Siebzehn


 

 

Auf der obersten Etage des Habitats, hoch über den weitläufigen Lichtern von Crabtree, saß Svetlana und schwieg bedrückt. Das zwölfte Jahr der Siedlung war fast zu Ende. Das Analyseteam hatte soeben die neuesten Daten über die Dopplerverschiebungen ausgewertet, und die Zahlen entsprachen nicht annähernd dem, worauf sie gehofft hatte.

»Das kann nicht stimmen«, sagte sie und schüttelte den gealterten Flextop wie ein feuchtes Geschirrtuch. »Wir sind höchstens noch acht Wochen von Spica entfernt. Allmählich müsste sich unser Tempo verlangsamen.«

»So ist es aber nicht«, sagte Nick Thale. Er saß ihr gegenüber und hatte die Hände wie zur Meditation verschränkt. Es war Monate her, seit sie sich das letzte Mal von Angesicht zu Angesicht getroffen hatten, und Thale schien in dieser Zeit sichtlich älter geworden zu sein. Er hatte sein Haar rund um die kahle Schädeldecke lang wachsen lassen, sodass es nun in schneeweißen Wellen herabfiel und sein Aussehen entfernt an einen emeritierten Professor erinnerte.

Er war in Begleitung von Denise Nadis, deren Dreadlocks nun mit grauen Strähnchen durchsetzt waren. Ihre dunkle Haut war um das Kinn mit Altersflecken gesprenkelt, und die Falten um die Mundwinkel waren tiefer geworden. Unbewusst berührte Svetlana ihr Gesicht und ertastete fremdartige Strukturen, die vor einem Jahr oder so noch nicht dagewesen waren.

Sie alle wurden älter, selbst im zeitlichen Bezugssystem von Janus, das einem extremen Dilatationseffekt unterworfen war.

»Kann ich mich auf diese Zahlen verlassen?«, fragte sie.

»Wir haben Schwierigkeiten, auf der blauverschobenen Seite Messungen durchzuführen«, sagte Thale. »Es ist ohnehin schon problematisch, unsere Ausrüstung unter der Strahlenbelastung zum Laufen zu bringen. Und die Sabotageversuche der Symbolisten machen es auch nicht einfacher.«

»Was für Sabotageversuche?«, fragte Svetlana.

»Frida Wolinskys Extremisten. Seit Gregors Tod …« Thale zuckte die Achseln, weil er wusste, dass er gar nicht mehr sagen musste.

»Es gefällt ihnen nicht, wenn wir ins Blaue messen«, sagte Nadis. »Vor allem nach dem, was mit Bob Ungless passiert ist.«

Robert Ungless hatte einen Abschiedsbrief hinterlassen und war mit einem Traktor von Crabtree losgefahren, auf die Bugseite von Janus. In seiner letzten halbwegs sinnvollen Botschaft hatte er von einer großen Helligkeit gesprochen, von leuchtenden, lockenden Dingen, die er darin gesehen hatte, während die blauverschobene Strahlung sein Gehirn zertrümmerte. Danach hatte er nur noch rätselhafte Aussagen von sich gegeben. Die Symbolisten behaupteten, dass Ungless göttliche Botschaften empfangen hatte, dass jedes seiner Worte, die er im Delirium geäußert hatte, als Offenbarung betrachtet werden musste.

»Sie halten es für eine Art Blasphemie«, fuhr Nadis fort. »Vom Schlund aus schicken sie Roboter los, um unsere Datenleitungen zu zerschneiden und unsere Instrumente zu zerstören. Was sie natürlich abstreiten.«

»Wir hätten sie schon vor Jahren wegsperren sollen«, sagte Svetlana.

Parry verzog das Gesicht. »Das haben wir doch schon längst besprochen. Im Schlund brauchen wir Leute, die das Uhrwerk ölen, und wenn es die Symbolisten machen, prima. Zumindest erledigen sie die Arbeit gewissenhaft.«

Svetlana knirschte mit den Zähnen. »Erzählt mir mehr über die Daten.«

Nadis rutschte unbehaglich auf ihrem Stuhl herum. »Die Zahlen sind zuverlässig. Innerhalb der angegebenen Fehlertoleranz gibt es keine signifikanten Veränderungen der Frequenzen des Sternenlichts. Entweder geschieht etwas sehr Seltsames mit der Raumzeit, die vor uns liegt, oder wir werden nicht langsamer.«

Mit einer effektiven Beschleunigung von fünf Ge hatte Janus zwei Monate gebraucht, um nach Verlassen des Sonnensystems seine Reisegeschwindigkeit zu erreichen. Svetlanas klügste Köpfe konnten sich immer noch keine Vorstellung machen, wie der Mond angetrieben wurden, aber sie waren davon ausgegangen, dass die gleiche Methode auf umgekehrte Weise zur Anwendung kommen würde, wenn sie sich dem Ziel näherten. Doch die kritische Zeitgrenze von zwei Monaten war bereits überschritten, und es gab keine Anzeichen, das der Mond in die Verzögerungsphase eingetreten war. Sie rasten immer noch eine Haaresbreite unterhalb der Lichtgeschwindigkeit durch den Weltraum.

»Wenn wir nicht langsamer werden«, sagte Svetlana, »was wird dann passieren, wenn wir Spica erreicht haben?«

»Ich schätze, dass wissen nur Janus und die Spicaner«, sagte Thale.

Parry hustete warnend. »Es wäre schön, wenn du darauf achtest, dass deine Bemerkungen konstruktiv bleiben, Nick.«

Thale sah ihn verdutzt an. »Dann habe ich meinen bisherigen Aussagen nichts Sinnvolles mehr hinzuzufügen. Du hast die letzten Bilder gesehen. Die spicanische Struktur liegt immer noch genau vor uns, und ihre Längsachse ist exakt auf unseren gegenwärtigen Vektor ausgerichtet. Ob wir nun langsamer werden oder nicht – auf jeden Fall werden wir in diese Röhre einfliegen.«

»Und was dann?«, wollte Svetlana wissen. »Schießen wir einfach hindurch, wie eine Ratte durch ein Kanalisationsrohr?«

»Ich habe keine Ahnung. Du könntest genauso gut im Kaffeesatz nach einer Antwort suchen – wenn wir noch Kaffee übrig hätten.«

Nadis beugte sich vor und trommelte mit ihren roten Fingernägeln auf den Tisch. »Vielleicht gibt es für die Bremsphase eine andere Methode.«

»Sprich weiter.« Svetlana zwang sich zu einem ermutigenden Lächeln.

»Janus war allein in unserem Sonnensystem. Er konnte nur aus eigener Kraft auf Reisegeschwindigkeit kommen. Im Spica-System könnte es anders aussehen. Vielleicht ist diese Struktur ein Teil des Verzögerungsmechanismus.«

Svetlana blickte Thale an. »Was sagst du dazu, Nick?«

»Es wäre eine von vielen Möglichkeiten.«

»Was ist mit den Spitzen?«, fragte Parry. »Hat jemand eine Idee, wie sie zu allem passen könnten?«

»Nicht die leiseste«, sagte Thale nur.

»Aber es kann kein Zufall sein«, sagte Parry. »Zwei Monate vor dem Ziel, und plötzlich schieben sich überall diese Dinger durchs Eis. Da muss es einen Zusammenhang geben.«

Während sie darauf wartete, dass Nick Thale sich zu einer Entgegnung bequemte, sah sich Svetlana die letzte Karte an, auf denen das Wachstum der Spitzen verzeichnet war. Seit der Entdeckung des ersten Durchbruchpunktes waren neunzehn ähnliche Gebilde auf ganz Janus beobachtet worden, in annähernd regelmäßigen Abständen voneinander. Gewaltige Kegelspitzen brachen durch die Kruste, schoben Maschinen, Eis und andere Hindernisse zur Seite wie plötzlich wachsende Weisheitszähne. Darauf glitzerten Symbole in neuen syntaktischen Mustern, die sämtliche bisherige Theorien der Linguisten über den Haufen warfen. Sie streckten sich immer mehr in die Höhe, bis die Basis einen Durchmesser von einem Kilometer hatte und die Spitzen die Janus-Oberfläche zwanzig Kilometer überragten.

Zwei der Spitzen, die aus der Eiskappe am Heck ragten, waren von Crabtree aus sichtbar. Wo es zuvor nur Dunkelheit gegeben hatte, hoben sich nun schiefe Keile aus pastellfarbenem Licht über den Horizont wie gefrorene Polarlichter. An den Seiten verliefen Lavaströme, die in Windungen bis zu einem Punkt knapp unter dem Kegel führten, wo sie ins Innere eintauchten. Rund um die Uhr rasten mit Fracht beladene Transporter die Spitzen hinauf. In ihrem Innern mussten unvorstellbare Transformationen stattfinden.

»Nick«, hakte sie nach.

»Wenn du Spekulationen hören willst, kann ich munter drauflos spekulieren, aber mach mir deswegen anschließend keine Vorwürfe.«

»Das werde ich nicht tun.«

»Mit hoher Wahrscheinlichkeit gibt es einen Zusammenhang. Janus scheint sich auf irgendetwas vorzubereiten. Vielleicht ist es die Verzögerung, auf die wir alle warten. Vielleicht sind diese Spitzen ein Teil des Mechanismus. Vielleicht werden wir schlagartig abgebremst, sobald wir in die Röhre einfliegen. Es könnte aber auch etwas ganz anderes bedeuten.«

»Ich brauche irgendetwas«, sagte Svetlana verzweifelt.

»Wir werden es erfahren, früher oder später«, sagte Thale mit einem resignierten Achselzucken.

Svetlana dachte an die skelettartige Röhre, der sie sich näherten, an die Streben und Sparren, an die unvorstellbar große innere Oberfläche – die mindestens einer Million Erden entsprach. Und auf jeder dieser Flächen konnten mühelos mehrere Milliarden Intelligenzwesen leben, wenn die spicanischen Vorstellungen von einer erträglichen Bevölkerungsdichte ungefähr denen der Menschen glichen.

Andererseits gab es dort vielleicht überhaupt keine Spicaner, sondern nur ihre uralten und gehorsamen Maschinen. Vielleicht erwies es sich als äußerst schwierig, aus menschlicher Sicht einen Unterschied zu erkennen.

Sie spürte einen eiskalten Schauder, der etwas von einer trostlosen Vorahnung hatte. Sie dankte Thale und Nadis und entließ sie. Sie trat ans Fenster und lehnte sich gegen die stellare Kälte, die durch die Glasscheibe zu sickern schien. Die fernen Spitzen funkelten in bedrohlicher Aktivität. Parry wartete, ohne etwas zu sagen, und ließ sie mit ihren Gedanken allein.

»Ich habe Angst«, sagte sie schließlich, als wäre außer ihr niemand im Raum. »Ich habe Angst und mache mir Sorgen, dass wir einem schrecklichen Irrtum unterliegen könnten.«

Sie hörte seine Schritte und sah, wie sein undeutliches Spiegelbild näher kam. Parry schlang die Arme um sie und hielt sie fest. Obwohl sie froh darüber war, wollten die Kälte und die Angst nicht weichen.

 

»Es ist sehr freundlich von dir, mich auf dem Laufenden zu halten«, sagte Craig Schrope, »auch wenn es nicht die besten Neuigkeiten sind.«

Sie befanden sich in einem Teil des Habitats, der von der Interimsverwaltung genutzt wurde. Schrope hatte ein eigenes Büro, das er mit Wangholz-Regalen voller Papierausdrucke eingerichtet hatte. Dort verbrachte er die meiste Zeit und beschäftigte sich mit juristischen Problemen der Gemeinschaft. Es war eine einsame Arbeit, aber Schrope war damit zufrieden. Obwohl inzwischen genesen, war er emotional immer noch sehr labil, und es gab nur eine Handvoll Menschen, in deren Gesellschaft er sich entspannen konnte. Svetlana empfand einen gewissen Stolz, dass sie zu dieser Elite gehörte. Sie würden vermutlich nie enge Freunde werden, aber dass sie zivilisiert miteinander umgehen konnten, war eine erstaunliche Verbesserung gegenüber dem vorherigen Zustand.

»Du sollst wissen, dass wir nichts vor dir geheim halten«, sagte Svetlana. »Ich bin überzeugt, dass du Gerüchte hören wirst, aber die Wahrheit lautet, dass wir keine Ahnung haben, was es ist.«

»Habt ihr schon einen Namen dafür?«

»Der Eiserne Himmel«, sagte sie gepresst.

Kurz nachdem sie ihre endgültige Höhe von zwanzig Kilometern erreicht hatten, wurden die Kegelspitzen einem erneuten Veränderungsprozess unterworfen. Die oberen drei Kilometer hatten sich knospenförmig verbreitert und waren dann entlang unsichtbarer Nähte aufgebrochen. Daraus waren sechs radial angeordnete Blütenblätter entstanden, an deren Rändern dünne Lavaspuren verliefen. Die Blätter ragten drei Kilometer weit hinaus, ohne sich von Janus’ Gravitationsfeld beeindrucken zu lassen. Dann waren die Blätter gewachsen und hatten sich wie ein Ölfilm auf Wasser ausgebreitet.

Im Verlauf der folgenden zwei Monate hatten sie einen immer größeren Teil des Himmels bedeckt, bis sie sich gegenseitig berührten und miteinander verschmolzen. Und nun gab es keinen Himmel mehr, sondern nur noch die erdrückende schwarze Decke, die zwanzig Kilometer über dem Eis hing. Die Lavaströme waren erloschen. Obwohl die Spitzen weiterhin von spicanischen Symbolen erleuchtet wurden, war die Decke nun so dunkel wie der interstellare Raum, den sie vor den Blicken der Menschen verbarg.

»Könnt ihr hindurchsehen?«, fragte Schrope und klappte einen Aktenordner zu. Das Papier stammte aus dem Kessel und war dicker als gewöhnlich, der Umschlag hatte in früheren Zeiten ein technisches Handbuch von Lockheed-Krunichev Fusion Systems mit dem Titel Das Hochfahren eines Tokamak – kurz und bündig enthalten.

»Hast du gehört, dass wir dazu in der Lage sein sollen?«

»Nur Gerüchte, Svieta.«

»Nein. Wir sehen gar nichts. Jede Strahlung, die wir darauf richten, wird absorbiert. Wenn es auf der anderen Seite etwas gibt, empfangen wir kein Echo.«

»Und die Flugroboter?«

»Totenstille. Wenn sie noch da draußen sind, hören wir nichts mehr von ihnen.«

»Macht es dir Sorgen?«

»Natürlich macht es mir Sorgen. Was glaubst du denn, wie ich dazu stehe?«

»Für mich spielt es eine bemerkenswert unbedeutende Rolle«, sagte Schrope gelassen. »Hier unten vergehen ganze Tage, ohne dass ich etwas von der Außenwelt sehe. Die Büroarbeit verzehrt Zeit wie eine Maschine, weißt du.«

Er legte den Aktenordner zur Seite. Sowohl buchstäblich als auch im übertragenen Sinn hatte er die Akte Meredith Bagley geschlossen. Immer wieder waren neue Gerüchte hochgekocht, dass ihr Tod mehr als nur ein grausiger Unfall während einer routinemäßigen Wartungsarbeit an der Zentrifuge gewesen war. Svetlanas Wut über die leiseste Andeutung, dass sie stillschweigend froh darüber gewesen war, hatte sie motiviert, die gerichtliche Untersuchung zu genehmigen, die Schrope geleitet hatte. Auf diesem Gebiet war er sehr gut. Dazu waren die gleichen detektivischen Instinkte nötig, mit denen er in Shalbatana so erfolgreich gewesen war.

Die Schlussfolgerung des Bluthundes lautete, dass es keine verdächtigen Aspekte an diesem Todesfall gab. Die Gerüchte mochten weiterköcheln, aber der Justizausschuss konnte nichts mehr tun, um sie zu entkräften.

»Deine Arbeit ist sehr wichtig«, sagte Svetlana, »aber ich muss die Dinge aus einer weiteren Perspektive betrachten. Welchen Sinn hätte ein Justizausschuss, wenn es keine Welt mehr gibt, die wir verwalten könnten?«

»So schlimm steht es noch nicht«, sagte Schrope beruhigend. »Es ist nur der Himmel.«

»Wir können ihn nicht mehr erreichen«, sagte sie. »Wir haben Flugroboter hochgeschickt, und sie wurden zurückgestoßen.«

»Wahrscheinlich ist es nur zu unserem Wohl.« Er ließ neurotisch schnell die Mine eines Kugelschreibers klicken. »Meinst du nicht auch?«

»Ich empfinde es als klaustrophobisch«, sagte sie. »Früher bin ich geschwommen. Ich war ein ziemlich guter Taucher. Ich hatte nie Probleme mit dem Wasser, ganz gleich, wie tief und schwarz und kalt es sein mochte. Aber ich konnte es nicht ausstehen, wenn ich etwas anderes über mir hatte als das Meer und den klaren blauen Himmel.«

»Es ist nicht schlimmer als das, was vorher war. Es ist schon eine ganze Weile her, seit wir die Sterne am Himmel gesehen haben, Svetlana.«

»Aber wir hätten jederzeit von hier verschwinden können, wenn wir es gewollt hätten.«

Er brachte den Aktenordner zum Regal und quetschte ihn zwischen zwei andere dicke Mappen. Für eine Kolonie von weniger als zweihundert Einwohnern produzierte Crabtree eine beachtliche Menge an juristischen Dokumenten. Was allerdings kein Wunder war. Sie hatten eine komplette Wirtschaft aus dem Nichts aufbauen müssen, damit die Menschen angemessen für ihre Arbeit entlohnt wurden. Nach zwölf Jahren musste die Verwaltung immer noch Beschwerden von Leuten bearbeiten, die der Ansicht waren, dass sie bei der ursprünglichen Zuteilung von Krediteinheiten zu kurz gekommen waren. Es hatte sich sogar eine Art Schwarzmarkt entwickelt. Offiziell gab es keinen Kaffee mehr auf Janus, aber wenn man die richtigen Leute kannte, war es weiterhin möglich, an bislang unbekannte Restbestände zu gelangen.

»Wir hätten es nicht überlebt, wenn wir Janus verlassen hätten«, sagte Schrope, »wenn wir aus dem Kielwasser gefallen wären, aus dem schützenden Schatten von Janus. Wir hätten nicht länger als fünf Minuten durchgehalten.«

»Aber es war eine Möglichkeit. Es ist mir sehr wichtig, dass ich Möglichkeiten habe.«

»Wenn ich nach den Anträgen gehe, die auf meinem Schreibtisch landen, Svetlana, machen die meisten Leute einfach wie gehabt weiter.« Schrope zeigte auf ein Regal. »In der Akte ganz rechts geht es um einen Vaterschaftsstreit. Auf der Erde hätten wir die Sache nach ein paar Minuten mit einem DNS-Test geklärt. Der Fall wäre nicht einmal zur gerichtlichen Verhandlung gekommen. Aber hier draußen können wir keine DNS sequenzieren. Axford bemüht sich nach Kräften, aber er ist ohnehin schon sehr beschäftigt, und ich möchte nicht mehr von seiner Zeit beanspruchen als unbedingt nötig. Und das ist nur eine Akte. Wir haben Scheidungsverfahren, Schadensersatzforderungen wegen Körperverletzung, Verleumdungsklagen … sogar die Symbolisten prozessieren wegen religiöser Diskriminierung.«

»Sie haben ihre Religion frei erfunden«, sagte Svetlana indigniert. »Ich habe jedes Recht, sie diskriminierend zu behandeln.«

»Doch objektiv betrachtet leisten sie gute Arbeit im Schlund.«

Sie räumte ihm dieses Argument mit missbilligender Miene ein. »Vielleicht. Aber wie lange können wir uns noch auf sie verlassen? Sie behaupten schon jetzt, ich wäre zu voreingenommen. Inzwischen darf ich den Schlund gar nicht mehr betreten. Ich muss Parry schicken.«

»Ich will damit nur sagen, dass das Leben weitergeht. Vielleicht ist der Eiserne Himmel gar nicht so schlimm, wie du befürchtest.«

»Das sagen mir die Leute auch ständig. Schließlich versorgt Janus uns weiterhin mit Energie und Rohstoffen, die Eiskappe ist immer noch vorhanden … und wenn wir zwölf Jahre überlebt haben, halten wir auch noch etwas länger durch.«

Schrope hörte auf, mit dem Kugelschreiber zu klicken, und legte ihn auf den Tisch. »Aber du siehst es anders.«

»Es gefällt mir nicht, Craig. Ich mag es nicht, wenn ich nicht weiß, was da draußen los ist. Inzwischen müssten wir die spicanische Struktur erreicht haben.«

»Das mag sein«, sagte er beruhigend, als wäre die Problematik für ihn nur von flüchtigem Interesse. »Das System besteht aus zwei blauen Sternen, Svetlana, die sehr heiß und hell sind. Nicht gerade eine gesundheitsfördernde Umgebung für Menschen. Vielleicht wurde der Himmel geschlossen, um uns vor Schaden zu bewahren.«

»Das hoffe ich«, sagte sie. »Ich habe nur Angst vor dem, was wir auf der anderen Seite sehen würden, wenn wir jemals die Gelegenheit dazu erhalten sollten.«

Er seufzte und lehnte sich auf seinem Stuhl zurück, die Finger hinter dem Kopf verschränkt. »Du bist sehr gut zu mir gewesen, Svetlana. Du hast mich von dort zurückgeholt, wo ich war, und du hast mir die Chance gegeben, wieder etwas aus mir zu machen.«

Sie nickte, aber sie sagte nichts. Schrope dankte ihr immer wieder für ihre Hilfe während seines inneren Exils, obwohl sie gar nicht so viel für ihn getan hatte. Einmal hatte er ihr sogar erzählt, wie Bella zu ihm gesprochen hatte. Svetlana war klar, dass seine Erinnerungen an diese Phase sehr unzuverlässig waren.

»Ich hoffe, ich war Crabtree wenigstens ein bisschen von Nutzen«, fuhr er fort, »aber ich weiß, dass ich nicht unersetzbar bin. Ich weiß, dass es viele Menschen gibt, die diesen Papierkram genauso gut erledigen könnten wie ich.«

»Ich weiß nicht …«, begann sie.

Er schüttelte den Kopf und ließ sie nicht ausreden. »Aber ich hoffe, dass ich eines Tages unersetzlich sein werde. Nicht als Bürokratenhengst, sondern durch etwas Konkretes. Durch etwas, das kein anderer tun kann.«

»Ich kann dir nicht folgen«, sagte sie.

»Du hast Angst, und das kann ich gut verstehen, aber ich war an einem Ort irgendwo in meinem Kopf, der schlimmer ist als alles, was dieses Universum zu bieten hat. Wenn sie kommen, Svetlana, werde ich ihnen entgegentreten. Du kannst mich als Ersten schicken. Ich bin nicht mehr imstande, mich vor den Spicanern zu fürchten.«

»Craig …«

»Lass mich dein Gesandter sein. Das ist das Mindeste, was ich tun kann.«