Zweiunddreißig
Chromis verschwand, doch Bella wusste, dass sie sie nicht zum letzten Mal gesehen hatte. Anschließend verspürte sie eine Rastlosigkeit, die sie seit der Berührung mit dem Würfel nicht mehr verspürt hatte, und teilte Axford alles mit, was ihr vom Gespräch in Erinnerung geblieben war. Axford unterbrach sie gelegentlich, um sich nach Einzelheiten zu erkundigen, die Bella ihm manchmal nennen konnte, manchmal aber auch nicht.
»Ich habe ihr geglaubt«, sagte Bella. »Absolut und ganz selbstverständlich. Es gab nichts in meinem Leben, wovon ich je fester überzeugt war.«
»Sie könnte dich manipuliert haben, um genau diese Wirkung zu erzielen.«
»Was würde das ändern? Sie ist fort, und ich glaube ihr auch jetzt noch. So fühlt sich die Wahrheit an, Ryan. Es erklärt sehr vieles. Zum Beispiel den Eisernen Himmel. Es muss sich um einen Schild handeln, der uns vor den Auswirkungen einer extrem relativistischen Geschwindigkeit geschützt hat. Janus hat ihn errichtet, als wir uns dem Booster näherten.«
»Das gefällt mir nicht. Es ist eine Sache, zu akzeptieren, dass man ein paar hundert Jahre tief in ein Kaninchenloch gefallen ist. Wie viele Leute werden sich mit der Tatsache abfinden können, dass in Wirklichkeit achtzehntausend Jahre vergangen sind?«
»Wesentlich mehr«, gab Bella zu bedenken. »Das ist nur der Zeitraum, der verstrichen ist, bis Chromis diese Botschaft aufgezeichnet hat. Wir wissen nicht, wie lange dieser Moment schon zurückliegt.«
»Du könntest dir überlegen, ob du diese bittere Pille nicht etwas versüßen möchtest.«
»Ich dachte immer, du wärst gegen so etwas.«
»Grundsätzlich ja.«
»Aber dies wäre eine jener Ausnahmen.«
»Vielleicht. Übrigens ist mir aufgefallen, dass Chromis mit jeder Antwort, die sie dir gab, mindestens genauso viele Fragen aufgeworfen hat. Wenn wir nicht mehr in der Spica-Struktur sind – wo sind wir dann? Wir haben festgestellt, dass wir uns im Innern von etwas befinden, das zur Größe einer Sparre passt, die wir beobachtet haben.«
»Darauf habe ich keine Antwort bekommen«, sagte Bella mit einem unangenehmen Gefühl der Unzulänglichkeit.
»Und noch etwas: Chromis hat dir erzählt, dass sich die menschliche Zivilisation über abertausend Welten und viele Tausend Lichtjahre ausgebreitet hat. Richtig?«
»Ja«, sagte Bella.
»Und sie hat angedeutet, das die Menschen große Teile der Galaxis erkundet haben. Richtig?«
»Ja.«
»Dann sag mir bitte, falls ich für einen Moment unaufmerksam war, wann sie die Perückenköpfe erwähnt hat?«
Die alltäglichen Verwaltungsangelegenheiten nahmen ihren rücksichtslosen Gang.
Parry kehrte nach Crabtree zurück und lieferte sich Bella und dem Justizausschuss aus. Er wurde in einen sicheren Raum in der Nähe des Gerichts gesperrt, von wo aus er einen wunderbaren Blick über Crabtree hatte. Das Zimmer war sauber und komfortabel, aber es hatte trotzdem den Geruch einer Zelle zur Verwahrung von Gefangenen oder psychiatrischen Problemfällen. Die weichen Oberflächen der Wände hatten das gründlich tote Aussehen, das Bella verriet, dass sie nicht mit unterschwelligen Datenmustern flimmerten. Es gab ein Bett und einen kleinen Tisch, auf dem ein Tablett mit einer halb verzehrten Mahlzeit stand. Parry saß auf dem Bett und schien völlig unbeeindruckt von dem zu sein, was möglicherweise mit ihm geschah.
»Hallo«, sagte er und stand auf, um sie zu begrüßen.
Sie gab ihm mit einer Geste zu verstehen, dass er sitzen bleiben sollte. »Geht es dir gut?«
»Man behandelt mich sehr zuvorkommend.«
Daran hatte Bella keine Zweifel. Parry hatte überall Freunde und so gut wie keine Feinde. »Ich habe Neuigkeiten für dich«, sagte sie. »Die erste Anhörung ist für morgen angesetzt. Deine Anwesenheit ist erforderlich, aber davon abgesehen musst du nicht viel tun oder sagen.«
»Hmm.« Er kratzte sich unter der Mütze. »Außer ein Schuldeingeständnis ablegen.«
»Ja«, sagte Bella. »Natürlich nur, wenn du es immer noch tun möchtest. Niemand kann dich daran hindern, jetzt auf unschuldig zu plädieren.«
»Nur dass ich nie behauptet habe, es nicht getan zu habe. Ich wäre mehr an den mildernden Umständen interessiert.«
»Wie ich bereits sagte, bin ich überzeugt, dass sie zum Tragen kommen dürften.«
»Aber es gibt keine Garantie.«
Bella erinnerte sich an etwas, das sie ihn schon seit längerem fragen wollte. »Parry, du bist ein intelligenter Mann. Du hast viele Bekannte, viele Freunde mit nützlichen Fähigkeiten. Als du wusstest, dass ich Ermittlungen wegen der manipulierten Logbücher angestellt habe, ist es dir niemals in den Sinn gekommen, deine Spuren zu verwischen? Ich traue dir ohne weiteres zu, die Vertuschung zu vertuschen, vor allem jetzt, nach so vielen Jahren. Ich bezweifle, dass es dir große Schwierigkeiten bereitet hätte.«
»Wahrscheinlich hast du Recht«, sagte er, »und vielleicht ist mir diese Idee tatsächlich gekommen – für etwa fünf Minuten.«
»Warum hast du es also nicht getan?«
»Aus verschiedenen Gründen, Bella. Erstens hätte ich dazu noch mehr Leute in diese Sache hineinziehen müssen, und das wollte ich nicht. Es ist mein Problem, für das sonst niemand etwas kann. Zweitens habe ich die ganze Zeit gewusst, dass die Sache irgendwann auf mich zurückfallen würde. Ich habe mir versprochen, dass ich in diesem Fall dafür geradestehen und meine gerechte Strafe erdulden würde.«
»Das habe ich mir gedacht«, sagte sie. »Und ich bin froh, dass ich es richtig gesehen habe. Ich möchte dir sagen, dass ich nie an deinen guten Absichten gezweifelt habe, keine Sekunde lang, ganz gleich, was noch geschieht, ganz gleich, wie das Gericht entscheidet. Ich werde immer an dich glauben.«
»Danke«, sagte Parry.
Während eines Besuchs bat Bella um eine Demonstration von Chromis’ körperlichen Fähigkeiten.
Chromis lächelte geduldig. »Ich besitze keine körperlichen Fähigkeiten, Bella. Ich bin nur ein Geist in deinem Kopf. Ich könnte kein Staubkorn bewegen. Ich könnte nicht einmal dich dazu bringen, ein Staubkorn zu bewegen.«
»Du weißt genau, dass ich den Würfel meine.«
»Ach so«, sagte Chromis, als hätte sie als Allerletztes an den Würfel gedacht. »Das meinst du.«
Bella ging weiter durch den Eistunnel unter Crabtree. Sie war auf dem Weg zum Kindergarten, wo sie vor einer Gruppe von Fünfjährigen sprechen wollte. »Du hast mir gesagt, dass der Würfel mehr als nur eine Botschaft ist. Du hast gesagt, er könnte für mich nützlich sein.«
»Er könnte sich auch als tödlich erweisen. Nachdem ich nun ein wenig mehr über die Verhältnisse auf Janus weiß, bin ich geneigt, Vorsicht walten zu lassen.«
»Ich werde dir sagen, was wir zu wissen glauben«, erwiderte Bella. »Der Würfel besteht aus zweihundert Tonnen Replikationsmaterial, das auf acht Kubikmeter zusammengepresst wurde. Es ist keine Nanotechnik, da wir so etwas analysieren können, sondern etwas, das noch mindestens eine Stufe über herkömmlicher Nanotechnik steht.«
»Sprich weiter«, sagte Chromis, als wäre dies alles nur eine kurzweilige Unterhaltung an einem verregneten Nachmittag.
»Ein Teil dieses Zeugs muss diese Funktion irgendwie aufrechterhalten, und vermutlich sorgt ein anderer Teil dafür, dass sich der Würfel selbst regeneriert. Allerdings bezweifle ich, dass dazu wirklich die gesamten zweihundert Tonnen notwendig sind.«
»Das wäre maßlos übertrieben.«
»Wozu ist also der Rest gut?«
Chromis zögerte, bevor sie antwortete. »Zu vielen Dingen.«
»Tatsächlich? Was du nicht sagst!«
»Es gibt nicht viel, wozu er nicht imstande ist, um die Wahrheit zu sagen.«
»Das habe ich mir fast gedacht. Warum widerstrebt es dir so sehr, darüber zu reden, Chromis?«
»Wenn du an meiner Stelle wärst, würde es dir genauso gehen.«
»Wenn du gewollt hast, dass ich den Würfel finde, warum ist es dann so problematisch, mir zu erzählen, was er eigentlich macht?«
»Hmm. Das Problem ist …« Chromis setzte eine verzweifelte Miene auf. »Das Problem ist, dass wir die Würfel mit den besten Absichten auf den Weg geschickt haben. Aber im Grunde waren wir gar nicht so fest davon überzeugt, dass es tatsächlich zum Kontakt kommen würde.«
»Das hast du schon einmal gesagt.«
»Aber falls der unwahrscheinliche Zufall doch eintreten sollte, gingen wir davon aus, dass es voraussichtlich nach einer sehr langen Zeitspanne geschehen würde.«
»Es ist wirklich viel Zeit vergangen«, erwiderte Bella ungeduldig.
»Aber nur nach deinem subjektiven Empfinden, Bella. Wie viele Jahre ist es her, seit ihr auf Janus gestoßen seid? Ein paar Jahrzehnte, mehr nicht. Das ist nichts im Vergleich zu den achtzehntausend Jahren, die zwischen deiner und meiner Zeit liegen.«
»Uns kommt es trotzdem wie eine lange Zeit vor.«
Aus ihren Gesprächen hatte Bella ein klareres Bild von Chromis’ Welt und ihrer Geschichte gewonnen, und sie wusste, wie alles mit ihrer zusammenhing. Etwa um 2136 waren verschiedene Entwicklungslinien kollidiert. Die zuvor dienstbaren Schwellen-Intelligenzen hatten plötzlich den Sprung zur echten Intelligenz vollzogen. Die brillanten Maschinen der Transgressiven Intelligenzen waren viel zu clever und eigenständig, um noch Befehlen zu gehorchen.
Schlagartig war die Menschheit im Besitz von Werkzeugen gewesen, die mächtig genug waren, um gesamte Welten umzugestalten, aber genauso waren sie in der Lage, sie zu Staub zu zertrümmern. Es gab keine Kriege im eigentlichen Sinne mehr, aber es gab schreckliche Unfälle, bedauernswerte Missverständnisse und maßlos übertriebene Vergeltungsaktionen. Am Rand des Systems hatten die Mächte, die nicht an diesen Wandlungen teilhatten, das Geschehen mit einer Mischung aus Ehrfurcht und Entsetzen beobachtet. Die Thai-Expansion war weniger der Versuch gewesen, der Menschheit den Weg zu den Sternen zu eröffnen, sondern eher das verzweifelte Bemühen, vor diesem Sturm der Veränderungen zu fliehen.
Die Menschen in Chromis’ Epoche blickten mit dem Gefühl kollektiver Beunruhigung auf diese Zeit zurück, mit einer Art fassungslosem Erschaudern, dass sie diese Phase überlebt hatten.
Beinahe wäre alles zu Ende gewesen.
»Ich glaube gerne, dass es euch wie eine lange Zeit vorkommt, aber eigentlich ist es das gar nicht. Ihr habt es geschafft, hier zu überleben, aber mir ist noch nicht klar, ob ihr für die Geschenke des Würfels wirklich bereit seid. Vielleicht in ein- oder zweihundert Jahren …«
»Sag so etwas nicht!«, rief Bella. »Du hast damit angefangen, als du mir erschienen bist, Chromis!«
»Das stimmt«, sagte sie reuevoll, »und es könnte sein, dass es ein Fehler war. Nicht weil ich dich nicht mag oder dich nicht bewundern würde – ich bin kaum zu einer anderen Empfindung in der Lage –, sondern weil mir allmählich klar wird, wie schädlich es für euch sein könnte, wenn ihr den Würfel schon jetzt öffnen würdet.«
»Also möchtest du die Öffnung hinauszögern.«
»Nicht ganz. Ich bin deine Dienerin, und ich würde einen direkten Befehl nicht verweigern. Aber ich würde mir alle Mühe geben, es dir auszureden.«
»Weil die Technik, die der Würfel enthält, so gefährlich ist?«
»Wenn sie in die falschen Hände gerät, ja.«
Bella dachte darüber nach, während sie weiterging. »Was wäre, wenn du zum Urteil gekommen wärst, dass wir ohnehin in Gefahr schweben? Würde das etwas ändern?«
»Wie ich bereits sagte, einen direkten Befehl würde ich nicht verweigern.«
»Aber würdest du eingreifen, um mir in jedem Fall zu helfen, auch wenn ich es dir nicht befehlen würde? Ist dein Drang, mich zu beschützen, so stark ausgeprägt?«
»Ich würde fast alles tun, um dich zu beschützen«, sagte Chromis.
»Dann halte ich es für wahrscheinlich, dass du irgendwann zum Eingreifen gezwungen sein wirst. Mir ist bereits eine Gefahr bekannt, die demnächst akut werden könnte. Und es gibt vielleicht noch weitere.«
Chromis’ feine Gesichtszüge verzogen sich zum Ausdruck eines Stirnrunzelns. »Ich bin mir nicht sicher, ob ich dir folgen kann.«
»Da es so gut wie sicher ist, dass ich früher oder später sowieso sehen muss, was der Würfel tut, kann es doch nicht schaden, wenn ich schon jetzt eine Demonstration erhalte.« Bella starrte ihre Begleiterin an. »Nicht wahr?«
»Wenn du es so ausdrückst …«
Bella sah auf die Uhr. »Ich werde ohnehin zu spät zum Kindergarten kommen. Wenn ich fertig bin – in einer Stunde oder so –, möchte ich, dass du wieder erscheinst. Dann unternehmen wir einen kleinen Spaziergang zum Labor, wo du mir ein paar Fähigkeiten des Würfels zeigen kannst. Es muss gar nicht viel sein. Ich möchte nur eine ungefähre Vorstellung bekommen, womit ich es zu tun habe.«
»Diese ungefähre Vorstellung kann ich dir schon jetzt vermitteln«, sagte Chromis.
»Wir sind nicht beim Würfel.«
»Das müssen wir auch nicht.« Erneut spürte Bella das tiefe Unbehagen der Frau. »Bist du dir sicher, dass du es wirklich willst, Bella?«
»Ja.«
»Ganz sicher?«
»Soll ich den ganzen Tag damit zubringen, immer wieder Ja zu sagen, Chromis?«
»Also gut. Wenn du darauf bestehst.«
Bella spürte, wie die Luft in Bewegung geriet, als wäre ein Schwarm von Dingen – die sehr groß und absolut unsichtbar waren – in unmittelbarer Nähe an ihr vorbeigerauscht. Ein Stück weiter im Eistunnel bildete sich ein Klumpen Dunkelheit. Dann vergrößerte er sich zu einem schwebenden Würfel in der Größe einer Hutschachtel. Die Luftbewegung beruhigte sich.
Bella wich instinktiv zurück.
»Mach dir keine Sorgen«, sagte Chromis. »Du hast um eine Demonstration gebeten.«
»Ist er real?«
»Geh hin und berühre ihn.«
Bella streckte die Hand aus und strich mit den Fingern über die schwarze Oberfläche des schwebenden Objekts. Es war genauso kalt und hart wie der echte Würfel, und es fühlte sich an, als wäre er fest im Raum verankert.
»Wie … wie ist er hierher gekommen?«
»Er … ist eingetroffen.«
»Das sehe ich selbst, Chromis!«
»Der Würfel hat ein paar hundert Kilogramm von sich gespendet, auf meinen Befehl.«
»Wir sind recht weit vom Würfel entfernt.«
»Die Maschinen bewegen sich sehr schnell, vor allem durch die Luft. Sie zerlegen sich in zahllose individuelle Entitäten, die unabhängig agieren und sich dann am Ziel wieder zusammensetzen. Sie lassen sich nicht von Türen und Wänden aufhalten – zumindest nicht von solchen, die ihr herzustellen in der Lage seid. Sie können immer irgendwo hindurchschlüpfen. Und wenn die Lücken wirklich nicht ausreichen, bohren sie sich durch. Ihr würdet die winzigen Kanäle, die sie sich schaffen, überhaupt nicht bemerken.«
»Du hast dir zu Recht Sorgen gemacht, was meine Reaktion betrifft.«
»Es kommt noch mehr.«
Der schwarze Würfel wurde größer, als würde er von innen aufgeblasen, und die scharfen Kanten krümmten sich. Das Objekt verlängerte sich zu etwas, das an eine Mumie erinnerte, dann wurden die Details klarer. Die schwarze Oberfläche gewann Farben und Texturen.
Schließlich blickte Bella auf ein vollkommenes Ebenbild ihrer Person. »Gut, ich bin offiziell beeindruckt.«
Das Ebenbild sprach im perfekten Einklang mit ihr, ohne spürbare Verzögerung der Reaktionen.
»Also bist du mit dieser Demonstration zufrieden?«
Bella schluckte und nickte. »Ja.«
»Gut, aber ich bin noch nicht ganz fertig. Wenn schon, denn schon, wie es so schön heißt.«
»Chromis …«
Das Bild wurde dunkel und schrumpfte wieder auf Würfelform.
»Du warst auf dem Weg zum Kindergarten, nicht wahr?«
»Ja …«, antwortete Bella stockend.
»Und du bist spät dran.«
»Ja.«
»Dann sollten wir deswegen lieber etwas unternehmen, nicht wahr?«
»Chromis …«, sagte sie wieder.
»Still jetzt, Bella. Sei still und hör zu. Die Maschinen werden sich jetzt um dich gruppieren. Wir bezeichnen es als Transithaube – damit bewegen wir uns durch den Raum, dort wo ich herkomme. Die Haube wird dich zum Kindergarten transportieren. Es wird sehr schnell geschehen, und du wirst nichts spüren. Die Haube wird in deinen Körper eindringen, um dich vor den Beschleunigungskräften zu schützen, die während deiner Reise entstehen.«
»In meinen Körper? Das gefällt mir nicht.«
»Bedauerlicherweise ist es unpraktisch, in diesen Größenordnungen ein Frameshift-Feld zu erzeugen, also ist es nur möglich, wenn vorübergehend ein intrazellulares Schutzgerüst aufgebaut wird. Aber mach dir keine Sorgen. Du wirst nichts davon spüren, und es wird keine Spuren hinterlassen.«
»Jetzt machst du mir Angst.«
»Und mir macht es eine geradezu kindische Freude. Du wirst mir doch verzeihen, nicht wahr?«
»Ich kann es immer noch schaffen, wenn ich renne.«
»Du willst rennen?« Chromis sah sie entrüstet an. »Wie würdelos! Wir wollen doch nicht, dass du völlig verschwitzt und außer Atem vor all die Kinder treten musst, nicht wahr?«
Bella wollte etwas erwidern, aber der Würfel änderte bereits seine Form. Er wurde flacher und schwebte auf sie zu. Instinktiv schnappte sie nach Luft, als die schwarze Oberfläche sie einhüllte. Einen kurzen Moment lang spürte sie, wie die eiserne Kälte in ihre Haut sickerte, dann zog sich das Gebilde wieder zurück, als wäre irgendetwas schiefgelaufen …
Aber nichts war schiefgelaufen. Sie war nur ganz woanders.
Bella blickte auf die Plastikwände des Korridors vor dem Kindergartenkomplex. Nach ihrer Schätzung hatte sie innerhalb eines Sekundenbruchteils drei- oder vierhundert Meter zurückgelegt.
»Nun hast du deine Demonstration bekommen«, sagte Chromis.
Die Haube war verschwunden. Von der Miniaturausgabe des schwarzen Würfels war nichts mehr zu sehen. Bella öffnete den Mund und wollte etwas sagen. »Ich …«
»Mit dir ist alles in Ordnung. Es ist klar, dass es beim ersten Mal recht irritierend wirken kann.«
Durch die dünne Plastiktür hörte Bella laute Kinderstimmen, die offenbar ungeduldig auf ihr Eintreffen warteten.
»Ich kann nicht … einfach da hineingehen. Nicht nachdem das passiert ist.«
»Es ging doch nur darum, die verlorene Zeit wettzumachen.«
»Ich muss mich setzen. Ich muss meine Gedanken ordnen.«
Chromis neigte den Kopf zur Tür. »Die Kinder, Bella. Sie scheinen immer unruhiger zu werden.«
Bella hatte das Gefühl, als wäre ihre gesamte Existenz aus dem Takt geraten. »Hat irgendjemand gesehen, wie ich eingetroffen bin?«
Chromis schüttelte missbilligend den Kopf. »Seltsamerweise kam es mir nicht in den Sinn, mich zunächst zu vergewissern, ob jemand in der Nähe ist.«
»Entschuldigung. Ich bin nur … ein wenig perplex.«
»Ich werde es nicht wieder tun. Es sei denn, du forderst mich dazu auf.«
»Es gibt da eine Tür«, sagte Bella, »eine schwere, luftdicht abgeschlossene Tür, zwischen hier und unserem Ausgangspunkt. Sie muss verschlossen gewesen sein. Ich habe einen Zugangsschlüssel, um sie zu öffnen. Wie in aller Welt sind wir hindurchgekommen?«
»Stückchen für Stückchen«, sagte Chromis. »Oder ist das schon zu viel an Information?«
Es gab etwas Neues in der Botschaft, einen riesigen runden Tisch, der aus einem festen schwarzen Material bestand. Der Rand war vertieft, und die Oberfläche war mit Hunderten leuchtender blauer Schnörkel in konzentrischen Ringen verziert, die jedoch keinen Zusammenhang mit dem spicanischen Alphabet zu haben schienen. Eine spiegelnde silberne Kugel von der Größe einer Orange ruhte genau in der Mitte des Tisches.
»Ihr habt mich nicht herbestellt, um mir gute Neuigkeiten mitzuteilen, nicht wahr?«, sagte Bella.
Chisholm lächelte entschuldigend, als wäre das alles irgendwie seine Schuld. »Die Moschushunde haben das Tor am Ende der Röhre erreicht. Sie sind auf der anderen Seite und warten, dass sie hindurchkommen.«
»Wann wird sich das Tor öffnen?«
»Bald.« Er blickte auf den großen runden Tisch zurück. »Ich glaube, McKinley hat dir gegenüber schon einmal die Flüsterer erwähnt, nicht wahr?«
»Ja. Als er zum ersten Mal über die Moschushunde gesprochen hat. Und über die Ungebändigten.«
»Ein Abgesandter der Flüsterer ist hier.«
»In der Botschaft?«
»In diesem Raum.«
Bella verglich die gläserne Umgebung mit ihrer Erinnerung. Der Tisch war das Einzige, was sich seit ihrem letzten Besuch verändert hatte. Falls sich ein weiterer Außerirdischer in diesem Raum aufhielt, war er entweder mit dem Tisch identisch, oder er hatte sich perfekt getarnt.
»Ich sehe nichts«, sagte sie.
»Sie sind … schwer wahrzunehmen.«
McKinley kam herbeigeeilt. Aufgeregtes Rot und Grün blitzte durch den Vorhang seiner Strähnen. »In der Vergangenheit neigten die Flüsterer dazu, ihre Aktivitäten auf eine einzige Kammer der Struktur zu beschränken. In letzter Zeit waren sie durch Störungen gezwungen, sich mit anderen Zivilisationen auseinanderzusetzen, auch über die Materiekluft hinweg.«
»Das Tor ist seit langer Zeit verschlossen. Wie ist er hierher gelangt?«
»Die Tore stellen für die Flüsterer kein Problem dar. Normalerweise können sie einfach hindurchschlüpfen. Und wenn ein Tor zu gut abgeschirmt ist, haben sie Zugangsschlüssel, die mit den Riegelmechanismen reden.«
»Wenn sie problemlos durch die Tore kommen, was hindert sie daran, die Struktur ganz zu verlassen?«
»Die Wände sind viel stärker und mit Feldern gesichert, die selbst die Flüsterer nicht überwinden können. Wer immer dieses Gebilde geschaffen hat, muss vorausgesehen haben, dass es auch Wesen wie den Flüsterern widerstehen muss.«
Bella spürte, wie es auf ihrer Haut kribbelte. »Woher weißt du, dass einer von ihnen hier ist?«
»Wir können seine Anwesenheit messen«, sagte McKinley. »Flüsterer offenbaren sich durch ihren Schwerkrafteinfluss und durch die Anregung subtiler statistischer Asymmetrien in den quantenchromodynamischen Interaktionen.«
»Warum ist er gekommen?«
»Er will uns warnen«, sagte McKinley. »Er berichtet, dass andere Flüsterer einen Handel mit den Moschushunden abgeschlossen haben.«
Die silberne Kugel setzte sich in Bewegung und rollte von der Mitte des Tisches weg. Etwas daran vermittelte den Eindruck einer gewaltigen, unaufhaltsamen Masse. Sie rumpelte um den Tisch herum, dann wurde sie kurz über einem Symbol langsamer, das danach rot leuchtete. Die Kugel bewegte sich zu einem anderen Symbol, das ebenfalls die Farbe von Blau zu Rot wechselte. Dasselbe geschah noch mit drei weiteren Symbolen, bis die Kugel wieder in die Mitte des Tisches zurückkehrte.
McKinley übersetzte. »Der Flüsterer sagt, dass er von seinen Artgenossen verbannt wurde, weil er gegen den Handel mit den Moschushunden war. Er sagt, er macht sich große Sorgen wegen dieser Vereinbarungen.«
Die roten Symbole wurden langsam wieder blau.
»Was ist das für ein Wesen? Steckt der Flüsterer in der Kugel?«
»Die Kugel ist nicht mehr als eine Kugel«, sagte McKinley. »Der Flüsterer hat auf seiner Seite der Materiekluft ein Gegenstück zu diesem Tisch. Wenn er zu uns sprechen möchte, bewegt er eine Punktmasse von Symbol zu Symbol. Die Kugel spürt das Gravitationsfeld über die Kluft hinweg und bewegt sich entsprechend.«
Wieder rollte die Kugel und markierte eine andere Abfolge von Symbolen.
»Der Flüsterer sagt, dass die Moschushunde gar nicht das Hauptproblem sind, obwohl man sie nicht unterschätzen sollte. Das wahre Problem sind die Ungebändigten.«
»Dann erzähl mir von ihnen. Wie es klingt, werde ich früher oder später ohnehin mehr über sie erfahren, ob es mir gefällt oder nicht.«
»Bedauerlicherweise könnte das der Fall sein. Die Ungebändigten bestehen aus normaler Materie, genauso wie wir. Nach hiesigen Maßstäben trafen sie erst vor kurzer Zeit ein und machten sich sofort daran, eine aggressive hegemoniale Politik im gesamten bewohnbaren Raum durchzusetzen. Durch ihre Aktivitäten wurde bereits eine Kultur ausgelöscht und eine zweite an den Rand der Ausrottung getrieben. Danach ist es einer Koalition aus gleich gesinnten Entitäten – der Schacht-Fünf-Allianz – gelungen, die Ungebändigten in einen einzigen Bereich zurückzudrängen. Bedauerlicherweise konnte vor kurzem ein kleines Kontingent der Ungebändigten aus diesem Bereich in die größere Struktur entkommen. Jetzt sind sie wieder frei und verursachen neue Probleme.«
Erneut bewegte sich die Kugel und markierte eine Reihe anderer Symbole.
»Der Flüsterer warnt, dass nicht davon ausgegangen werden kann, die Moschushunde würden einen Zugangsschlüssel verantwortlich benutzen.«
»Einen Moment«, sagte Bella. »Bevor es weitergeht, möchte ich gerne ein paar Fragen stellen. Wie viele Zivilisationen befinden sich in diesem Ding?«
»Nach der letzten Auslöschung? Wir wissen von fünfunddreißig. Anwesende eingeschlossen, versteht sich.«
»Gibt es einen bestimmten Grund, warum du mir das nicht früher sagen konntest?«
»Nach unserer Erfahrung kann das Wissen um die wahren Ausmaße der Struktur und die Anzahl der darin befindlichen Entitäten eine niederschlagende Wirkung auf manche Zivilisationen haben.« McKinley zögerte vorsichtig. »Insbesondere auf jene Zivilisationen, bei denen ein hohes Risiko der Selbstvernichtung besteht.«
»Wozu offenbar auch wir gerechnet werden müssen. Warum also plötzlich diese neue Offenheit?«
»Die Ankunft der Moschushunde erfordert eine neue Politik.«
»Ihr glaubt, sie könnten die Flüsterer mitbringen?«
»Die Flüsterer sind nicht das Hauptproblem. Viele Spezies empfinden ihre Anwesenheit als beunruhigend, aber sie gehören nicht zu den aggressiveren Entitäten. Wir haben bereits bei mehreren Gelegenheiten nützliche Geschäfte mit ihnen gemacht. Jedenfalls brauchen die Flüsterer die Moschushunde nicht, um für sie die Tore zu öffnen. Das Problem entsteht, wenn die Tore offen sind – weil wir es dann nicht nur mit den Moschushunden und den Flüsterern zu tun bekommen.«
Wieder bewegte sich die Kugel um den Tisch. Als die Botschaft formuliert war, sagte McKinley: »Der Flüsterer spekuliert, dass es Kontakte zwischen den Moschushunden und den Ungebändigten gegeben haben könnte. Das wäre eine äußerst besorgniserregende Entwicklung.«
»Warum würden die Moschushunde mit den Ungebändigten reden? Was könnten sie voneinander wollen?«
»Der Flüsterer ist sich nicht sicher. Wir auch nicht. Der Flüsterer bemüht sich, mehr Daten über die Verhandlungen zu erhalten.«
»Was wird geschehen, wenn die Ungebändigten uns erreichen? Werden wir sterben?«
»Wenn es sich nur um ein kleines Kontingent der Ungebändigten handelt, ist die Schacht-Fünf-Allianz vielleicht in der Lage, einen Einfall zurückzuweisen. Als Mitglieder der Allianz werden wir auf ein frühes Eingreifen drängen.«
»Schön zu wissen, dass ihr euch engagiert.«
»Wir engagieren uns, aber nicht nur, weil ihr uns erlaubt, Energie von Janus abzuzapfen, obwohl wir euch dafür dankbar sind. Außerdem schätzen wir eure Gesellschaft sehr. Wir mögen euch exotisch erscheinen, Bella, aber es gibt Entitäten in der Struktur, die selbst für uns auf beunruhigende Weise fremdartig sind.«
Trotz McKinleys großzügiger Worte verspürte sie einen trotzigen Impuls. »Das mag ja alles schön und gut sein, aber ich weiß, dass wir uns gar nicht mehr in der Struktur befinden. Es ist eine Struktur, aber nicht die, für die wir sie die ganze Zeit gehalten haben. Wir sind nicht mehr im Spica-System. Wir haben uns viel weiter entfernt.«
»Wir haben euch nie belogen«, sagte McKinley.
»Nein«, sagte Bella. »Aber ihr habt euch verdammt große Mühe gegeben, mich nicht zu korrigieren, wenn ich von falschen Voraussetzungen ausgegangen bin.«