Siebenundzwanzig
Früher oder später, dachte Bella, würde sie in ein größeres Büro umziehen müssen. Entweder das oder sie musste ihre Pläne für die Fische zurückschrauben. Das alte Glasbecken war immer noch da – sie hatte es nach Crabtree zurückgebracht, als sie wieder die Macht übernommen hatte –, doch nun bildete es nur noch einen Teil einer viel größeren Reihe von miteinander verbundenen ökologischen Nischen. Die riesigen Aquarien beanspruchten drei Wände und den größten Teil der Decke ihres Büros und warfen ein ständig zitterndes Licht auf ihren mit Papieren übersäten Schreibtisch. Irgendwo hinter einem Becken gab es ein Fenster, aber seit zwanzig Jahren hatte niemand mehr hindurchgeschaut. Selbst bei Nacht, wenn sie die Aquarien verdunkelte, bevorzugte Bella die Schattenwelt der Fische gegenüber jedem Ausblick auf Janus.
Durch genetische Manipulationen war das Ausgangsmaterial zu hundert brillanten Formen und Farben erweitert worden. Wenn sie genug vom Papierkram hatte, konnte sich Bella im chromgelben Blitzen eines Fuchsgesichts verlieren oder im azurblauen Schimmern eines Mirakelbarschs oder eines Riffbarschs. Die genetischen Schablonen der Perückenköpfe umfassten nur wenige Fischarten, aber sie verstanden es, überzeugende Nachbildungen zu modellieren, die akkurate Kopien von sich selbst herstellen konnten.
Es war spät, die Aquarien waren gedimmt, und sie blätterte geistesabwesend durch die Geschichte aus der Zeit vor der Zäsur. Sie machte handschriftliche Notizen auf cremefarbenem Papier aus den Schmiedekesseln und strich die historischen Passagen an, die ohne Bedenken öffentlich gemacht werden konnten, während sie andere speziell markierte, die noch zurückgehalten oder verändert werden mussten.
Die Geschichtszensur bereitete ihr keine Freude, aber sie war nun einmal notwendig. Irgendwann würde die Wahrheit herauskommen, davon war sie überzeugt, aber sie musste in kontrollierten Dosen verabreicht werden, wie ein starkes Medikament. Sie besaß Dateien über jedes überlebende Mitglied der ursprünglichen Besatzung der Rockhopper: Namen, Nationalität, Geburtsort, Andeutungen biografischer Details. Zum Beispiel Gabriela Ramos. Sie war noch am Leben und zufällig seit kurzem Großmutter. Sie war zufrieden und ausgeglichen, ein verlässliches Mitglied der Gemeinschaft. Obwohl sie während der Meuterei eine Anhängerin von Svetlana gewesen war, hatte es für Bella nie einen Grund gegeben, ihr Antipathie entgegenzubringen. Doch Gabriela Ramos stammte aus dem alten Buenos Aires, und dort hatte sie eine sehr große Familie zurückgelassen, als das Schiff zu Janus aufgebrochen war.
Ramos hatte sich eingefügt, wie es alle hatten tun müssen, und sie hatte sich mit der Tatsache abgefunden, dass sie ihre Familie nie wiedersehen würde. Das war eine schmerzhafte und grausame Erfahrung gewesen, aber irgendwie hatten die meisten Besatzungsmitglieder darüber hinwegkommen müssen. Ein Teil des Heilungsprozesses bestand darin, zu akzeptieren, dass das Leben zu Hause unweigerlich weitergehen würde und dass Freunde und geliebte Menschen ebenfalls einen Weg finden mussten, um ihr Leben fortzusetzen. Wenn man einen geistigen Zustand erreichte, in dem man glaubte, dass die Menschen zu Hause glücklich waren oder zumindest nicht in ständiger Trauer verharrten, war es möglich, sich auch auf Janus etwas glücklicher zu fühlen. Das bedeutete nicht, dass man alle anderen Menschen vergaß oder dass der Trennungsschmerz verschwand. Es ging nur darum, zwischen den auseinander gerissenen Parteien zur einer Art unausgesprochenen Übereinkunft zu gelangen, dass das Leben weitergehen musste.
Aber im alten Buenos Aires war das Leben nicht weitergegangen.
Im Jahr 2063, nur sechs Jahre nach dem Aufbruch der Rockhopper, hatten sich Hacker Zugang zu einem Satellitenkraftwerk verschafft und den Übertragungsstrahl auf Buenos Aires gerichtet. Zwei Komma acht Millionen Menschen waren im Feuersturm getötet worden, der die Stadt vernichtet hatte, hauptsächlich die Holzhütten in den Slums von La Boca. Die Familie von Gabriela Ramos war mit an Sicherheit grenzender Wahrscheinlichkeit unter den Toten.
Bella wollte nicht mit ansehen, wie Ramos von dieser Nachricht erschüttert wurde. Das Wissen würde sie zerstören und den Menschen in ihrer Umgebung Grausames antun. Die Wellen der Trauer würden schließlich jeden auf Janus berühren. Darauf konnten die Menschen verzichten – und Gabriela Ramos erst recht.
Also blieb Bella bis spätabends wach und ging die neusten Datenlieferungen durch, die von den Perückenköpfen freigegeben worden waren. Sie überzeugte sich davon, dass die automatischen Editiersysteme nichts übersehen hatten. Gelegentlich rutschte doch etwas durch, eine indirekte Erwähnung des Ereignisses, ohne dass von Buenos Aires selbst die Rede war. Doch schon so etwas konnte genügen, die Neugierigen auf eine gefährliche Suche nach weiteren Daten zu schicken. Bella zensierte alles, was auch nur entfernt mit der grausamen Tat in Verbindung stand.
Aber auch das reichte noch nicht.
Nachdem sie ihre Arbeit getan hatte, prangte ein großes Loch an der Stelle der Welt, wo sich früher Buenos Aires befunden hatte. Natürlich interessierte sich Ramos für die künftige Geschichte der Stadt, in der sie geboren worden war. Also musste Bella gerade genug Geschichte dazuerfinden, damit es überzeugend wirkte. Sie durchsetzte die echten Nachrichten mit kleinen Notlügen, damit Ramos nicht auf die Wahrheit gestoßen wurde. Natürlich nichts über ihre Familie, aber genügend Informationen, damit sie sich der tröstenden Phantasie hingeben konnte, dass sie alle wieder ein normales, glückliches Leben führten und niemals in einer Feuersbrunst gestorben waren.
Doch es hörte nicht mit Gabriela Ramos auf.
Ihr Fall war der extremste und erforderte die brutalsten Eingriffe in die Geschichte, aber es gab noch andere Menschen, die vor der Wahrheit über Freunde und Verwandte geschützt werden mussten. Als Mike Pasqualucci – einer von Parrys Bergleuten – zur Rockhopper rotiert war, hatte er auf der Erde einen Sohn zurückgelassen. Es hatte ihn am Boden zerstört, diesen Jungen zu verlieren, aber irgendwie hatte er es geschafft, sich wieder zu fangen, indem er sich in die geisttötende Routine seiner Pflichten stürzte. Er hatte diese Phase inzwischen überwunden, hatte sogar eine neue Frau und einen weiteren Sohn, aber Bella wusste, dass er immer noch an den Jungen denken musste, den er zurückgelassen hatte.
Das Problem war, dass der Junge auf der Erde auf die schiefe Bahn geraten war, als Serienmörder und Vergewaltiger auf drei verschiedenen Kontinenten. Schließlich war er in Stockholm verhaftet und verurteilt worden, und zwar zur »beschleunigten neuralen Reprofilierung«, wie es in den Zweitausendsiebzigern in der Europäischen Union üblich war. Mike Pasqualucci musste nichts davon wissen, fand Bella. Er hatte es verdient, die kostbare Erinnerung an den kleinen Jungen zu behalten, unbefleckt durch das Monster, zu dem er herangewachsen war.
Also hatte sie auch diesen Geschichtsstrang zensiert, alle Hinweise auf die Verbrecherkarriere getilgt und ein Märchen erfunden, dem zufolge Pasqualuccis Sohn ein profitables schwimmendes Hummer-Restaurant in der Nähe von New Bedford eröffnet hatte. Sie hatte es nicht groß herausgestrichen, sondern in den Daten versteckt, falls Pasqualucci auf die Idee kam, nach Hinweisen zu suchen. Es handelte sich um eine erfundene Kritik auf der Gourmet-Seite des New Yorker. Und durch die Verfolgung der Zugriffe wusste Bella, dass er genau das bei mehreren Gelegenheiten getan hatte, als müsste er sich immer wieder vergewissern, dass es seinem Sohn wirklich gut ging.
Derartige Basteleien konnten anfangs täuschend einfach erscheinen, aber nachdem aus den spärlichen Nachrichten ein breiter Strom geworden war, gewann diese Aufgabe eine überwältigende Komplexität. Bella wusste, dass sie früher oder später einen Fehler machen würde, trotz der Unterstützung durch Schwellen-Intelligenzen. Eine Lüge würde eine andere Lüge offenbaren, ein Paradoxon, das ihre manipulierte Geschichte aufreißen würde wie ein Spalt in einem Eisberg. Sie konnte nur hoffen, dass es ihr gelang, diesen Moment der Enthüllung so weit wie möglich hinauszuschieben. Und wenn er kam – Jahre oder Jahrzehnte in der Zukunft –, wären die Betroffenen psychisch vielleicht hinreichend stabilisiert, um zu großen Schmerz zu empfinden. Sie würden Bella für ihr Tun hassen, aber sie hoffte, dass sie verstehen würden, warum sie es getan hatte – aus Liebe und Verantwortungsgefühl gegenüber ihren Kindern.
Ihr Flextop summte. Bella schob die Bearbeitungen zur Seite und nahm den Anruf von Liz Shen an.
»Ich wusste, dass du immer noch wach bist«, sagte die junge Frau in tadelndem Tonfall.
»Hast du nur angerufen, um dich davon zu überzeugen?«
»Eigentlich nicht. Ich dachte mir, dass du dich vielleicht für den neuesten Stand der Untersuchungen in Underhole interessierst.« Taktvoll fügte sie hinzu: »Der Würfel, das Objekt, das Svetlana vergraben hat.«
Bella an Dinge zu erinnern war eine Gewohnheit, die Shen nicht so schnell ablegen würde. Vor der Verjüngung hatte Bellas Gedächtnis immer langsamer und unzuverlässiger gearbeitet. Nun lief es wie ein frisch geöltes Getriebe.
Bella wurde sich bewusst, dass sie seit der Rückkehr von den Perückenköpfen seltsamerweise kaum noch an den Würfel gedacht hatte. Sie erinnerte sich, wie Avery Fox ihr das Objekt gezeigt hatte, und sie wusste noch, dass sie Liz Shen mit der Aufgabe betraut hatte, die Personen ausfindig zu machen, die möglicherweise in Underhole gewesen waren, als Svetlana die Stellung geräumt hatte. Doch seitdem war die Angelegenheit praktisch aus ihrem Bewusstsein verschwunden.
Jetzt sorgte sie sich wegen dieser Nachlässigkeit.
»Der Würfel, natürlich«, sagte sie hastig. »Was gibt es Neues?«
»Namen«, sagte Shen. »Es war nicht einfach. Die Sache liegt zwanzig Jahre zurück. Ich musste einige Leute daran erinnern, dass sie mir noch einen Gefallen schuldig waren, und anderen die Pistole auf die Brust setzen. Aber ich weiß jetzt, wer dem Team angehört hat.«
»Sag es mir«, forderte Bella sie auf.
»Denise Nadis, Josef Protsenko und Christine Ofria-Gomberg.«
»Standhafte Mitglieder der Barseghian-Partei«, sagte sie enttäuscht. »Es wird schwierig sein, diese Nüsse zu knacken.«
»Das kann kein Zufall sein«, pflichtete Shen ihr bei. »Svetlana wusste, dass sie es mit einer brisanten Sache zu tun hatte. Sie hätte es tunlichst vermieden, Thale oder Regis ins Vertrauen zu ziehen, solange es sich irgendwie vermeiden ließ.«
»Ich muss mit ihnen reden.« Plötzlich war sie sich ihrer selbst gar nicht mehr so sicher. »Sie alle leben noch, nicht wahr?«
»Ja, aber es wird schwierig, Nadis und Protsenko herbeizuschaffen, ohne Staub aufzuwirbeln. Beide leben in kleinen Neustädten, wo die Wände Ohren haben.«
»Glaubst du, Christine wäre weniger problematisch?«
»Sie hält sich zur Zeit in Crabtree auf. Von den dreien ist sie diejenige, mit der du am wahrscheinlichsten vernünftig reden kannst.«
Bella betrachtete geistesabwesend ihre Fische – dunkle Umrisse, die durch das Zwielicht der nächtlichen Aquarien strichen. »Sie versteht sich immer noch gut mit Nick Thale, nicht wahr?«
»So weit mir bekannt ist, ja.«
»Dann sprich mit Nick. Er soll versuchen, ob er etwas aus ihr herausbekommt, ohne dass die Sache offiziell wird.«
»Ich werde mein Bestes tun, aber rechne nicht damit, dass vor morgen etwas geschieht.«
»Das ist mir bewusst.«
»Noch etwas«, sagte Shen. »Du solltest wirklich mehr schlafen. Wenn du nicht aufpasst, schaufelst du dir ein frühes Grab – zum zweiten Mal.«
Tage vergingen. Bella beschäftigte sich mit Routineaufgaben der Verwaltung von Crabtree. Planungskomitees für Ebene Zwei, die Vorstellung der jüngsten Daten der Tiefensondierungen, Beschwerden von den abgelegenen Gemeinschaften, Verschiebungen im Energiehaushalt. Sie entspannte sich, indem sie durch das Arboretum spazierte und sich erinnerte, wie ihr schon die aeroponischen Labors an Bord des alten Schiffes Trost gespendet hatten. Die neuesten Schösslinge reckten sich unaufhaltsam dem Himmel entgegen.
Sie erfuhr, dass Nick Thale mit Christine Ofria-Gomberg gesprochen hatte. Anfangs hatte sie gezögert, über Dinge zu reden, die sich in den letzten Tages des Barseghian-Regimes zugetragen hatten, doch Bella wusste, dass sie mit einem geeigneten Ansatz leicht überzeugt werden konnte. Christine und ihr Ehemann Jake waren immer noch intensiv mit dem Studium der spicanischen Sprache beschäftigt. Die Ankunft der Aliens hatte daran nichts geändert, da die großen Rätsel im Wesentlichen unbeantwortet geblieben waren. Möglicherweise hatten die Perückenköpfe die Sprache längst entziffert, dann hatten sie es aber bislang vermieden, die Menschen in dieses Geheimnis einzuweihen.
Zwanzig Jahre lang hatten die Ofria-Gombergs ihre privaten Studien fortgesetzt und unterzogen ihre Daten immer komplexeren statistischen Prüfungen, um ihnen vielleicht doch noch eine Bedeutung entlocken zu können. Als ein besonders schwerer Brocken lexikalischer Daten einer umfangreichen Analyse unterzogen wurde, hatte die Belastung des dezentralen Systems sichtbare Effekte gezeigt. Die Kleidung von Menschen lud sich elektrisch auf, Systeme stürzten unter der Beanspruchung ab, und in normalerweise ruhiger Umgebung flackerten Muster, die den Augen wehtaten. Mindestens eine Person hatte während einer besonders langen Datenverarbeitungsphase einen epileptischen Anfall erlitten, und inzwischen waren mehrere Entschädigungsklagen in den mit Wangholz getäfelten Sälen des Gerichtshabitats anhängig.
Sie konnten es als Erpressung bezeichnen, wenn sie wollten, doch Bella sagte nur, dass die weitere Nutzung des Systems durch die Ofria-Gombergs möglicherweise von ihrer Kooperationsbereitschaft bei der Untersuchung des Artefakts abhängig war.
»Ich weiß nicht, was du von mir erwartest«, sagte Christine, während sie einem gewundenen Weg durch das Arboretum folgten. Es herrschte Dämmerlicht, nachdem die Flutlichter gedimmt worden waren, und Bellas Sicherheitsleute hatten dafür gesorgt, dass sie hier ganz allein waren.
»Wir haben den Würfel gefunden«, erklärte Bella. »Er war unter der Underhole-Siedlung vergraben. Angesichts der Bauarbeiten, die dort durchgeführt werden, war es nur eine Frage der Zeit.«
Christine hatte nie die Perückenköpfe besucht, doch sie wirkte jünger, als sie tatsächlich war. Ihr Haar war grau geworden, doch die bewegte sich mit der eleganten Haltung einer wesentlich jüngeren Frau. Eine gute Wirbelsäule, dachte Bella müßig.
Christines Miene wechselte von verspielter Belustigung zu überheblicher Verachtung. »Wo ist er jetzt?«
»Hier in Crabtree«, sagte Bella. »Ein Team arbeitet daran. Bislang haben die Leute nichts herausgefunden, was wir nicht schon vor einem Monat wussten, aber vielleicht ist es einfach noch zu früh.«
»Was haben sie versucht?«
»Ich erwarte Antworten von dir, Christine, keine Fragen.«
»Ich glaube nicht, dass ich mich an irgendetwas Nützliches erinnern werde.«
»Sag mir einfach, woran du dich erinnerst, und lass mich entscheiden, was nützlich ist.«
»Es war einfach nur ein Würfel.«
»Woher ist er gekommen? Wie ist er in Underhole gelandet?« Bella wartete eine Weile, während sie halb um einen kleinen Teich herumspazierten. Sie hatte sich vorgenommen, geduldig zu sein, aber sie würde sich nicht alles gefallen lassen. »Gib mir etwas, Christine, sonst muss ich ernsthaft überlegen, ob ich dich bei der nächsten Zuteilung von Computerzeit berücksichtigen kann.«
»Das ist dein Problem«, sagte sie. »Du hältst mich sowieso sehr knapp.«
Bellas Schuhe knirschten angenehm auf dem Kiesweg. Es war nett, in einem halben Ge zu gehen, ohne Schmerzen und die Belastung auf ihren Knochen und Gelenken zu spüren. »Also gut«, sagte sie langsam, als wäre ihr gerade ein Gedanke gekommen. »Ich halte dir eine dicke rote Karotte vor die Nase: Erzähl mir alles über den Würfel, und ich gebe dir einen Posten im Untersuchungsteam. Ich bin mir sicher, dass du wenigstens etwas beitragen könntest.«
Sie waren bis zum Ende einer Reihe eingezäunter und angebundener junger Bäume gegangen, als Christine wieder etwas sagte. »Es kam aus dem Weltraum. Nachdem sich das Loch im Himmel geöffnet hatte, schickten wir Sonden hinaus, um unsere Umgebung zu erkunden.«
»Flugroboter«, sagte Bella zufrieden, dass sie endlich vorankamen. »Das war, als wir zum ersten Mal die Röhre sehen konnten, in der wir uns befinden.«
»Da war noch etwas anderes«, fuhr Christine fort. »Wir erhielten ein Radarecho von etwas in unmittelbarer Nähe. Es verschwand und tauchte dann wieder auf. Es stellte sich heraus, dass es einen Orbit um Janus eingeschlagen hatte. Svieta schickte einen weiteren Flugroboter los, um es einzufangen, durch das Loch zu bugsieren und nach Underhole zu bringen.«
Bella dachte während der nächsten paar Schritte darüber nach. »Was glaubst du, wie lange es schon da oben war?«
»Woher soll ich das wissen?«
»Ich habe dich nur nach deiner Meinung gefragt.«
Christines Widerstand brach. Sie stieß einen leisen Seufzer aus, als hätte sie schließlich entschieden, ihre Trotzhaltung aufzugeben, was sie nun als große Erleichterung empfand. »Wir konnten nur Vermutungen anstellen. Wir wissen jetzt, dass die Perückenköpfe das Loch gebohrt haben, und dass sie es waren, von denen die Sonden kamen, die die Menschen überall gesehen haben.«
Bella nickte, als sie sich an die Flut der unerklärlichen Sichtungen erinnerte, die schließlich zur Entdeckung des Lochs geführt hatten. Trotz ihres Exils hatte sie sehr viel davon erfahren. »Du glaubst also, dass der Würfel von den Perückenköpfen zu uns geschickt wurde?«
»Das ist eine Möglichkeit«, sagte Christine.
»Aber nicht die einzige.«
»Wenn du den Würfel gesehen hast, müsste dir klar sein, dass er anders ist als alles, was wir bisher hier gesehen haben. Er ist nicht spicanisch. Er ist nicht von den Perückenköpfen.«
Bella dachte an die Moschushunde. Seit ihrer Rückkehr nach Crabtree hatte sie niemandem von McKinleys Warnung erzählt. »Könnte er von einer anderen Spezies abgesetzt worden sein?«
»Das wäre gut möglich. Wir wissen, dass sich das Tor am Ende der Röhre gelegentlich öffnet und wieder schließt. Das Jahr des Eisernen Himmels dauerte vierhundert Tage. Wir können davon ausgehen, dass die Bremsphase nach einem Tag abgeschlossen war, worauf wir die folgenden dreihundertneunundneunzig Tage in der Röhre verbrachten und darauf warteten, dass uns jemand rauslässt.«
»Willst du damit andeuten, dass die Perückenköpfe gar nicht die ersten Aliens waren, die uns erreicht haben?«
»Ich glaube, wir sollten diese Möglichkeit in Betracht ziehen.« Sie zögerte und blieb stehen. »Auf jeden Fall gibt es noch ein anderes Problem. Wenn du den Würfel gesehen hast, weißt du, was ich meine.«
Auch Bella blieb stehen. »Die Da-Vinci-Zeichnung.«
»Es ist eine menschliche Botschaft, Bella. Sie ist an uns adressiert.«
»Womit wir die Perückenköpfe als Absender ausschließen können«, sagte Bella. »Wenn sie uns von Anfang an als Menschen erkannt hätten, hätten sie sich die Mühe sparen und sofort eine Sprache benutzen können, die wir verstehen. Sie haben erst mit uns gesprochen, nachdem wir Craig und Jim zu ihnen geschickt haben. Erst danach fiel der Groschen, aber nicht vorher.«
»Vielleicht gibt es da draußen noch weitere Aliens.«
»Die Perückenköpfe haben nie ein Geheimnis daraus gemacht, dass es in der Struktur noch weitere Alienspezies gibt«, sagte Bella.
»Einige von ihnen könnten menschlich sein. Das ist eindeutig ein menschliches Symbol, Bella. Wie sonst ist es hierher gekommen, wenn es nicht von Menschen mitgebracht wurde?«
»Auch die Perückenköpfe besitzen Daten über Menschen«, warf Bella ein. »Das bedeutet, dass sie mit anderen Vertretern der Menschheit Kontakt hatten. Wenn es einmal passierte, gibt es keinen Grund, warum eine andere Alienkultur nicht mit anderen Vertretern unserer Spezies Kontakt hatte.«
»Trotzdem ist es eine ziemlich kryptische Visitenkarte.«
»Deshalb würde ich gerne mehr darüber wissen.« Bella ging ein Stück weiter und wog ihre Möglichkeiten ab. Über ihnen strich eine Eule unter den geisterhaften Stützpfeilern des Arboretums dahin.
»Ich habe dir alles gesagt, was ich weiß.«
»Was ist mit den anderen?«
»Ich glaube nicht, dass du wesentlich mehr aus ihnen herausbekommen wirst – einschließlich Svieta. Wir haben ihr Bericht erstattet, das ist alles. Sie hat keine eigenen Untersuchungen angestellt.«
»Ich glaube dir«, sagte Bella, »und ich möchte dir diesen Posten im Untersuchungsteam anbieten. Bist du interessiert? Die Zeit wird dir bei den Sprachstudien fehlen, aber ich bin mir sicher, dass dein Mann den Engpass ausgleichen kann.«
»Vor allem wenn du uns die Computerzeit gibst, die wir brauchen«, sagte Christine schnell, bevor Bella es sich möglicherweise anders überlegte.
»Natürlich. So war es abgemacht.«
Christine schwieg eine Weile. »Machst du dir keine Sorgen«, fragte sie schließlich, »dass ich zu Svetlana gehe und ihr berichte, dass ihr den Würfel gefunden habt?«
»Sie weiß bereits von seiner Existenz, und da ihr die Bauprojekte in Underhole bekannt sein dürften, kann sie sich denken, dass wir früher oder später darauf stoßen mussten.«
»Wahrscheinlich«. Christine klang plötzlich nicht mehr so selbstsicher.
»Also spielt es keine Rolle. Sag es ihr oder sag es ihr nicht. Mir ist es egal.« Bella sah die Frau an und wünschte sich, es gäbe eine Möglichkeit, sie zu überzeugen, dass sie es ehrlich meinte. »Es liegt an dir.«
»Du vertraust mir?«
»Ich bin nicht daran interessiert, Dinge vor Svieta geheim zu halten. Es ist zwanzig Jahre her, Christine. Es ist an der Zeit, nach vorn zu schauen. Ich hasse sie nicht für das, was sie getan hat. Ich vermute, sie hatte ihre guten Gründe. Um ehrlich zu sein, ich habe schon lange nicht mehr an sie gedacht.« Sie hielt kurz inne. »Ja, ich vertraue dir. Damit bleibt die Frage: Vertraust du mir?«
»Manchmal.«
Bella lächelte. »Das ist genau die richtige Einstellung. Vertraue deinen Vorgesetzten, aber gib Acht, dass du ihnen nicht zu sehr vertraust.«
Sie verließen schweigend den Wald. Nur noch das Knirschen der Kiesel unter ihren Schuhen war zu hören.