Vierzig


 

 

Einige Zeit später, nach einem Tag, der ihr länger als mehrere Jahre vorkam, als sie sich endlich entschieden hatte, was sie als Nächstes tun wollte, vereinbarte Svetlana ein Gespräch mit McKinley.

»Es tut mir leid, was geschehen ist«, sagte sie. »Ich weiß, dass nicht alles meine Schuld ist. Die Ungebändigten waren sowieso auf dem Weg, auch wenn sich die Dinge auf Janus anders entwickelt hätten.«

»Das ist wahr.«

Sie wappnete sich. »Aber ich akzeptiere die Verantwortung für meinen Teil. Ihr habt uns gewarnt, ich wollte nicht auf euch hören, und das ist uns teuer zu stehen gekommen.«

Der Alien bewegte den Vorhang aus kräftigen Bewegungssträhnen. »Bella hat immer an dich geglaubt. Sie war überzeugt, dass du nur das Wohlergehen der Kolonie im Sinn hattest.«

»Das stimmt. Aber ich wollte ihr auch schaden.«

Der Perückenkopf hatte ein hochauflösendes Geflecht gebildet und hielt die ineinander verwobenen Fäden wie einen Schild hoch. »Dieses Eingeständnis ist der Beginn der Aussöhnung, Svetlana.«

»Dazu dürfte es jetzt etwas zu spät sein.«

»Du sagtest, du hättest einen Vorschlag.« Der Tonfall des Perückenkopfes ließ eine Spur von Ungeduld erkennen.

»Ich habe über meine Möglichkeiten nachgedacht. Janus existiert nicht mehr, aber der Justizausschuss hat überlebt. Parry wurde bereits bestraft, und nun habe ich etwas getan, das eine schwere Bestrafung verlangt. Meine Taten waren viel schlimmer als Parrys kleines Verbrechen, das er mit den besten Absichten begangen hat. Ich bin verantwortlich, dass über hundert Menschen starben, McKinley. Wenn wir noch die Todesstrafe hätten …« Auch wenn der Alien vermutlich nichts damit anfangen konnte, stellte sie pantomimisch den Schuss in den Hinterkopf dar, der in alten Zeiten mit dem Bohrer vollstreckt worden war. »Bella ist vielleicht tot, aber nicht ihre Autorität. Nick Thale, Axford … sie alle haben das Recht, mich hinter Gitter zu bringen. Aber das wird nicht geschehen.«

Der Alien löste das Geflecht auf. Er hatte genug von ihr gesehen. »Nein?«

»Ich habe dem Gericht eine andere Form der Bestrafung vorgeschlagen. Sie wurde mit stillschweigender Zustimmung beantwortet, aber es gibt noch keine offizielle Stellungnahme. Das kann erst geschehen, wenn ich etwas von euch bekommen habe.«

»Ich bin mir nicht sicher, ob ich dich verstehe.«

»Ich werde verschwinden«, sagte sie. »Ich werde mit einem Schiff durch das Loch fliegen, das die Moschushunde für uns in die Schachtwand gesprengt haben.«

»Um der Strafe zu entgehen?«

»Weit gefehlt. Nach euren Angaben wurde von denen, die es zuletzt versucht haben, nie wieder etwas gehört.«

Der bloße Vorschlag, die Struktur zu verlassen, ließ McKinleys Strähnen in aufgeregtem Rot und Grün schimmern. »Es wäre dumm, die Gefahren zu unterschätzen. Wir – und viele andere vernünftige Spezies – ziehen es vor, in der Struktur zu bleiben, wo die Risiken quantifizierbar sind.«

»Das ist euer gutes Recht. Aber genauso haben wir das Recht, von hier zu verschwinden, wenn wir uns dafür entscheiden.«

»Mit offiziellem Segen?«

»Das Gericht wird Parry und mich begnadigen, wenn wir uns freiwillig für die Erkundungsmission außerhalb der Struktur melden. Niemand streitet ab, dass das Ganze einem Selbstmordkommando gefährlich nahekommt. Aber wir werden so schnell fliegen, wie wir können, und wir werden unterwegs jede Menge Fotos schießen. Wir haben uns nicht vorgenommen, bei dieser Mission den Tod zu finden.«

»Nur ihr beide?«

»Du wärst überrascht, wer sich alles gemeldet hat, uns zu begleiten, wenn wir die Mission realisieren können. Es gibt sehr viele Menschen, die lieber flüchten würden, als sich mit dem Eingesperrtsein abzufinden.«

»Sie sind bedauernswerte Narren.« Er schwenkte eine Strähne. »Aber fahr fort.«

»Dazu müssen wir ein Beiboot mit interstellarer Flugkapazität ausrüsten, und es muss schnell geschehen, bevor sich die Wand wieder versiegelt hat. Es bleibt keine Zeit, für diese Mission alle notwendigen Formulare auszufüllen.«

»Das ist ziemlich viel verlangt.«

»Ich bin überzeugt, dass ihr die Gelegenheit am Schopfe packen werdet. Wir brauchen wenigstens einen weiteren Frameshift-Antrieb, einen Schmiedekessel mit vielen Dateien und vielleicht sogar ein paar Waffen, falls wir da draußen jemandem begegnen, dem unsere Nase nicht passt.«

»Offensichtlich hast du dir alles schon sehr genau überlegt.«

»Nur so kann es funktionieren, McKinley. Janus wird immer Bellas große Leistung bleiben. Selbst wenn wir unsere Strafen abgesessen haben … würde ich mich immer daran messen müssen.«

»Aber Bella ist nicht mehr. Bella ist tot. Du könntest jetzt alles übernehmen.«

»Ich habe mich entschieden«, sagte sie. »Wir verschwinden, vorausgesetzt, ihr helft uns dabei.«

»Wenn die Sache vom Gericht abgesegnet wurde, bleibt mir kaum eine andere Wahl. Die Tatsache, dass die Technik, die du haben möchtest, dich töten könnte, dürfte außerhalb der Struktur kaum eine Rolle spielen. Sie dürfte eher dafür sorgen, dass du am Leben bleibst.«

»Gut.« Svetlana wandte sich zum Gehen, was ein wenig theatralisch wirkte, doch dann blickte sie sich noch einmal zum Perückenkopf um. »Da wäre noch etwas, McKinley. Es betrifft Bella.«

»Es tut mir leid, dass wir nicht mehr für sie tun konnten.«

»Ich weiß. Darüber hatten wir bereits gesprochen. Wir haben sie zu spät eingefroren, als der Schaden schon zu groß war.«

»Du musst einsehen, dass selbst die Medizin der Perückenköpfe irgendwann an Grenzen stößt.«

»Aber ihr habt sie schon einmal verjüngt. Ihr habt sie auseinander genommen und wieder zusammengesetzt.«

»Ja, aber …«

»Dabei habt ihr doch bestimmt einiges über sie gelernt. Ihr müsst euch an die Teile erinnern, die sie verloren hat.«

»Es wäre eine ungenaue Kopie. Wir brauchen einen exakten Bauplan und keine Skizze.«

»Aber es wäre immer noch besser als gar nichts. Wir reden hier über den Tod, McKinley.«

»Ein beschädigter Geist ist nicht zwangsläufig besser als gar kein Geist«, sagte der Alien streng.

»Dann solltet ihr nach anderen Möglichkeiten suchen, die Lücken auszufüllen.«

»Ich kann mich nur wiederholen …«

Sie ließ ihn nicht ausreden. »Das Gericht hat die Verjüngung für Parry und mich autorisiert. Wenn wir nach draußen gehen, haben wir keine Chance mehr, die Uhr zurückzudrehen. Also werden wir jetzt verjüngt, damit wir lange genug am Leben bleiben, um etwas zu finden.«

Der Alien schien zu stutzen. »Ich verstehe.«

»Das bedeutet, dass ihr mich noch einmal auseinander nehmen werdet, McKinley. Es bedeutet, dass ihr in meinen Kopf schauen werdet und ihn wie einen alten Motor demontiert. Und wenn ihr das tut, möchte ich nur …«

»Ja?«

»Nehmt euch das, was ihr braucht. Dann macht sie wieder ganz.«

 

Sie liefen über die kristallklare Durchsichtigkeit des Aussichtsdecks, und Svetlana spürte die glatte Haut von Parrys Hand in ihrer. Es war die Hand eines jungen Mannes, ohne Erinnerungen an die Narben und Blessuren eines arbeitsreichen Lebens. Es gab immer noch Momente der schockierenden Unvertrautheit, wenn sie aus dem Augenwinkel einen Fremden sah und mit entzücktem Schrecken erkannte, dass es Parry war, ihr Ehemann, und dass sie für ihn auf den ersten Blick genauso fremd aussehen musste. Svetlana wusste nicht, zu welchem Ergebnis die gerichtliche Debatte gekommen war, aber man hatte entschieden, ihre biologischen Uhren wieder auf Anfang zwanzig zu stellen. Unter Berücksichtigung der günstigen Auswirkungen der Verjüngung auf den natürlichen Alterungsprozess konnten Parry und Svetlana mit siebzig oder achtzig Jahren rechnen, die noch vor ihnen lagen. Das sollte ausreichend Zeit sein, dachte sich Svetlana. Aber sie hatte schon viel länger als achtzig Jahre gelebt, und sie kannte die Last dieser Jahre. Sie wusste, wie grausam schnell sie ihr wieder durch die Finger rinnen würden. Am Ende der Frist konnten sie sich nicht erneut an die Perückenköpfe wenden, um die Uhr ein weiteres Mal zurückzudrehen.

Aber sie rief sich ins Gedächtnis, dass dieses Arrangement nicht nur eine Belohnung, sondern auch eine Bestrafung war. Es war nicht dazu gedacht, ihr das Leben zu erleichtern.

»Nun?«, fragte McKinley. »Wie gefällt es euch?«

Sie wandte sich seiner Schutzsphäre zu. »Es fühlt sich gut an. Alles ist so, wie es sein sollte. Mir geht es wunderbar.«

»Eigentlich habe ich das Schiff gemeint.«

»Das Schiff ist wunderschön«, sagte Parry. »Das ist völlig klar.«

»Es gefällt dir?«

Parry hielt immer noch ihre Hand. »Auf jeden Fall. Ihr habt großartige Arbeit geleistet. Es ist mehr, als wir je erwartet hätten, vor allem, wenn man bedenkt, wie wenig Zeit ihr hattet.«

»Wenn der Teufel ruft, ist plötzlich vieles möglich«, sagte McKinley.

Das Schiff hinter dem gepanzerten Fenster des Aussichtsdecks war in der Tat eine Schönheit. Es schwebte in einem großen Hangar im Herzen der wieder aufgebauten Botschaft der Perückenköpfe, eine luftleere Öffnung, deren Wände scheinbar wahllos mit Kegeln und Schrauben unbekannter Funktion besetzt waren, wie die Schalldämpfung eines zu groß geratenen Tonstudios. Eine Krippe aus gebogenen tentakelähnlichen Armen hielt das neugeborene Schiff in einer Hülle aus Licht, als würde es von einem leuchtenden Seeungeheuer gepackt oder verschlungen werden. In einer anderen Umgebung wäre Svetlana das Schiff ehrfurchtgebietend fremdartig vorgekommen. Aber hier fiel sofort auf, dass es im Wesentlichen ein menschliches Artefakt war.

In Wirklichkeit war es gar nicht völlig neu. Die Aliens hatten die Cosmic Avenger als Ausgangsbasis genommen und daraus etwas anderes geschaffen … als wäre die frühere Version des Schiffes nur das Puppenstadium gewesen. Die Knochen des alten Schiffes zeigten sich immer noch unter der Haut des neuen. Die Hülle war mit einer Panzerung verstärkt worden, die so glatt und klar wie schmelzendes Eis war, aber das war im Grunde nichts Fremdartiges, sondern menschliche Technik aus der Zeit nach der Zäsur. Dasselbe galt für das neue Antriebssystem, die neuen Sensoren, die neuen Waffen. Sie waren Geschenke aus der fernen Zukunft oder Vergangenheit, doch alles wies die unverkennbare Textur menschlichen Erfindergeistes auf.

»Ist sie bereit?«, fragte Svetlana.

»Noch ein paar Stunden, dann können wir sie euch übergeben. Ich vermute, ihr wollt losfliegen, sobald die Farbe getrocknet ist.«

»Mehr oder weniger«, sagte Parry. »Wir müssen nur noch über die letzten paar Kandidaten entscheiden. Der Justizausschuss hat uns bei der Auswahl der Bewerber Vetorecht eingeräumt, aber wir wollen niemanden abweisen, wenn uns keine überzeugenden Gründe einfallen. Schade, dass wir nicht mehr Zeit haben, alles etwas gründlicher zu überdenken.«

»Glaubt mir«, sagte der Alien, »wenn ich die restliche Bauzeit um fünf Minuten verkürzen könnte, würde ich es tun. Leider schaffen wir es nicht mehr, euch mit allen Einzelheiten vertraut zu machen, bevor ihr aufbrecht. Also solltet ihr das Schiff einfach sich selbst überlassen, bis ihr die Zeit findet, mehr über die Bordsysteme zu lernen.«

»Keine Sorge. Es ist nicht das erste Mal, dass wir improvisieren müssen.«

»Wir sind uns nicht sicher, was Saul Regis betrifft«, sagte Svetlana und drückte Parrys Hand fester. »Er möchte uns begleiten, aber …« Sie hatten sich lange und intensiv über ihn unterhalten, ohne sich entscheiden zu können, ob er in das Erkundungsteam passte. Immer wieder musste sie an das schwierige Gespräch in Bellas Büro denken, als Regis die Hinrichtungsszene aus der alten Fernsehserie erwähnt hatte, der dieses Schiff den Namen verdankte. Damals hatte sie seine Sehnsucht nach einer Welt gespürt, die mehr Ähnlichkeit mit jenen knallbunten Filmkulissen hatte als mit der, in der er lebte, und nun hatte sie es wieder gespürt, als Regis zu ihr gekommen war, um einen Platz an Bord des neuen Schiffs zu beantragen.

»Interessiert euch meine Meinung?«, fragte McKinley.

Die beiden Menschen sahen sich mit einem Achselzucken an. »Es kann nicht schaden, sie zu hören.«

»Nehmt Regis mit. Nehmt jeden, der unbedingt mitkommen will, bevor ihr alle Plätze zugeteilt habt. Sie alle wissen um die Risiken, die mit dieser Mission verbunden sind.«

»Meinst du?«, fragte Svetlana.

McKinley rollte an ihnen vorbei und hielt am Rand der Aussichtsplattform an. »Wir haben diese Waffe nicht zum Spaß hochfrisiert, Svetlana. Oder die Hülle in dreifacher Dicke gepanzert. Da draußen gibt es etwas, das nicht gut auf Neugierige zu sprechen ist. Und ihr werdet euch damit auseinandersetzen müssen.«

Sie nickte, und für einen kurzen Moment dachte sie an die Alternative – das Projekt aufzugeben, stattdessen die ursprünglich geplante Strafe anzutreten, die auf dem Tisch gelegen hatte, bevor sie dem Justizausschuss einen anderen Vorschlag unterbreitet hatte. Doch der Moment hielt nicht lange an. Sie würde auf jeden Fall fliegen.

Als würde er ihre Zweifel spüren, drückte Parry ihre Hand fester. Was immer dort draußen geschah, sagte ihr diese Geste, sie würden es gemeinsam durchstehen, ohne Furcht, als Liebespaar.

»Wir machen es trotzdem, McKinley. Nichts kann uns jetzt noch davon abbringen.«

»Alles klar«, sagte der Alien.

»Und Bella …«, begann Svetlana. »Wie geht es mit ihr voran?«

»Es wird nicht so schnell und einfach gehen, wie wir gedacht haben«, sagte McKinley, bevor er sich umdrehte und an ihnen vorbeirollte.