Neunundzwanzig


 

 

Die Musik und die Laternen waren gedämpft. Sie saßen in der zunehmenden Stille, während sich die Feier ihrem natürlichen Ende zuneigte. McKinley und Takahashi waren in den Wald davonspaziert und hatten Bella und Svetlana miteinander allein gelassen. Die paar noch übrigen Partygäste beobachteten sie verstohlen. Allen musste die Bedeutung dieser Begegnung klar sein.

Allmählich hatte sich die Stimmung zwischen ihnen etwas entkrampft, auch wenn man noch nicht von einem entspannten Zustand sprechen konnte. Bella achtete sehr genau auf jede Nuance jedes Wortes, das zwischen Svetlana und ihr fiel. Aber sie waren zumindest imstande, ein Gespräch zu führen, das auf einen unbeteiligten Zuhörer einigermaßen normal gewirkt hätte.

»Gelegentlich erfahre ich dieses und jenes von Emily«, sagte Svetlana. »Ich weiß, dass sie eigentlich nicht über ihre Arbeit reden soll, aber ich kann sehr hartnäckig sein.«

»Das überrascht mich nicht«, sagte Bella. Sofort korrigierte sie sich. »Dass es dich interessieren würde, meine ich. Manchmal denke ich, sie sollte alle ihre Ergebnisse und Spekulationen sofort veröffentlichen, ohne Rücksicht auf die Konsequenzen. Aber dann mache ich mir Sorgen, wie wir alle damit umgehen würden.«

»Wahrscheinlich hast du recht«, sagte Svetlana.

»Im Moment ist die Situation sehr stabil und etabliert, auch wenn ich es bin, die das sagt. Aber wir wissen kaum etwas über die Aliens oder die Spica-Struktur oder unsere langfristigen Aussichten. Ich befürchte, dass unsere Gemeinschaft auseinanderbrechen könnte, falls wir von unangenehmen Tatsachen erfahren sollten.«

»Glaubst du manchmal …« Svetlana verstummte und betrachtete ihre Hände.

»Was?«, fragte Bella behutsam.

»Kommt dir manchmal der Gedanke, dass wir vielleicht für immer in diesem Ding festsitzen werden? Inzwischen sind es schon fünfunddreißig Jahre, und wir haben immer noch keine Möglichkeit gefunden, wie wir hier herauskommen könnten.«

»Das ist eine lange Zeit.«

»Das ist es, Bella, auf jeden Fall.«

»Aber nicht im Vergleich zu den zweihundertsechzig Jahren, die wir für den Herflug gebraucht haben. Nach dem Standpunkt der Erbauer dieses Dings stecken wir vielleicht immer noch in der Quarantänephase.«

»Und die Perückenköpfe?«, fragte Svetlana zweifelnd. »Sind auch sie in Quarantäne?«

»Ich weiß es nicht«, sagte Bella.

»Welche Rolle spielen sie überhaupt? Und all die anderen Spezies, über die du geheime Informationen besitzt?«

»Die Daten sind sehr spärlich. Wir wissen längst nicht so viel, wie du zu glauben scheinst.«

»Aber du weißt, dass wir nicht die einzige Spezies in diesem Ding sind. Deshalb sind die Perückenköpfe so sehr darauf erpicht, uns davon abzuhalten, unsere Nase durch das Tor am Ende der Röhre zu stecken.«

Bedrückt erinnerte sich Bella an McKinleys Warnung vor den Moschushunden. »Ich glaube, sie haben nur unser Wohlergehen im Sinn«, sagte sie.

Svetlana nickte wissend. »Auf jeden Fall haben sie das Wohlergehen von irgendwem im Sinn.«

»In all den Jahren haben wir nichts erfahren, das uns Anlass gibt, an der Vertrauenswürdigkeit der Perückenköpfe zu zweifeln.«

»Sie waren sehr gut zu uns«, räumte Svetlana ein. »Verjüngungen, kleine Geschenke technischen und kulturellen Fortschritts. Aber das alles hat bereits uns gehört. Es war einfach nur unser gutes Recht, diese Dinge zu bekommen. Sie haben uns nichts aus ihrer eigenen Zivilisation gegeben, außer ein paar Tipps, wie wir Janus besser nutzen können.«

»Ich denke, sie wissen am besten, was gut für uns ist.«

Svetlanas Miene verdüsterte sich. »Ich habe in letzter Zeit sehr viel über die Zäsur nachgedacht. Kommt dir das alles nicht ziemlich merkwürdig vor?«

»In welcher Hinsicht?«

»Dass sie so viel über uns wissen, aber nur bis zu einem ganz bestimmten Datum – und danach nichts mehr.«

»Sie hatten nur einmal mit Menschen Kontakt«, zitierte Bella das offizielle Statement. »Bis zu diesem Punkt besitzen sie Informationen über die menschliche Kultur. Mehr können sie gar nicht über uns wissen.«

»Wir wissen, dass sie überlichtschnelle Signale austauschen können, Bella. Vielleicht können sie sogar überlichtschnell reisen. Wie sonst konnten diese Daten uns überholen?«

Bella rutschte unbehaglich auf dem Sitz herum. »Ich bin mir nicht sicher, worauf du hinauswillst.«

»Wenn sie so hoch entwickelte Kommunikationstechnik besitzen, kommt es dir dann nicht merkwürdig vor, dass die Perückenköpfe bisher nur einem einzigen Raumschiff von der Erde begegnet sind? Wir wissen bereits, dass die thailändische Expansion eine konzertierte Aktion war, um extrasolare Kolonien in der Nähe mehrerer Sterne zu gründen. Sie müssen sehr viele Schiffe auf den Weg geschickt haben, in alle Richtungen, über mehrere Jahrzehnte hinweg.«

»Und nur eins davon begegnete den Perückenköpfen«, warf Bella ein.

»Aber die Perückenköpfe sind eine raumfahrende Zivilisation mit einer Technik, die viel weiter fortgeschritten ist als unsere. Ich erinnere mich an eine der Diskussionen, die wir an Bord der Rockhopper geführt haben, Bella. Sobald eine Spezies interstellare Distanzen bewältigen kann, ist zu erwarten, dass sie sich über einen beträchtlichen Teil der Galaxis ausbreitet, dass sie mindestens einige tausend Sonnensysteme erforscht, und zwar in sehr kurzer Zeit.«

»Der Zeitraum dürfte nur nach galaktischen Maßstäben sehr kurz sein«, sagte Bella und tadelte sich gleichzeitig für den pedantischen Tonfall, den sie in ihrer eigenen Stimme wahrnahm.

»Okay, es mag sein, dass wir in Jahrhunderttausenden denken müssen, aber das ist kosmisch gesehen immer noch fast nichts. Nur ein winziger Augenblick. Die Perückenköpfe müssten schon überall gewesen sein, sich in alle Richtungen ausgebreitet haben.«

»Warum nicht?«

»Doch als die Thai Raumschiffe in die Nacht hinausschickten, soll nur ein einziges den Perückenköpfen begegnet sein? Das passt einfach nicht zusammen, Bella. Es hätte zahllose Kontakte geben müssen, aber nicht unbedingt zur gleichen Zeit. Und einige Schiffe müssen später als die anderen gestartet sein. Nicht alle haben den gleichen Bestand an historischen und kulturellen Daten an Bord. Und sofern sich diese Schiffe nicht knapp unterhalb der Lichtgeschwindigkeit bewegen, ist es für sie kein Problem, neuere Daten von der Erde zu empfangen.« Svetlana lächelte und schüttelte den Kopf. »Ich höre mich an, als hätte ich mir das alles selbst ausgedacht. Aber so war es nicht. Ich habe nur den richtigen Leuten zugehört.«

»Ich mache es genauso«, sagte Bella.

»Trotzdem beunruhigt es mich. Die Perückenköpfe hätten Daten aus Dutzenden, vielleicht sogar Hunderten Kontakten sammeln müssen. Und mit überlichtschneller Kommunikation wäre es für sie ein Leichtes, all diese Datenpakete zusammenzuführen.«

»Trotzdem muss es irgendwo eine Zäsur geben«, sagte Bella. »Ganz gleich, wie viele Einzelkontakte stattfanden, es muss irgendein bestimmtes Schiff gegeben haben, das über die aktuellsten Daten verfügte.«

»Ich weiß, aber zu diesem Zeitpunkt muss die Thai-Expansion schon viele Jahre lang im Gange gewesen sein. Sie hätte bereits in den Geschichtsdateien erwähnt sein müssen – selbst wenn sie auf Updates beruhen, die erst nach dem Start an das Schiff übermittelt wurden. Aber so sieht das Bild nicht aus, das wir von ihnen bekommen, nicht wahr?«

»Wir haben grundsätzlich nur sehr wenig von den Perückenköpfen bekommen«, sagte Bella. »Sie überlassen es uns, weitere Schlussfolgerungen zu ziehen.«

»Auf der Basis der Daten, die sie uns zuteilen.«

»Ich verstehe immer noch nicht, worauf du hinauswillst.«

»Ich will damit sagen, dass das alles nicht zusammenpasst. Ich will damit sagen, dass hier etwas faul ist, dass die Sache keinen Sinn ergibt. Wenn wir die Geschichte glauben, die die Perückenköpfe uns erzählen, müssen wir davon ausgehen, dass sie nur ein einziges Mal Kontakt mit Menschen hatten – obwohl wir erwarten würden, dass es entweder niemals oder viele Male geschehen sein müsste. Außerdem müssen wir akzeptieren, dass sie sich aus Gründen, die nur ihnen bekannt sind, nicht so verhalten, wie wir es von einer raumfahrenden Zivilisation erwarten würden. Aber es gibt natürlich noch eine andere Erklärung.«

»Und die wäre?«, fragte Bella.

»Dass sie uns belügen«, sagte Svetlana.

 

Am nächsten Morgen wachte Bella früh auf und war froh, dass sie auf Takahashis Party nicht allzu viel getrunken hatte. Ihr Geist war jetzt klar wie Gin, doch darin hallten immer noch die weltverändernden Überlegungen nach, die Svetlana bei ihrer erneuten Kontaktaufnahme angestellt hatte.

Es war nicht damit zu rechnen, dass sie je wieder enge Freundinnen sein würden. Dazu war Bella viel zu realistisch. Aber wenn sie einfach nur normal umgehen konnten, wäre das eine gewaltige Verbesserung gegenüber dem Zustand, der seit der Krise an Bord der Rockhopper geherrscht hatte. Auch wenn eine Freundschaft ausgeschlossen war, konnten sie vielleicht wieder zu so etwas wie Verbündeten werden.

Die Wandlung hätte sie beleben müssen, und sie verspürte tatsächlich eine erneuerte Tatkraft. Zumindest für eine Weile. Sie beschäftigte sich mit Verwaltungsdingen und versprach sich selbst, mehrere Angelegenheiten abzuschließen, die sie schon viel zu lange vor sich hergeschoben hatte, einschließlich der Untersuchung des Bagley-Falls. Mit neuem Optimismus genehmigte sie Mittel für eine Reihe von Projekten, nachdem sie mehrere Wochen lang gezaudert hatte, ob sie förderungswürdig waren. Neue Perpetuum-Mühlen, neue Magnetbahnstrecken, ein neuer Schwung serieller Computerprozessoren, mit denen die anspruchsvollen Analysen bewältigt werden konnten, die das Ofria-Gomberg-Institut benötigte. Ein Angebot von den Perückenköpfen, zwei weitere Löcher im Himmel zu bohren, um das Gedränge in Underhole zu entlasten. Der Startschuss für eine Machbarkeitsstudie der Crabtree-Kuppel, die die gesamte Siedlung bis zu den Vorstädten Mairville und Shengtown überspannen und doppelt so hoch wie das Verwaltungshabitat emporragen würde. Ein noch langfristiger angelegter Plan, den leeren Raum zwischen Janus und dem Eisernen Himmel mit Atmosphäre zu fluten, damit sie schließlich ganz auf die Kuppeln verzichten konnten.

Solche Angelegenheiten hätten normalerweise Bellas vollständige Aufmerksamkeit beansprucht, doch nun musste sie die ganze Zeit an ihr Gespräch mit Svetlana denken. Es gelang ihr einfach nicht, die Zweifel abzutun, die Svetlana hinsichtlich der Aufrichtigkeit der Perückenköpfe geäußert hatte.

Bis Mittag hatte sie viel mehr geschafft als sonst an einem ganzen Arbeitstag. Wie vereinbart traf sie sich im Arboretum mit Parry Boyce und lud ihn zum Essen ein, wobei sie ihm von ihren Fortschritten im Fall Bagley erzählte.

»Vor fünfzehn Jahren dachte ich, es würde sich endlich etwas bewegen«, sagte sie, während sie aus Picknicktüten aßen, »aber dann habe ich die Sache wieder fallen gelassen. Ich hatte mir zu große Sorgen gemacht, ich könnte schlafende Hunde wecken. Aber jetzt ist der richtige Zeitpunkt gekommen.«

Parry fragte sie, was sie von ihm erwartete. Bella erklärte ihm, dass sie genauere Informationen über die Logbücher des Außeneinsatzteams brauchte, wie leicht es wäre, sie zu löschen oder zu fälschen und das Flextop-Sterben als Tarnung zu benutzen.

»Für jemanden, der drinsteckt, wäre es sehr leicht«, sagte Parry. Er hatte sich vor dreißig Jahren verjüngen lassen, sodass sein biologisches Alter nun etwa bei Anfang sechzig lag. Sein Schnurrbart war grau, sein Haar lugte in spärlichen grauen Locken unter der uralten, verblassten roten Mütze hervor, die die Spuren zahlloser Reparaturen zeigte. Er war immer noch stämmig und hatte die natürliche Muskulatur von jemandem, der viel Zeit in Bereichen mit hoher Schwerkraft verbrachte.

»Müsste es nicht irgendwo ein Backup geben?«

Parry verzog das Gesicht. »Nach so langer Zeit willst du es plötzlich ganz genau wissen, was?«

Bella warf einem bettelnden Eichhörnchen ein paar Essensreste zu. Es war eins der genetisch rekonstruierten Säugetiere, die das Arboretum bevölkerten. »Dreiundvierzig Jahre sind inzwischen gar nicht mehr so viel Zeit.«

»Du wirst ziemlich viel Staub aufwirbeln.«

»Lieber jetzt als später. Ich kann es nicht noch einmal fünfzehn Jahre lang schleifen lassen, Parry. Wir müssen jetzt die letzte offene Wunde operieren, damit wir anschließend zur Tagesordnung übergehen können.«

»Wahrscheinlich hast du recht.«

»Du weißt, dass ich recht habe. Als damals Thom Crabtree ermordet wurde, hast du dich dafür eingesetzt, die schuldigen Männer zu bestrafen. Es war schnell, brutal und wirksam. Ich habe es dir noch nie gesagt, aber ich war rundum damit einverstanden, wie du es gemacht hast.«

Sie sah, wie Schmerz in seinen Augen aufflammte, als hätte sie Erinnerungen in ihm wachgerufen, die er lieber nie mehr angerührt hätte. Erinnerungen an den lauten Schlag der Bohrhämmer gegen die dünne Panzerung der Helme, Erinnerungen an Blut, das auf Eis spritzte, Erinnerungen an zwei kniende Leichen, die vornüber kippten, als wollten sie sich demütig verneigen.

»Ich bin keineswegs stolz auf das, was wir mit Chanticler und Herrick gemacht haben. Es war falsch, sie zu töten.«

»Wir töten nicht mehr. Wir inhaftieren.«

»Nur weil die Aliens uns über die Schulter schauen.«

Bella knüllte ihre Picknicktüte zusammen. »Es ist eine praktische Frage, mehr nicht. Menschen im Gefängnis können weiterhin nützliche Aufgaben für uns erledigen.«

»Würdest du sie wieder töten, wenn sie keinen praktischen Nutzen mehr hätten?«

»Ich weiß es nicht«, sagte Bella. »Würde es eine Rolle spielen, wenn ich es bejahen würde?«

Parry stand auf. »Ich werde sehen, was ich für dich ausgraben kann. Ich möchte nur, dass dir etwas klar ist: Die Sache wird Konsequenzen haben.«

»Die gibt es immer«, erwiderte Bella.

 

Nach der Unterredung mit Parry machte sie sich auf den Weg zum gesicherten Labor, in dem der schwarze Würfel untergebracht war. Es befand sich unterhalb einer abgelegenen Vorstadt, abgeschirmt durch mehrere Schichten Sprühstein, akustisches Dämpfungsmaterial und mehrfache Faraday-Käfige.

Der Würfel blieb keinen Augenblick lang unbewacht. An diesem Tag war Hannah Ofria-Gomberg an der Reihe, ihn zu bemuttern, während Robotersensoren klickend und summend irgendeine Analysesequenz abarbeiteten. Der Überwachungsjob war extrem langweilig, und Hannah reagierte begeistert, dass sie nun Gesellschaft bekam, und gleichzeitig überrascht, dass es Bella war, die ihr einen Besuch abstattete.

Sie saß auf einem Polstersitz, die Füße auf den Schreibtisch gelegt, als Bella eintraf. Hannah nahm ihre schwere Hornbrille ab, die mit Absicht so gestaltet war – Retro-Mode nach dem Vorbild des späten zwanzigsten Jahrhunderts. Opernmusik summte aus den Kopfhörern. Bella hatte bemerkt, dass Opern zur Zeit sehr angesagt waren. Alle Jugendlichen fuhren darauf ab.

»Alles in Ordnung«, sagte Bella. »Ich bin nicht gekommen, um dich zu kontrollieren. Ich wollte mich nur mal über den Stand der Dinge informieren.«

»Hier gibt es nichts Neues«, sagte Hannah und schwang ihre Beine vom Schreibtisch. »Wir können nur immer wieder die gleichen Tests durchführen. Hast du den letzten Bericht gelesen, den wir zusammengestellt haben?«

»Oh ja«, sagte Bella und verdrehte die Augen. »Wie gewohnt unglaublich spannend. Ihr alle habt einen Orden verdient, weil ihr schon so lange mit den Köpfen gegen dieses Ding anrennt.«

»Vielleicht würden wir etwas erreichen, wenn wir etwas anderes als unsere Köpfe benutzen könnten.«

Bella nickte ernst. »Ich bin überzeugt, dass wir das eine oder andere über den Würfel herauskriegen würden, wenn wir ihn mit einer Fusionsflamme zerschneiden. Aber anschließend wird nicht mehr allzu viel davon übrig sein.«

»Wir könnten eine Ecke abschneiden.«

»Vielleicht eines Tages. Bis dahin müsst ihr euch einfach in Geduld üben.« Bella trat näher an den rotierenden Würfel heran. Sie achtete darauf, nicht die rote Linie auf dem Boden zu überschreiten, die die Grenze für menschliche Beobachter markierte. Wenn sie näher heranging, würden ihre bioelektrischen Felder die Messungen stören.

»Gibt es etwas Bestimmtes …?«, begann Hannah.

»Eigentlich nicht«, sagte Bella. »Ich komme nur gerne ab und zu hierher und sehe ihn mir an. Es ist wie ein Rätsel, von dem ich hoffe, dass es sich eines Tages vor meinen Augen auflösen wird, genauso wie diese psychologischen Tests.«

»So geht es vielen Leuten«, sagte Hannah. »Sie kommen hierher, schauen sich das Ding an … dann kommen sie immer wieder, um es wie hypnotisiert anzustarren. Es ist, als würden sie irgendetwas im Schwarz sehen, so etwas wie die Andeutung einer Botschaft.«

»Siehst du es genauso?«

»Ich sehe nur einen schwarzen Würfel. Einen, den ich irgendwann unheimlich gerne aufschneiden möchte.«

»Es freut mich, dass dieser Job dir nicht den Verstand raubt.«

Bella hatte alle Berichte gründlich studiert, auch wenn sie dabei jedes Mal einzuschlafen drohte. Doch in diesen Zusammenfassungen stand nichts, was auf den wahren Zweck des Würfels hingedeutet hätte. Es war ein menschliches Artefakt, aber es schien nicht aus der Zeit vor der Zäsur zu stammen. Wenn es aus einer späteren Epoche kam, welche Geheimnisse mochte es enthalten? Und vor allem: Wie hatte es Janus erreicht?

Die Perückenköpfe hatten nie darüber gesprochen. Falls sie inzwischen von seiner Existenz wussten – durch die zahlreichen Kontakte mit Menschen –, schienen sie beschlossen zu haben, ihn nicht zu erwähnen.

Warum?

Ein neuer bösartiger Gedanke machte sich in Bellas Hinterkopf breit. Sprachen die Perückenköpfe nicht über den Würfel, weil sie keine Aufmerksamkeit auf seine Bedeutung lenken wollten?

Wieder dachte sie an ihr Gespräch mit Svetlana und an die ansteckenden Zweifel, die sie in Bellas Bewusstsein gesät hatte. Bella hatte die Perückenköpfe zum ersten Mal besucht, kurz nachdem man ihr den Würfel gezeigt hatte. Das Wissen darüber musste zu diesem Zeitpunkt noch wie ein funkelnder Edelstein in ihrem Kurzzeitgedächtnis gestrahlt haben.

Also wussten sie zweifellos davon.

Aber warum hatten sie ihn nie erwähnt?

Der Würfel setzte seine langsame, hypnotische Rotation fort und wechselte von einer Abstraktion der Schwärze zur nächsten. Die Da-Vinci-Seite kam in Sicht – der stilisierte Mensch mit ausgestreckten Armen und Beinen, als sollte er seziert werden. Die Analysemaschinen maßen und registrierten. Bella blieb hinter der roten Linie, aber gleichzeitig stellte sie sich vor, wie sie den Würfel berührte. Sie hatte ihn schon einmal berührt, als sie haptische Handschuhe getragen hatte. Sie hatte über die harten glatten Oberflächen gestrichen, die sich wie etwas angefühlt hatten, das aus dem Urgestein der Wirklichkeit geschaffen worden war. Sie hatte gespürt, wie sein unvorstellbares Alter durch die Datenkanäle gesickert war. Aber sie hatte nie den Mut aufgebracht, die Handschuhe auszuziehen und den direkten Hautkontakt zu suchen.

Plötzlich kam es ihr lebenswichtig, erdrückend notwendig vor, genau das zu tun. Der Drang überkam sie mit der Macht eines Anfalls. Der Würfel forderte sie auf, die Hand auszustrecken und ihn zu berühren.

Er verlangte nach menschlichem Kontakt.

Bella trat vor Anstrengung keuchend von der roten Linie zurück, bevor sie Schaden anrichten konnte. Ihr Herz raste. Das Verlangen war beinahe sexuell gewesen, wie die letzten Momente vor dem Höhepunkt.

»Bella?«, fragte Hannah. »Ist mit dir alles in Ordnung?«

Bella schnappte nach Luft und trat einen weiteren vorsichtigen Schritt vom Würfel zurück. Sie konnte den Drang immer noch spüren. Er war schwächer geworden, aber weiterhin vorhanden. Er übte immer noch einen gewissen Zwang auf sie aus. Erneut kam die Da-Vinci-Zeichnung in Sicht. Das Gesicht des Mannes war stark vereinfacht, aber der neutrale Ausdruck schien ein gewaltiges, einschneidendes Wissen zurückzuhalten – eine Last, die kaum erträglich schien.

»Was willst du von mir?«, flüsterte Bella.

Es war zweifellos nur Einbildung, aber in diesem Moment spürte sie eine stumme Antwort, die ihr Hirn wie warmes Wasser überflutete. Es war kein Wort, nicht einmal die Erinnerung an ein Wort, sondern nur eine einzige, überwältigende Wahrheit.

Dich.