam ihr nun irgendwie redundant vor, sinnlos bösartig. Wenn sie ein ungezogenes Kind hassen und trotzdem Mitgefühl empfinden konnte, wenn es im Krankenbett lag, konnte sie auch den Mann bedauern, der einmal Craig Schrope gewesen war.
Er sah besser aus, als sie erwartet hatte. Wenigstens trug er nun keinen Pyjama mehr, sondern normale Kleidung, auch wenn es sich nur um ein ausgeleiertes graues T-Shirt und eine weiße Jogginghose handelte. Sein Haar war länger und nicht mehr kurz über der Kopfhaut abrasiert. In seinen Augen stand eine Aufmerksamkeit, die sie bei ihrem letzten Besuch vermisst hatte.
»Es tut mir leid …« Er stockte, als er offenbar im nächsten Moment vergessen hatte, was er sagen wollte.
»Immer mit der Ruhe, Craig«, sagte sie.
»Es tut mir leid … wegen der Schwierigkeiten«, sagte er beschämt. »Wegen all der Schwierigkeiten, die ich euch gemacht habe.«
»Schon gut«, sagte sie.
»Nein.« Er stand vor ihr, seine Hände hingen schlaff herab. »Ich hätte …« Er schüttelte verzweifelt den Kopf. »Es ist sehr schwierig. Es tut mir leid.«
»Lass dir Zeit. Wir haben keine Eile.«
»Ich habe euch im Stich gelassen. Hätte mich zusammenreißen müssen.«
Svetlana spürte, wie sie von Großherzigkeit erfüllt wurde, als all ihre Meinungsverschiedenheiten plötzlich vergessen waren. »Du hast uns keine Schwierigkeiten bereitet, Craig. Es ist schön, dass du wieder bei uns bist.«
»Ich bin auch froh«, sagte er aufrichtig. Er ließ sich wieder auf den Stuhl sinken und zeigte auf das ordentlich gemachte Bett. »Setz dich. Bitte.«
Svetlana setzte sich aufs Bett. »Dir geht es gut, Craig – viel besser, als Ryan mir gegenüber angedeutet hat.«
»Ryan ist sehr freundlich.«
»Er hat dich nie aufgegeben.«
»Du auch nicht.«
Sie wandte den Blick ab und hoffte, dass er ihren schuldbewussten Ausdruck nicht bemerkte. In Wirklichkeit hatte sie ihn schon vor langer Zeit aufgegeben. Sie hatte ihn jahrelang nicht besucht und Axfords alles andere als optimistischen Berichten irgendwann kaum noch Aufmerksamkeit geschenkt. Bei ihrem letzten Besuch hatte sie sich mit einem Blick durchs Fenster begnügt.
»Ich bin froh, dass du durchgehalten hast«, sagte sie.
Während des Gesprächs entwickelte er immer mehr Selbstsicherheit. »Deine Worte bedeuten mir sehr viel. Ich weiß, dass du geglaubt hast, ich hätte sie nicht wahrgenommen … aber ich habe sie gehört.«
»Das ist gut«, sagte sie, obwohl sie wusste, dass sie bei ihren Besuchen kaum etwas zu ihm gesagt hatte. Axford hatte sie jedes Mal darauf hingewiesen, wie sinnlos es war, und sie hatte nie an seinem Urteil gezweifelt.
»Als du gesagt hast, dass ich für dich immer noch ein feiner Kerl bin … dass ich jederzeit zu euch zurückkommen kann …«
»Ja?«, sagte Svetlana und fragte sich, was sein Geist alles während der langen Jahre des Exils von der Realität ausgebrütet haben mochte.
»Es hat mir geholfen. Es hat mich erreicht. Es hat mir etwas gegeben, woran ich mich festhalten konnte, das mir den Weg gezeigt hat.«
»Das freut mich«, sagte sie.
»Ich bin immer noch nicht für die Welt bereit. Aber das siehst du wahrscheinlich selbst.«
Sie zwang sich zu einem Lächeln. »Du stehst noch am Anfang, wie Ryan gesagt hat.«
»Aber ich werde es schaffen. Das weiß ich. Nachdem ich schon so weit gekommen bin … werde ich nicht mehr zurückgehen.« In seinen Worten lag eine absolute Gewissheit, die sie erstaunte. »Diesmal werde ich es schaffen. Eines Tages – jetzt noch nicht, vielleicht auch noch nicht in diesem Jahr – will ich etwas Nützliches leisten. Ich will meine Schuld an Crabtree zurückzahlen.«
»Du bist uns nichts schuldig«, sagte sie.
»Ich weiß, wie schwer es da draußen ist. Ich habe von Todesfällen gehört, von Selbstmorden. Ihr hättet mich sterben lassen können. Das wäre für alle einfacher gewesen, nicht wahr? Ein Mund weniger, der gefüttert werden will. Zwei Lungen weniger, die gefüllt werden wollen. Ein Körper weniger, der es warm haben will.«
»So sind wir nicht, Craig.« Sie bemerkte, dass seine Hände zitterten.
»Die Firma hat mir mein Leben genommen. Meine Würde. Ich habe meine ganze verdammte Seele in DeepShaft investiert. Und auch die haben sie mir genommen. Ich werde nie alles zurückbekommen, was sie mir gestohlen haben, aber mit eurer Hilfe kann ich wenigstens einen Anfang machen.«
»Was möchtest du tun?«
»Ich möchte dienen«, sagte er. »Damit ihr mir verzeihen könnt.«
Als sie alle Flextops an die Wand gepappt hatte, trat Svetlana zurück und beobachtete, wie sich die Kinder vergnügten. Sie befanden sich in einem abgetrennten Teil der Sporthalle, einem der größten bewohnbaren Räume an Bord des alten Schiffs. Bunte Papierwimpel erstreckten sich in schiefen Bögen von einer Wand zur anderen, straff gezogen von der Zentrifugalgravitation des rotierenden Raums. Ballons schwebten in Trauben umher und prallten gegen die Abluftschächte. Manche waren zu Formen verdreht worden, die entfernt an Tiere erinnerten, andere waren bereits geplatzt, zum Entzücken einiger Kinder und zur Bestürzung anderer. Wang, der die Wimpel und die Ballons hergestellt hatte, war überredet worden, lange genug zu bleiben, um die Entscheidung in einem Malwettbewerb zu treffen. Aber inzwischen war er wieder gegangen und zu seiner Arbeit am Schmiedekessel zurückgekehrt. Svetlana hoffte, dass er noch einmal zurückkehrte, wenigstens für die besondere Überraschung, die sie den Kindern etwas später präsentieren wollte. Wang war bei den Kindern sehr beliebt. Irgendwie spürten sie, dass er der einzige Erwachsene auf Janus war, der nicht von den Ereignissen an Bord des Schiffes besudelt war, der einzige Erwachsene, den jeder ohne Vorbehalte gern hatte.
Der Anlass der Party war Emilys fünfter Geburtstag im neunten Jahr der Siedlung. Insgesamt war ein Dutzend Kinder versammelt, von denen die meisten jünger als Emily waren. Hannah Ofria-Gomberg, das älteste Kind auf Janus, war jetzt fast acht und hatte die Aufgabe übernommen, mit altklugem Pflichtbewusstsein auf die jüngeren Kinder aufzupassen. Jetzt half sie Reka Bettendorf, eine aufsässige Gruppe von Dreijährigen mit Gesichtsfarbe zu bemalen – ursprünglich die harmlose Markierungsfarbe, mit der sie Schnittlinien im Eis gekennzeichnet hatten. Sie verwandelten die Kinder in Tiger, Affen, Bären und grünhäutige Weltraummonster. Es hielt sie bei Laune, obwohl sich Svetlana fragte, ob sie genauso glücklich gewesen wären, die Farbe in abstrakten Klecksen aufzutragen. Keins dieser Kinder hatte jemals eine echte Katze, geschweige denn einen Tiger gesehen.
»Sie ist ein hübsches Mädchen«, sagte Christine Ofria-Gomberg und nickte in Emilys Richtung. »Dein Haar, dein Kinn; Parrys Augen und Nase. Die Miene, die sie zieht, wenn es nicht nach ihrem Willen geht …«
»Ganz die Mama«, pflichtete Svetlana ihr lächelnd bei. »Ja, das ist mir auch schon aufgefallen.«
»Kaum zu glauben, dass es schon fünf Jahre sind.«
»Du hast gut reden. Schau dir Hannah an. Zwischen den Kindern verhält sie sich fast wie eine Erwachsene.«
»Sie wird elf sein, wenn wir Spica erreichen.« Christine senkte die Stimme, als Hannah in ihre Richtung sah. Offenbar hatte sie bemerkt, dass über sie gesprochen wurde. »Ich erinnere mich noch, wie ich elf war, Svieta. Es ist, als hätten wir zwei Schachteln für all die Erinnerungen, die wir zwischen dem Zeitpunkt unserer Geburt und unseres Todes ansammeln: die Kinderschachtel und die Erwachsenenschachtel. Wenn man erwachsen ist, kann man immer noch die Kinderschachtel öffnen und in den Erinnerungen stöbern, sie herausnehmen und betrachten, aber sie fühlen sich an, als würden sie zu einer fremden Person gehören. Es ist, als würde man alles durch eine dicke Glasscheibe sehen. Aber wenn wir elf sind, kommt alles in die Erwachsenenschachtel. Sie wird immer Erwachsenenerinnerungen an Spica haben.«
»Wollen wir hoffen, dass es gute Erinnerungen sind«, sagte Svetlana und wünschte sich im nächsten Augenblick, sie hätte etwas nicht so Pessimistisches gesagt. Ihre düsteren Vorahnungen gehörten genauso wenig auf eine Geburtstagsparty, wie Fröhlichkeit etwas bei einer Trauerandacht zu suchen hatte.
Sie wusste, dass es müßig war, zu spekulieren, was geschah, wenn sie das seltsame Gebilde im Spica-System erreicht hatten, genauso sinnlos, wie über die Unvermeidlichkeit des Todes zu lamentieren. In den letzten Jahren waren Svetlanas tägliche Sorgen so schwerwiegend gewesen, dass sie sich gar nicht den Luxus erlaubt hatte, sich Gedanken über dieses in ferner Zukunft liegende Ereignis zu machen. Sie brauchten eine Menge Glück, um überhaupt noch am Leben zu sein, wenn es zu einer Begegnung mit Außerirdischen kam.
Aber nun sah es allmählich danach aus, als könnte doch alles gut werden. Zum ersten Mal seit Jahren hatte Svetlana das Gefühl, dass sie den Kampf ums Überleben siegreich bestehen würden und gute Chancen hatten, das Ziel ihrer Reise zu erreichen. Sie hatten Energie aus dem Schlund, und nun hatten sie auch die Möglichkeit, an Rohstoffe zu gelangen. Es hatte einige Zeit gedauert, aber in letzter Zeit waren sie sehr geschickt darin, Material aus den Lavaströmen auf Janus zu stehlen. Kurz nach der ersten Entdeckung der verlorenen Fracht hatten Wangs Analysen ergeben, dass sie viele Elemente und Verbindungen enthielt, die in Crabtree und den anderen Siedlungen entweder sehr knapp waren oder völlig fehlten. Noch besser war, dass das Material mit normalen chemischen und nanotechnischen Prozessen weiterverarbeitet werden konnte, die Wang bereits entwickelt hatte. Die spicanischen Maschinen ließen sich im installierten Zustand zwar nicht zerlegen, aber die Rohstoffe, aus denen sie bestanden, konnten durchaus von Menschen genutzt werden. Das Material ließ sich schneiden, schmelzen, verdampfen, ionisieren und sogar in seine atomaren Bestandteile aufschließen. Das hieß nicht, dass alle Rationierungen aufgehoben werden konnten, und vor allem die geschlossenen Kreislaufsysteme mussten weiterhin gründlich gewartet werden, aber endlich hatten Svetlanas Leute die Möglichkeit, Dinge herzustellen – und sogar Träume wahr werden zu lassen.
Auch Wang hatte Fortschritte erzielt. Jahrelang war er kaum vorangekommen, weil der Schmiedekessel beschädigt war und er seine Funktionen nur oberflächlich durchschaute. Mit penibler Hingabe war es ihm gelungen, die Hardware zu reparieren und viele der beschädigten Musterdateien im Speicher zu rekonstruieren. Außerdem hatte der Mangel an Rohstoffen seine Versuche behindert, die Maschine in den Griff zu bekommen. Doch nun konnte er nach Lust und Laune experimentieren, und endlich war er in der Lage, nützliche Komponenten herzustellen, zum Beispiel Medikamente und technische Bauteile, die tatsächlich funktionierten. Trotzdem hatte er Größeres vor. Ein einzelner Kessel wäre immer nur von eingeschränkter Nützlichkeit, vor allem, wenn die Bevölkerung wuchs. Er plante bereits, einen zweiten Kessel zu bauen, indem er die Bestandteile im ersten heranwachsen ließ. Das war schwierig, aber nicht unmöglich, wie er sagte. Danach konnte er ein paar Replikatoren aus dem ersten Kessel übernehmen, damit sie sich von selbst im zweiten vermehrten, sodass er nicht von Grund auf ein komplettes nanotechnisches System fabrizieren musste. Wenn alles nach Plan verlief, wäre der zweite Kessel eine bloße Kopie des ersten, aber wenn er ihn zum Laufen brachte, hatte er genügend Erfahrung gesammelt, um sich an eine größere Version zu wagen. Sein dritter Kessel sollte die achtfache räumliche Kapazität des ersten haben, was ihm ermöglichen würde, ein Beiboottriebwerk in einem Durchgang zu produzieren. Er dachte sogar schon daran, irgendwann einen Kessel herzustellen, der so groß wie die größten industriellen Einheiten in China waren – Giganten, groß wie Häuserblocks, die in einem Schwung ein komplettes Raumschiff schmieden, es wie ein Junges ausbrüten konnten. Svetlana fragte sich, wie weit seine Zukunftsplanung reichen mochte und ob irgendjemand anderer schon in solchen Zeiträumen vorausdachte.
Nachdem die Gesichtsbemalung abgeschlossen war, versammelten sich die Kinder um Parry, der Schokoladenstücke verteilte. Es handelte sich nicht um die gummiartige braune Masse aus dem Kessel, sondern um echte. Während der Aufräumarbeiten in einem Frachtraum war eine Kiste mit Snickers-Riegeln aufgetaucht, und nun wurde die Delikatesse unter Verschluss gehalten, streng rationiert und nur bei Partys ausgegeben. Jedes Kind erhielt nicht mehr als zwei Bissen, aber ihre angefeuerten Erwartungen waren so groß, als wären es Portionen kostbarsten Kaviars gewesen. Trotz der minimalen Menge an Schokolade war es erstaunlich, wie sehr sich die aktiveren Kinder damit einsauen konnten. Mit jedem Geburtstag wurde der Schokoladenvorrat geringer, und jedes Jahr gab es mehr Geburtstage zu feiern. Bald würden sich die Kinder an das Zeug aus dem Kessel gewöhnen müssen.
»Komm her«, sagte Christine und nahm Svetlanas Arm. »Ich möchte dir etwas zeigen, während Parry die Kinder beschäftigt.«
»Und was soll das sein?«
»Hast du die Bilder gesehen, die Wang beurteilen sollte?«
»Ein paar, aber dann musste ich gehen und die Flextops zusammenpappen.«
Christine führte sie zu einem Tisch, auf dem die Zeichnungen in ihrer feuchten Pracht ausgebreitet waren. Sie nahm eine und beschmierte sich die Finger mit gelber Farbe. »Dawn Mair hat das gemalt«, sagte sie ohne Zögern. »Ich habe sie gefragt, was es darstellen soll. Sie sagte, es sei der böse Mann.«
»Welcher böse Mann?«
»Der, von dem sie die Erwachsenen ständig reden hört.«
Svetlana sah sich das Bild an und setzte mentale Filter ein, um die unbeholfene und verschmierte Ausführung auszublenden und zu erkennen, was das Kind beabsichtigt hatte. Es gab einen gelben Himmel und einen grau-grünen Streifen aus nicht genauer bestimmbarem Boden. Darauf stand eine dürre vogelscheuchenartige Gestalt, die in düsterem Rot-Schwarz gemalt war. Die Arme des Mannes liefen in baumähnlichen Explosionen krummer schwarzer Finger aus. Das Gesicht – soweit es sich erkennen ließ – erinnerte an die langgezogene Schnauze eines Wolfes und wirkte seltsam bedrohlich. In einer skelettierten Hand hielt er etwas, das wie eine kaputte Puppe aussah und mehr schwarz als rot war.
»Ich habe keine Ahnung, wer damit gemeint sein soll«, sagte Svetlana.
»Mir ging es genauso, also habe ich gefragt. Dawn sagte zunächst nur, dass es der ›böse Mann‹ sei. Als ich nach seinem Namen fragte, sagte sie etwas, das ich nicht verstand, zumindest nicht sofort. Es klang wie ›Poll‹ oder ›Paul‹. Dann machte es Klick, und ich wusste genau, was sie mir sagen wollte. Ich hatte das Gefühl, als würde meine Körpertemperatur schlagartig um zehn Grad sinken.«
»Und wer ist es?«
»Powell«, sprach Ofria den Namen langsam und genüsslich aus. »Powell Cagan.«
»Heiliger Strohsack!« Svetlana zwang sich, leiser zu sprechen. »Wie kann sie …?«
»Weil die Leute immer noch über ihn reden, Svieta. Vielleicht nicht in der Öffentlichkeit, aber in der Abgeschiedenheit ihrer Privatquartiere … schließlich ist er der Mann, dem wir den ganzen Ärger zu verdanken haben. Jeder von uns weiß das, auch wenn die meisten von uns … es geschafft haben, diese Tatsache zu akzeptieren. Wir haben hier schon genug Probleme, ohne unseren Hass auf jemanden projizieren zu müssen, der wahrscheinlich schon vor hundert Jahren gestorben ist, hoffentlich im Gefängnis, nach einer lebenslangen Haftstrafe wegen mehrfachen Totschlags, nachdem er eine unzureichende Behandlung seiner sehr schmerzhaften tödlichen Krankheit erhalten hat.«
»Aber nicht jeder sieht es so abgeklärt wie du.«
Christine zuckte die Achseln. »Er ist der neue Buhmann, der Dämon, mit dem manche Eltern ihre Kinder einzuschüchtern versuchen. Sei lieb, oder Powell wird dich holen und dich zu seiner Frau bringen.«
Svetlana schaute auf die puppenähnliche Gestalt in den Fingern des Mannes und erkannte, dass sie ein Kind darstellen sollte, das er geraubt hatte. »Seine Frau?«
»Die böse Hexe, die verrückte Alte, die draußen auf dem Eis lebt.« Christine legte Dawn Mairs Zeichnung auf den Tisch zurück und nahm eine andere zur Hand. »Schau dir das hier an. So sieht Bella aus – zumindest in Richard Fleigs Vorstellung.«
Der siebenjährige Sohn von Chieko Yamada und Carsten Fleig hatte recht überzeugend eine verrückte alte Hexe gemalt, die in einer Art rissigem eisblauem Iglu unter einem kohleschwarzen Himmel kauerte. Svetlana starrte das Bild mit kaltem Entsetzen an. Sie hatte es schon vorher gesehen, jedoch ohne die Bedeutung zu erahnen. Irgendeine Hexe, hatte sie gedacht, aber nicht ansatzweise vermutet, dass es Bella sein sollte.
»Ich habe ihnen diese Idee nicht in den Kopf gesetzt«, sagte sie, als müsste sie sich rechtfertigen. »Eigentlich sollten die Kinder gar nichts von ihr wissen.«
»Jemandem ist etwas rausgerutscht.«
»Wem?«
»Uns allen, Svieta, in den unbedachten Momenten, wenn wir vergessen, dass die Kinder in der Nähe sind. Kannst du schwören, dass du Bellas Namen niemals erwähnt hast, dass du niemals auch nur eine Andeutung gemacht hast, wenn Emily in Hörweite war?«
»Vielleicht eine Andeutung, aber …«
»Mehr brauchen die Kinder nicht. Sie schaffen sich ihre eigenen Mythen, ihre eigenen Engel und Dämonen. Dazu müssen wir ihnen nur einen winzigen Anstoß geben. Wenn sie Bella hassen und fürchten, dann tun sie es nur, weil sie unsere Sichtweise übernehmen.«
»Sie sind noch viel zu jung für Monster.«
Christine legte das noch feuchte Bild auf den Tisch zurück. Vom schwarzen Himmel lief ein tentakelgleicher Faden zu Bellas Kuppel hinunter. »Das ist nicht gesagt. In weniger als vier Jahren werden wir realen Monster begegnen. Vielleicht ist es an der Zeit, dass wir alle uns Gedanken über Monstren machen.«
Inzwischen hatten die Kinder die Schokolade aufgegessen und tobten wieder in der Sporthalle herum. Sie lachten und schrien, ließen Luftballons zerplatzen und sauten sich mit Speisen und Getränken ein. Svetlana gelang es nur mit Mühe, ihre Beunruhigung über die Bilder zu zügeln, und klatschte in die Hände, damit die Kinder ihr zuhörten. Als sie sprach, klang ihre Stimme besorgt und zurückhaltend.
»Hallo – wollt ihr einen Film sehen?«
Natürlich wollten sie. Darauf waren sie schon genauso gespannt wie auf die Schokolade. Svetlana wartete, bis sie sich vor der Flextop-Bildwand versammelt und auf die längere Phase der Konzentration, des Schweigens und der Blasenkontrolle vorbereitet hatten, die nötig waren, um den Film zu sehen.
»Wir haben diesen Film in den Archiven gefunden«, sagte Svetlana mit einem strahlenden Lächeln. »Er blieb jahrelang unbeachtet, weil er unter einem falschen Dateinamen abgespeichert wurde. Das bedeutet, dass ihn noch keiner von euch gesehen hat. Ist das nicht großartig?«
Die meisten Kinder nickten anerkennend. Danny Mair begann zu weinen.
»Diesen Film habe ich als kleines Mädchen gesehen«, fuhr Svetlana fort. »Schon damals war es ein alter Film. Meine Mutter konnte sich erinnern, ihn gesehen zu haben, als sie kaum älter war, als ihr jetzt seid. Aber ich weiß, dass er euch gefallen wird. Es geht um einen kleinen orangefarbenen Fisch, der eine Flosse hat, die größer als die andere ist. Sein Vater wird von ihm getrennt, und dann widerfahren ihnen die wundersamsten Abenteuer, während sie versuchen, wieder zueinander zu gelangen. Unterwegs treffen sie auf total coole Schildkröten … aber ich will euch den Spaß nicht weiter verderben. Wollen wir uns jetzt den Film ansehen?«
Die Zustimmung war höflich, aber nicht gerade überwältigend. Einige der kleineren Kinder schienen bereits das Interesse verloren zu haben. Vielleicht wäre es besser gewesen, gar nichts zu sagen, dachte Svetlana. Sie startete den Film mit ihrem Flextop, dann setzte sie sich hinter die Kinder, um die Vorstellung zu verfolgen.
Findet Nemo war kein besonderer Erfolg. Bei ein paar Kindern kam er recht gut an, aber Svetlana war sich nun nicht mehr sicher, ob sie vielleicht nur still und gebannt dasaßen, weil es von ihnen erwartet wurde. Die Reaktionen der anderen reichten von Gleichgültigkeit bis zu einer beinahe verzweifelten Bestürzung, als wären sie zu einer Algebrastunde gezwungen worden. Sie schienen den Film einfach nicht zu verstehen. Nur wenige von ihnen hatten Bellas altes Aquarium gesehen, sodass sie nichts mit den Wesen anfangen konnten, die auf der Flextopleinwand herumschwammen. Es waren fremdartige Lebensformen in einer extrem fremdartigen Umgebung, mit der sie keinerlei Erfahrung hatten. Ein paar Kinder amüsierten sich über die bunten Gestalten mit den menschlichen Gesichtern, aber für die anderen war es genauso, als würden sie eine endlose Abfolge abstrakter Farbkleckse betrachten. Sie hatten Schwierigkeiten, der Geschichte zu folgen, und wussten nicht, mit welcher Figur sie sich identifizieren sollten. Die Haie, die eigentlich komisch sein sollten, erschreckten sie zutiefst. Als sich die Handlung vom Wasser aufs Land verlagerte, verloren sie völlig den Faden. Am Ende des Films hatte sich die Hälfte der Kinder bereits abgewendet, um mit den Ballons zu spielen oder weiter an ihren Dämonenbildern zu arbeiten.
Svetlana fühlte sich entmutigt. Zu Beginn der Party war sie bestens gelaunt gewesen, aber nach dem Film war sie davon überzeugt, dass hier eine Generation von Psychopathen heranwuchs – Kinder, denen alle Grundlagen für eine normale emotionale Entwicklung fehlten. Wie konnten sie so undankbar auf einen Film reagieren, von dem sie erwartet hatte, dass er Begeisterungsstürme auslösen würde?
Doch dann sah sie, dass die Kinder schon wieder lachten, als sie sich die Gesichter nachschminkten. Also zwang sie sich, ihre schlechte Laune zu verdrängen. Sie hatte von den Kindern verlangt, sich ohne weiteres für einen Film zu begeistern, der fast sechzig Jahre alt gewesen war, als die Rockhopper Janus begegnet war. Auch in ihrer Kindheit hatte es Dinge gegeben, von denen ihre Eltern erwartet hatten, dass sie sich daran erfreute – Filme, die ihre Eltern als Kinder toll gefunden hatten, die auf Svetlana jedoch nur kurios, farblos und irgendwie melancholisch gewirkt hatten. Bis heute konnte sie sich an ihre stille, nachdenkliche Enttäuschung erinnern. Auch sie mussten sich für einen Moment Sorgen um ihre Tochter gemacht haben. Aber sie hatte sich genauso wenig zu einem Monstrum entwickelt, wie es mit diesen Kindern geschehen würde.
Sie bückte sich, hob einen Ballon auf und kickte ihn durch die Luft zu Emily. Solange es Kinder gab, gab es Hoffnung, ganz gleich, wie langweilig sie einen missgebildeten orangefarbenen Fisch fanden.