Dreißig
Als Parry drei Tage später im Habitat aufkreuzte, hatte sie schon fast den Grund für seinen Besuch vergessen. Ihr Geist hing einen Moment lang in der Schwebe, bevor sie sich an den Bagley-Fall erinnerte.
»Vielleicht hast du Recht«, sagte sie trübselig. »Vielleicht wäre es besser, wenn wir die Hunde schlafen lassen.«
Parry wirkte enttäuscht. »Das klingt nicht nach der Bella, mit der ich vor drei Tagen gesprochen habe.«
So war es. Es hatte etwas damit zu tun, wie gründlich der Würfel ihre geordnete Sicht der Dinge durcheinandergebracht hatte. »Es tut mir leid«, sagte sie und bot Parry einen Stuhl im grün schillernden Widerschein ihrer Aquarien an. »Von mir sollte man eigentlich erwarten, dass ich nicht so rede.«
Parry nahm die rote Mütze ab und kratzte sich im drahtigen Gewirr aus dünnem grauem Haar. Er sah sie mit einem leicht zusammengekniffenen Auge an. »Ist alles in Ordnung mit dir, Bella?«
»Mir geht es gut«, versicherte sie, doch es war eine Spur überbetont. »Ich habe nur ein paar seltsame Tage hinter mir. Ein paar seltsame Wochen, wenn ich genauer darüber nachdenke. Erst kehrt Mike zurück … dann die Ereignisse auf der Party …«
»Ich bin froh, dass du mit Svieta gesprochen hast. Hast du Mike dazu angestiftet?«
»Auf gar keinen Fall!«, sagte Bella. Sie war entsetzt, dass Parry auch nur diese Möglichkeit in Betracht zog. »Als ich ins Arboretum ging, war ich fest entschlossen, nicht einmal Blickkontakt mit Svetlana aufzunehmen. Und ich habe mich wacker geschlagen.«
»Ich glaube, ihr ging es genauso.«
»Ich hätte Mike umbringen können«, sagte Bella. »Was einiges heißen soll, wenn man bedenkt, wie lange wir alle auf seine Rückkehr gewartet haben.«
»Falls es dich tröstet, Svieta war auch nicht gerade begeistert. Er hat zu ihr gesagt, er hätte ein Gespräch mit McKinley arrangiert. Er vergaß lediglich zu erwähnen, dass du neben ihm gesessen hast.«
»Wie geht es ihr jetzt?«
»Sie fühlt sich zutiefst erleichtert. Ich werde ganz offen sein: Ich glaube, ihr beide hattet gute Gründe, warum ihr euch nie mehr über den Weg laufen wolltet.«
»Dem kann ich nicht widersprechen.«
»Aber genauso glaube ich, dass keine von euch beiden sich gewünscht hat, dass es bis in alle Ewigkeit so bleibt. Du weißt schon, selbst in den finstersten Zeiten, als Svetlana es nicht einmal ertrug, wenn dein Name in ihrer Gegenwart fiel …« Parry brach ab und sah sie an, als wollte er ihre Erlaubnis einholen, weitersprechen zu dürfen.
»Nur zu«, sagte sie vorsichtig.
»Trotzdem hat sie es nicht geduldet, wenn irgendjemand dich kritisiert hat. Ich meine, für sie war es kein Problem – sie durfte dir alles Mögliche vorwerfen. Aber wehe, jemand anderer nahm sich die Frechheit heraus, es zu tun. Sie war die Einzige, die das gottgegebene Recht besaß, Bella Lind kritisieren zu dürfen. Kein anderer hatte es sich verdient.«
Bella lächelte matt. »Das kann ich mir vorstellen. Vielleicht habe ich zeitweise genauso empfunden.«
»Ich weiß nicht, ob es für dich ein Trost ist, aber ich weiß, wie viel es Svieta bedeutet, dass ihr wieder miteinander reden könnt. Natürlich hätte sie das Schweigen schon vor Jahren brechen können …«
»Genauso wie ich«, warf Bella ein.
»Aber du hast es nicht getan und Svieta auch nicht. Vielleicht wolltet ihr beide, dass die andere den ersten Schritt tut, oder ihr beide hattet Angst davor, was geschehen würde, wenn ihr miteinander redet … dass der Himmel einstürzt oder etwas in der Art. Auf jeden Fall kann ich dir sagen, dass es nicht passiert ist. Ich glaube sogar, dass die Welt seit letzter Woche ein bisschen besser geworden ist.«
»Das glaube ich auch«, sagte Bella, doch sie hatte etwas aus Parrys Tonfall herausgehört, das sie beunruhigte. »Was gibt es?«, fragte sie unbehaglich.
»Wegen Meredith Bagley«, sagte er. »Die Ermittlungen im Mordfall.«
»Ich weiß. Aus diesem Grund hatte ich dich gebeten, mich aufzusuchen.«
Sie saßen da und starrten sich an. Mehrere Male schien Parry zum Sprechen ansetzen zu wollen, doch dann zog er sich immer wieder zurück. Bella schwieg und zwang sich, ihn nicht weiter zu drängen. Parry senkte den Blick und schloss die Augen, als müsste er Kraft schöpfen. Schließlich sah er sie wieder an und sagte sehr leise: »Du hast die richtigen Namen.«
»Ich weiß. Ich habe es die ganze Zeit gewusst. Es ging nur darum, ob ich genügend Beweise finden kann.«
»Dabei kann ich dir helfen.«
»Nur wenn du beweisen kannst, dass die Logbücher manipuliert wurden.«
»Ich kann dir viel mehr bieten. Ich habe die Beweise vertuscht. Ich habe die Dateien verändert, um diese drei Männer zu schützen.«
Sie hörte seine Worte, aber sie wollte nicht glauben, was sie hörte. »Nein«, sagte sie. »Ich habe dich zu mir gerufen, weil du vielleicht weißt, wie jemand anderer damit durchkommen konnte. Nicht weil du es getan hast.«
»Du hast einen Glückstreffer gelandet, Bella, das ist alles.«
»Nein«, wiederholte sie. »Du kannst es nicht getan haben. So etwas würdest du niemals tun.«
»Aber ich habe es getan.«
Langsam dämmerte ihr die Möglichkeit, dass er vielleicht doch die Wahrheit sagte. »Sie haben Meredith auf grausamste Weise ermordet. Daran hättest du dich niemals beteiligt.«
»Das habe ich auch nicht.« Wieder hielt Parry inne, um seine Gedanken zu sammeln. »Ich habe die ganze Zeit gewusst, dass es viel böses Blut gegen Meredith gab, seit du sie aufgefordert hast, ihr zu helfen, gegen Svetlana tätig zu werden …«
»War Thom Crabtree für sie noch nicht genug?«
»Crabtree wurde in blindem Zorn ermordet. Diese Sache jedoch war von Anfang an vorsätzlich geplant. Es geschah fünf Jahre nach unserer Ankunft auf Janus. Sie wollten damit demonstrieren, dass sie ein gutes Gedächtnis haben.«
»Hast du es kommen sehen?«
»Ich dachte mir, dass ihr Leben in Gefahr sein könnte, und habe versucht, sie zu warnen. Ich habe ihr angeraten, sich in einer anderen Abteilung einen Job zu suchen, weit weg von Svetlanas Anhängern. Aber sie hat nicht auf mich gehört. Sie hielt mich für den Einzigen, von dem ihr Gefahr drohte. Aber ich hatte keine Idee, wann sie zuschlagen würden oder wer es tun würde.«
Bella gönnte sich einen kurzen Moment der Erleichterung. »Also hattest du nichts mit dem eigentlichen Mord zu tun.«
»Ein Mord ist ein Mord. Ich wollte nur, dass es endlich aufhört.«
Sie starrte ihn mit verständnislosem Entsetzen an. »Aber wenn du den Mord an Bagley nicht befürwortet hast, wie konntest du dann die Logbücher fälschen? Diese Männer hätten schon vor dreiundvierzig Jahren zur Rechenschaft gezogen werden können.«
»Ich wollte nicht, dass sie zur Rechenschaft gezogen werden.«
»Das verstehe ich nicht.«
»Du weißt, wie es in jenen Tagen war. Wir brauchten jedes Paar Hände. Wir haben es kaum über die Runden geschafft.«
Er hatte Recht. Es war sehr lange her, aber sie konnte sich noch gut erinnern, wie es während der harten ersten Jahre gewesen war.
»Aber die Gerechtigkeit«, sagte sie flehend. »Man hätte nicht zulassen dürfen, dass sie damit durchkommen.«
»Seitdem mussten sie jeden Tag mit der Sorge leben, dass man ihnen auf die Spur kommen würde. Ich habe ihnen gesagt, ich hätte die Daten unkenntlich gemacht, sodass sich nicht mehr nachweisen lässt, wer zum Außeneinsatzteam gehört hat, aber ich habe nie einen Zweifel daran gelassen, dass sich diese Daten wieder rekonstruieren lassen, sollte ich es für notwendig halten.«
Bella schossen die Konsequenzen durch den Kopf. »Sind sie nicht auf die Idee gekommen, dich zu beseitigen?«
»Das hätte ihnen nichts genützt. Sie wussten, dass ich Svetlana oder jemand anderen, dem ich vertraue, eingeweiht hatte.«
»Also konnten sie keine Nacht ruhig schlafen«, sagte Bella. »Aber ging es nicht uns allen so?«
»Für diese Männer hat es viel länger gedauert. Es ist immer noch nicht zu Ende.« Er kratzte sich am Schnurrbart. »Seit fünfzehn Jahren ist allgemein bekannt, dass der Bagley-Fall wieder aufgerollt wird. Ich bezweifle, dass es für die beiden Überlebenden auch nur einen einzigen Tag gegeben hat, an dem sie nicht daran dachten, dass jemand an ihre Tür klopfen könnte.«
»Warum jetzt, Parry?«
Er lächelte matt. »Du hättest irgendwann dein Ziel erreicht, auch wenn dir das Ergebnis vielleicht nicht gefallen hätte. Dann hättest du mich verhaften müssen.« Parry breitete kapitulierend die Arme aus. »Wohingegen ich jetzt freiwillig zu dir komme.«
»Du hast eine Logbuchdatei gelöscht, Parry. Du hast Meredith Bagley nicht getötet.«
»Ich habe ein Verbrechen verschleiert.«
»Du hast es zum Wohl von Crabtree getan – damit wir nicht drei weitere Tote zu beklagen haben.«
»So werde ich es dem Gericht erklären. Ob sie es nun glauben oder nicht …« Er zuckte die Achseln. »Aber das spielt jetzt keine Rolle mehr. Darüber soll das Gericht befinden.«
»Das kann ich nicht tun«, sagte Bella.
»Willst du Gerechtigkeit oder nicht?«
»Natürlich will ich Gerechtigkeit, aber nicht … auf diese Weise. Du warst immer gut zu mir, Parry, zu uns allen. So darf es nicht enden.«
»Aber so muss es enden. Ich bin zu dir gekommen, nicht andersherum. Es ist nicht deine Entscheidung, sondern meine.«
Bella wurde übel. »Was ist mit Svetlana?«, fragte sie. »Was sagt sie dazu?«
»Sie weiß nichts davon.«
»Oh nein!« Bella schloss die Augen und wünschte sich, jemand würde hereinkommen, ihr die Verantwortung abnehmen, ihr sagen, dass sie nichts zu befürchten hatte und alles wieder gut wurde. »Das kann ich nicht tun«, sagte sie so leise, dass sie glaubte, Parry habe es nicht gehört. Aber er hatte ihre Worte verstanden.
»Sei tapfer«, sagte er. »Tu das Richtige.«
»Du willst mir sagen, dass ich tapfer sein soll?«, fragte sie ungläubig.
Ein Teil von Bella hatte sich bereits mit dem Unvermeidlichen abgefunden. Sie gestattete Parry, für achtundvierzig Stunden zu Svetlana zurückzukehren. Als er das Habitat verließ, gab sie ihm das Versprechen, dass sie ihn vor Gericht bringen würde. Aber zwei Tage waren genug Zeit, um Zweifel zu wecken. Seitdem der Fall neu aufgerollt worden war, hatte er schon mehrfach über längere Perioden geruht. Also würde niemand Verdacht schöpfen, wenn Bella den anderen sagte, dass sie wieder nichts erreicht hatte und mehr Zeit benötigte, um andere Spuren zu verfolgen – was mühelos Monate oder Jahre beanspruchen konnte.
Jedes Mal, wenn die Zweifel kamen, kämpfte sie sie nieder und zwang sich zur Entschlossenheit, weil sie wusste, dass sie die Sache zu Ende bringen musste. Und für eine Weile herrschte Ruhe. Bis die Zweifel erneut hochkamen.
Einen Tag später bekam sie einen Anruf von Svetlana. Sie hörte sofort an ihrem Tonfall, dass Parry mit ihr gesprochen hatte.
»Ich muss mit dir reden«, sagte Svetlana.
Bella hätte sich weigern sollen, den Anruf entgegenzunehmen oder sich mit Svetlana zu treffen. Doch als sie es tun wollte, fand sie nicht die Kraft dazu.
»Wo?«, fragte sie.
»Schlag du etwas vor, Bella.«
»Ich muss in vier Stunden in Underhole sein und nach oben fahren. Wir können uns am Bahnhof im Sugimoto treffen.«
Bella war pünktlich da. Sie kam allein – mit Ausnahme ihres Phantoms. Es war ein diskret getarnter SI-Roboter, ein papierdünnes Wesen wie ein menschengroßes Origami-Gebilde. Das Phantom lief stumm neben ihr, halb transparent wie ein Geisterbild, das man aus dem Augenwinkel wahrnahm. Es konnte sich im Ruhezustand zur Unsichtbarkeit einer Schnittlinie zusammenfalten. Phantome waren in den letzten Tagen vor der Zäsur entwickelt worden und auch mit originalen Schmiedekesselprogrammen nur schwer herzustellen.
Das japanische Restaurant war mit Wangholztrennwänden, kunstvollen Fächern, Miniatursteingärten und Aquarellen eingerichtet. Judy Sugimoto hatte es in der Anfangszeit des Transitbahnhofs eröffnet, um einer entspannten Geschäftstätigkeit nachzugehen, bevor die Bevölkerungszahlen nach oben schossen. Was schon bald geschehen würde.
Wie üblich war es im Restaurant fast leer. Bella entdeckte Svetlana in einer Nische, wo sie gerade eine Mahlzeit aus dicklippigem Kugelfisch beendete.
Bella bestellte für sich nur ein Glas Sake. Sie hatte keinen Appetit.
»Ich weiß, worum es geht«, sagte sie, als sie in der Nische Platz nahm. Die gewölbten Fenster erlaubten eine schwindelerregende Aussicht auf den Transitbahnhof mit den geometrischen Kreuzungen aus Magnetbahnröhren und Aufzugsschächten zum Himmel.
Nach einer langen Pause sagte Svetlana: »Ich kann nicht gutheißen, was mit Meredith Bagley geschehen ist.«
»Es würde mich überraschen, wenn es nicht so wäre.«
Svetlana warf einen unbehaglichen Blick auf das Phantom, als es sich zusammenfaltete und die Farbe änderte, um sich der Nische anzupassen. »Es ist richtig, diese Männer für das zu bestrafen, was sie ihr angetan haben. Aber Parry hat nicht getan, was er getan hat, um diese Männer zu schützen. Er hat es getan, um uns alle zu schützen.«
Bella nippte am Sake. »Zumindest erkennst du an, dass Parry in den Fall verwickelt ist.«
»Er hat es mir gesagt. Hast du erwartet, das er lügt?«
Das Phantom versteifte sich, als es ihren aggressiven Tonfall registrierte.
»Ich wollte damit nur sagen, dass du es bestimmt nicht einfach so weggesteckt hast.«
»Das habe ich auch nie behauptet.«
»Svetlana, ich habe mich bereit erklärt, mit dir zu reden. Aber bitte nicht in diesem Ton.«
Svetlana stieß ein Essstäbchen in die Reste ihres fugu und schüttelte den Kopf. Bella hatte den Eindruck, dass sie genauso sehr von sich selbst wie von Bella enttäuscht war.
»Ich möchte, dass du es dir noch einmal überlegst«, sagte sie schließlich.
»Ob es Gerechtigkeit geben sollte?«
»Es gibt andere Formen von Gerechtigkeit. Du kennst jetzt die Namen – Parry hat sie dir bestätigt.«
»Ja«, sagte Bella vorsichtig.
»Genügt dir das noch nicht? Du hast bereits eine Beweiskette, die von Ash Murray zu diesen drei Männern führt.«
»Ash Murray ist tot.«
Svetlana tat ihren Einwand mit einem Stäbchenhieb ab. »Das ist unerheblich, Bella. Du kannst ihn mit einer Unterschrift auf dem richtigen Formular zurückholen.«
»Trotzdem wäre es nicht genug für eine Verurteilung.«
»Jetzt hast du einen weiteren Zeugen. Parry wird aussagen, dass er das Logbuch gesehen hat, dass er weiß, wer wirklich für diese Arbeitsschicht eingeteilt war.«
»Auch die Tatsache, dass er selbiges Logbuch gelöscht hat?«
»Das muss nicht zur Sprache kommen.«
»Das Gericht wird der Sache früher oder später auf den Grund gehen wollen«, sagte Bella. »Sie werden mehr von ihm wissen wollen – bei welcher Gelegenheit er die Namen gesehen hat, warum er früher nichts davon gesagt hat. Und selbst wenn das Gericht nicht zu den richtigen Schlüssen gelangt, wären da immer noch die anderen zwei Männer. Sie wissen, was Parry getan hat. Glaubst du wirklich, dass sie alles schweigend über sich ergehen lassen werden?«
»Sie haben immer noch Respekt vor Parry.«
»Wenn sie wirklich so viel Respekt vor ihm gehabt hätten, hätten sie Meredith nicht ermordet.«
»Sie werden ihn nicht verraten.«
»Svetlana, er hat sie bereits verraten, als er zu mir gekommen ist. Was mich betrifft, ist längst alles verloren.«
»Du wärst früher oder später sowieso auf Parry gestoßen.«
Der Sake nahm ihren Gedanken die Schärfe. »Ich möchte eins klarstellen: Ich hatte stets und habe weiterhin allergrößten Respekt vor Parry Boyce. In all den Jahren meines Exils …«
»Jetzt geht das schon wieder los!«, sagte Svetlana und verdrehte die Augen.
»Hör dir an, was ich zu sagen haben. Hier geht es nicht um dich, Svieta. Hier geht es nicht einmal um mich. Hier geht es nur um Parry und die Rettungsleine, mit der er mich vor dem Wahnsinn bewahrt hat. Andere waren freundlich zu mir – Axford, Nick … und natürlich Jim –, aber es war Parry, der zu mir rausgefahren ist. Es war Parry, der mir das Aquarium gebracht hat. Es war Parry, der mir geholfen hat, einen winzigen Rest meiner Selbstachtung zu wahren.«
»Er hat dir vertraut«, sagte Svetlana. »Er kam aus freien Stücken zu dir, damit du die Wahrheit erfährst, weil er davon überzeugt war, dass du klug genug bist, sie nicht gegen ihn zu verwenden.«
»Aus meiner Perspektive sah es sehr nach einem Geständnis aus, als hätte Parry sogar erwartet, dass ich ihn auf der Stelle verhaften lasse.«
»So hat er es nicht gemeint.«
»Ich kann nicht herumraten, was seine verborgenen Absichten gewesen sein könnten. Ich ermittle in einem Mordfall. Ich hatte gehofft, denjenigen zu finden, der diese Dateien gelöscht hat, um ihn zu bestrafen. Ich kann nicht einfach darauf verzichten, nur weil sich herausgestellt hat, dass er ein guter Freund ist oder weil er ehrenwerte Motive hatte.«
»Aber du könntest es, wenn du nur wolltest.«
»In den dreizehn Jahren an der Macht scheinst du sehr wenig gelernt zu haben«, sagte Bella und schloss eine Lade des kleinen Fensters der Freundschaft, das sich zwischen ihnen geöffnet hatte. Sie wandte sich dem Phantom zu. »Wir sind hier fertig.«
Der Roboter gab seine Tarnung auf und erhob sich.
»Bella, bitte!«, flehte Svetlana.
Bella schaute sich nicht mehr zu ihr um. Sie verließ das Restaurant und nahm den nächsten Aufzug zum Himmel.
»Welch nette Überraschung«, sagte McKinley und drückte seine Freude mit einem überschwänglichen Schütteln seiner Strähnen aus. Die anderen beiden Aliens – Kangchenjunga und Dhaulagiri – hielten sich wie gewohnt diskret im Hintergrund. »Ich hatte nicht damit gerechnet, dich so kurz nach Mikes Wiederbelebung schon wieder hier oben zu sehen.«
Jim Chisholm sah sie besorgt an. »Es ist doch alles in Ordnung, oder?«
»Mit Mike gibt es kein Problem«, sagte Bella. »Er lebt sich sehr gut ein, soweit ich das beurteilen kann.«
»Die Party war eine ausgezeichnete Idee.« Chisholm hielt die Arme unter den weiten Ärmeln seines Gewands verschränkt. Sein Haar war etwas länger und weißer, als Bella sich von ihrem letzten Besuch erinnerte, sein Bart etwas voller und an den Mundwinkeln mit Weiß durchsetzt. Trotzdem schien es, dass die Zeit in der Botschaft langsamer verstrich als in Crabtree. »Es tut mir leid, dass ich nicht dabei war, aber ich wollte nicht, dass die Leute glauben, ich würde ihm die Show stehlen wollen.«
»Kein Problem. Ich hätte dich gerne gesehen, denn es gibt eine Menge, worüber wir reden müssen. Aber ich sehe ein, dass du gute Gründe hattest.«
»Auf jeden Fall bin ich überzeugt, dass Mike zurechtkommen wird. Und wie ich hörte, war die Party auch in anderer Hinsicht ein voller Erfolg.«
»Falls du Svetlana und mich meinst …«
Er nickte wissend. »Es war eine sehr ermutigende Neuigkeit. Wollen wir hoffen, dass etwas Gutes dabei herauskommt.«
»Ja, das wollen wir«, sagte Bella schroff. Sie wusste, dass es schon wieder vorbei war. Es war nur noch eine Frage der Zeit, bis man auch in der Botschaft davon erfuhr. Eine kurze, trügerische Tauperiode zwischen zwei endlos langen Wintern.
»Möchtest du vielleicht über den Termin für eine weitere Verjüngung sprechen?«, fragte McKinley.
»Frag mich wieder in zehn Jahren.«
Der Alien verknüpfte halbherzig seine optischen Strähnen zu einem Gewebe, das wie ein schlecht geflochtener Korb wirkte. Es war eher eine Geste, mit der McKinley ihr sagen wollte, dass sie seine Aufmerksamkeit hatte. »Was ist los, Bella? Möchtest du gerne unter vier Augen mit Jim reden?«
»Das ist ein freundliches Angebot«, sagte sie, »und vor einer Stunde hätte ich es vielleicht sogar angenommen. Aber es gibt keinen Grund, warum ihr es nicht mithören solltet. Letztlich würdet ihr sowieso davon erfahren.«
»Also geht es um uns?«
»Ja«, sagte sie und spürte einen leichten Schwindel, das Gefühl, dass sie den Boden unter den Füßen verlor, weit entfernt von zu Hause und außerhalb gewohnter Bahnen. »Verzeih mir, McKinley. Das Ganze könnte ungehörig erscheinen, aber es gibt ein paar Fragen, die ich schon seit einiger Zeit stellen wollte.«
Chisholm räusperte sich. »Bella, wir sollten nicht vergessen, dass die Perückenköpfe uns gegenüber nie den Eindruck erweckt haben, dass wir für alle Antworten bereit wären. Es gibt gewisse Wahrheiten, die für sich genommen genauso gefährlich wie hoch entwickelte Technik sind.«
»Das weiß ich, Jim. Diese Geschichte höre ich seit vielen Jahren. Vielleicht glaube ich sogar daran. Aber gelegentlich gibt es Dinge, die man einfach wissen muss.«
»Es wäre ein Fehler, davon auszugehen, dass wir alle Antworten besitzen«, sagte McKinley zu ihr.
»Aber ihr müsst einige haben. Reden wir über die Zäsur.«
McKinleys Strähnen forderten sie zum Weiterreden auf. »Bitte. Es gibt kein Tabu.«
»Ihr habt es nie klar ausgesprochen, aber bei all unseren Gesprächen habt ihr immer wieder auf die Tatsache angespielt, dass ihr Kontakt mit einem menschlichen Schiff hattet, das von Triton startete, ungefähr zum Zeitpunkt der Zäsur.«
»Das ist die Schlussfolgerung, die sich aus den Daten ergibt.«
»Ich rede nicht über die Daten«, sagte Bella, die sich anstrengte, nicht die Geduld und die Nerven zu verlieren. »Ich rede davon, was ihr wisst. Die Perückenköpfe sind eine raumfahrende Zivilisation. Ihr seit schon viel länger als wir zwischen den Sternen unterwegs, selbst gemessen an der Thai-Expansion.«
»Wir betreiben fortgeschrittene Raumfahrt«, sagte McKinley, als müssten damit all ihre Zweifel zerstreut sein.
»Dann beantworte mir folgende Frage: Wie weit war euer Imperium ausgedehnt, euer Territorium oder wie auch immer ihr es nennen wollt, als ihr dem Thai-Raumschiff begegnet seid? Hat jemand aus eurer Spezies jemals andere Vertreter dieser Expansionswelle getroffen? Was ist mit den Schiffen, die nach der Zäsur gestartet sind? Was ist mit ihnen geschehen?«
Seine Strähnen strichen in offensichtlicher Beunruhigung gegeneinander, wie die Arme einer Anemone, die durch eine plötzliche Strömung in Bewegung gerieten. »Das sind problematische Fragen.«
»Das ist der Grund, warum ich sie stelle.«
»Unser Territorium ist sehr groß. Es umfasst ein Raumvolumen, in dem sich viele Sonnensysteme befinden.«
»Drück es für mich in Zahlen aus, McKinley. Geht es hier um Hunderte, Tausende, Millionen oder was?«
Die drei Aliens wanden sich. Blitze in Rubinrot und Smaragdgrün aus den tieferen Strähnenschichten signalisierten eine hektische visuelle Kommunikation. »Ich habe mich stets bemüht, aufrichtig zu dir zu sein, Bella«, sagte McKinley schließlich.
»Und warum kannst du es mir nicht einfach sagen?«
»Unser Reich umfasst mehrere hunderttausend Systeme. Warum ist diese Frage plötzlich von so dringendem Interesse, Bella?«
»Weil es mir merkwürdig vorkommt«, sagte sie, »dass ihr bisher nur auf ein einziges Schiff aus der Thai-Expansion gestoßen seid.«
»Würde es eine bedeutende Rolle spielen, wenn wir mehr als nur einem begegnet wären?«
»Möglicherweise«, sagte sie mit einem unverbindlichen Achselzucken. »Dann erzähl mir mehr über die Moschushunde. Haben auch sie ein Sternenreich?« Bella wartete gar nicht auf McKinleys Antwort, da sie jetzt davon überzeugt war, ohnehin keine wahrheitsgemäßen Erläuterungen zu erhalten. »Und die anderen Spezies, von denen ihr gesagt habt, dass sie sicher in anderen Teilen der Struktur verwahrt sind – was ist mit ihnen? Was für Imperien haben sie errichtet? Hunderttausende Sonnensysteme, genauso wie ihr? Wo sind all diese weltraumfahrenden Zivilisationen, McKinley? Warum sehen wir nichts von diesem Gedränge an Imperien, wenn wir von der Erde aus in den Himmel blicken? Warum sieht es da draußen überall so verdammt leer aus?«
»Ihr habt die Spica-Struktur gesehen«, warf der Perückenkopf ein.
»Ja. Ein einziges außerirdisches Artefakt in einem einzigen Sternensystem, in einer ganz bestimmten Richtung, zweihundertsechzig Lichtjahre entfernt. Zufällig wurde sie von Wesen erbaut, die wir immer noch nicht zu Gesicht bekommen haben. Wo sind sie, McKinley? Wo sind die Spicaner?«
Jim Chisholm klatschte in die Hände. »Okay, vielleicht sollten wir die Diskussion hier abschließen.«
»Ich bin noch nicht fertig«, sagte Bella.
»Doch, das bist du«, erwiderte Chisholm mit plötzlicher Entschiedenheit, die untypisch für ihn war. »Du hast gesagt, was du sagen wolltest. Du hast nachvollziehbare Bedenken vorgebracht. McKinley wiederum hat klargestellt, dass er nicht ohne weiteres alles offenbaren kann, was du gerne wüsstest. Das musst du respektieren, genauso wie er deinen Standpunkt respektiert. Antwortet ein Erwachsener auf jede Frage, die er von einem Kind gestellt bekommt? Natürlich nicht. Damit könnte großer Schaden angerichtet werden.«
»Vielleicht hätte ich mit dir anfangen sollen«, sagte sie verbittert, »da du die Dinge offenkundig aus einer erhöhten Perspektive betrachtest.«
»Von mir hättest du nicht mehr erfahren als von McKinley.«
»Der Unterschied ist nur, dass ich einem Menschen ansehen kann, ob er lügt. Selbst dir, Jim.«
Er blickte sie mit einem beinahe mitleidsvollen Ausdruck an. »Wenn ich dich anlügen würde, Bella, glaubst du wirklich, dass ich es nicht ausschließlich zu deinem Besten tun würde?«
»Ich habe das Recht, die Wahrheit zu erfahren.«
»Genauso wie die Bürger von Crabtree und Groß-Janus«, konterte er. »Hast du Gabriela Ramos erzählt, was mit Buenos Aires passiert ist? Hast du Mike Pasqualucci erzählt, dass sich sein Sohn in ein Monster verwandelt hat?«
»Das ist nicht dasselbe«, sagte Bella verletzt. »Du kannst nicht behaupten, dass es vergleichbar wäre!«
»Es ist ein und dasselbe«, sagte Jim Chisholm. Er wandte sich halb von ihr ab, wie ein Lehrer, der sich von einem vielversprechenden Schüler enttäuscht fühlt. »Ruf mich an, wenn du dich etwas beruhigt hast, Bella. Dann kommen wir vielleicht weiter.«