Zwanzig
Parry überquerte die freie Fläche zwischen dem Beiboot und der Kuppel und wartete höflich, dass Bella ihn hineinließ. Am Hartanzug konnte sie unmöglich erkennen, ob Parry oder Svetlana in der Luftschleuse stand, doch als sich die innere Tür öffnete, war ihrer Miene keine Überraschung anzumerken.
»Setz dich«, sagte sie, nahm ihm den Helm ab und hängte ihn in ein Gestell.
»Ich weiß, dass du gehofft hast, mit Svetlana zu sprechen.«
»Gehofft. Nicht erwartet. Das ist ein gewaltiger Unterschied.«
Sie hatte ihm einen Tee aus ihren Vorräten gekocht. Er trank ihn aus einer im Schmiedekessel hergestellten Tasse mit Deckel, der den Tee am Überschwappen hindern sollte. Wang hatte sie mit dem Weidenmuster bedruckt, das er aus der Erinnerung rekonstruiert, aber mit großer Genauigkeit und Sorgfalt nachgezeichnet hatte. Der Tee war schwach und hatte die Farbe von trübem Regenwasser, genauso wie Parry ihn am liebsten mochte. Er fragte sich, ob Bella sich von seinem letzten Besuch daran erinnerte. »Du siehst gut aus«, sagte er schließlich.
»Für eine achtundsechzig Jahre alte Frau, meinst du.«
»Du solltest nicht jedes Kompliment totschlagen.« Er sah sie über den Rand der Tasse hinweg an. »Nicht dass Svieta keine Probleme hätte, eins anzunehmen.«
»Hätte es sie umgebracht, persönlich bei mir zu erscheinen?«
Vielleicht hatte sie seinen kurzen Blick zum Fenster bemerkt. Svetlana hatte ihm verboten zu erwähnen, dass sie sich an Bord der Crusader aufhielt. »Sie hatte es in letzter Zeit nicht leicht«, sagte er. »Seit Bob Ungless’ Tod … seit sich der Eiserne Himmel geschlossen hat … seit den neuesten Ereignissen. Wie viel hast du mitbekommen, was mit Craig passiert ist.«
»Genug.«
»Sie macht sich Selbstvorwürfe, weil sie ihn in das Schiff geschickt hat.«
»Hat sie ihm eine Pistole an den Kopf gehalten, damit er hineinmarschiert?«
»Natürlich nicht.«
»Dann muss sie sich wie eine Märtyrerin fühlen«, sagte Bella achselzuckend. »Es sei denn, diese Rolle gefällt ihr.«
»Craig hatte einen qualvollen Tod. Wir haben alles mitgehört.«
»Er soll Bergrücken gesehen haben.«
Parry nickte. Es erstaunte ihn, wie viele Informationen zu Bella durchgesickert waren. »Er sagte, er hätte die Spicaner gesehen. Axford ist sich da nicht so sicher. Er sagt, es waren nur die letzten Zuckungen seines sterbenden Gehirns.«
»Ich bin fest davon überzeugt, dass er etwas gesehen hat.«
»Es mag brutal klingen«, sagte Parry, »aber in gewisser Weise bin ich froh, dass Craig das Opfer war. Wir hatten ihn schon einmal verloren. Und beim zweiten Mal … es ist schlimm, aber es schmerzt nicht so sehr wie bei jemand anderem.«
»Das klingt wirklich brutal«, sagte Bella. Sie goss sich eine frische Tasse Tee ein und benutzte dazu ein Sieb, das sie aus dem Staubfilter eines Raumanzugs gebastelt hatte. In der Gravitation von Janus bewegte sich die Flüssigkeit eher plätschernd oder schlängelnd als fließend. »Aber ich weiß, wie du es meinst.«
»Erzählst du mir jetzt von Jim Chisholm?«
»Ich sagte, ich würde mit Svetlana darüber sprechen.«
»Ich habe getan, was ich konnte. Sie ist immer noch nicht bereit, sich mit dir auseinanderzusetzen.«
Bella zog nachdenklich eine Augenbraue hoch. »Was glaubst du, was der Grund dafür ist? Wäre es möglich, dass sie meine Existenz nicht mehr zur Kenntnis nehmen will? Weil sie dadurch mit dem Fehler konfrontiert würde, mich hierher zu verbannen?«
»Mit dir wäre es nicht anders gewesen, Bella. Wir hätten diesen Flug in jedem Fall gemacht, da eine Umkehr nicht mehr möglich war.«
»Ich habe von den Schwierigkeiten mit den Symbolisten gehört. Ich wäre besser mit ihnen zurechtgekommen.«
»Von deiner Warte aus sagt sich das leicht.«
»Von deiner Warte aus lässt sich das leicht abtun. Aber ich hätte es auf meine Art getan. Svetlanas Fehler war, dass sie die Symbolisten als Abweichler behandelt hat, wie eine Krankheit, die man diagnostizieren und heilen kann. Ich hätte sie als unvermeidliche Tatsache akzeptiert und sie für mich arbeiten lassen. Noch Tee?«
»Nein danke.«
»Sie hat versucht, sie vom Schlund fernzuhalten, weil es gegen ihre puritanischen Überzeugung verstieß, daran zu glauben, dass ein Haufen von Sektierern tatsächlich in der Lage sein könnte, den Laden am Laufen zu halten. Also hat sie ihnen Widerstand geleistet und sie zur Randgruppe gemacht, Spione und Agitatoren zu ihnen geschickt, um ihre Bewegung zu zerstören. Wodurch alles natürlich nur noch schlimmer wurde.«
»Wohingegen du was getan hättest?«
Sie riss die Augen auf. »Ich hätte sie integriert, sie ermutigt. Fanatiker sind genau die richtigen Leute, wenn man empfindliche Maschinerie warten lassen will. Das Uhrwerk wäre für immer in sicheren Händen gewesen.«
»Das hätte nicht funktioniert.«
»Svetlanas Methode war kaum ein durchschlagender Erfolg, Parry.« Bella schnaufte unwillig. »Aber wenn sie nicht mit mir reden will … Es hat wohl keinen Sinn, sich mit einem schmollenden Kind zu streiten, nicht wahr?«
»Also wärst du bereit, mit mir zu reden?«, fragte Parry.
»Wenn es nicht anders geht. Schließlich geht es hier nicht um meinen Stolz, sondern um das Wohl von Crabtree.«
Parry beugte sich vor und versuchte, wieder eine Verbindung zu der Frau herzustellen, unter der er früher einmal gedient hatte. »Dann sag mir, worum es geht. Sag mir, was Jim Chisholm mit dem Tod von Craig Schrope zu tun hat.«
»Sehr viel.« Sie stellte ihre Teetasse ab und musterte Parry mit einer Eindringlichkeit, die ihn verstörte, als würde sie in seine Seele schauen und dort nach einem Makel suchen.
»Es geht um das, was Jim zu dir gesagt hat, nicht wahr? Am Tag, als du nach Crabtree gekommen bist und ihn besucht hast.«
»Natürlich.«
»Aber das war vor … neun oder zehn Jahren, wenn ich mich nicht verschätze. Jim konnte noch nichts über die Spicaner wissen.«
»Aber er wusste, dass wir ihnen eines Tages begegnen würden. Und dass diese Begegnung …« – Bella hielt inne und suchte nach den richtigen Worten – »schwierig sein würde.«
»Dass er es wusste, hilft uns nicht weiter.«
»Ich glaube, doch«, sagte Bella. »Weißt du, es ist so … Auch das ist schwierig. Ich besitze nur noch etwas, das von Wert ist, Parry.« Sie blickte auf ihre altersfleckigen Finger, die sie unentschlossen ineinander verschränkt hatte. »Es war ein Geschenk von Jim. Er hätte es dir sagen können, oder Svieta oder Ryan oder sonst jemandem … aber das hat er nicht. Er hat es mir gesagt, weil es das einzig nützliche Ding war, das er mir geben konnte. Und ich habe das Geheimnis all die Jahre gewahrt, weil ich wusste, dass es uns eines Tages helfen könnte – dass es eines Tages mir helfen könnte … doch gleichzeitig habe ich die ganze Zeit gehofft, gebetet, dass die Zeit, es zu offenbaren, niemals kommen würde.« Sie blickte ihn mit einer Schärfe an, die ihn überraschte. »Aber jetzt scheint die Zeit gekommen zu sein.«
»Sag es mir«, flüsterte Parry.
»Ich hatte immer gehofft, ich könnte es benutzen, um mit euch zu verhandeln. Deshalb wollte ich mit Svieta reden.«
»Ich werde deine Forderungen an sie weiterleiten.«
»Ich verlange nicht die Welt. Nur dass ich nach Crabtree zurückkehren kann. Gestattet mir, eine kleine Rolle bei unserer Mission zu spielen.«
»Gib mir meinen Helm«, sagte Parry.
Bella tat es. Er setzte den Helm wieder auf und kehrte in die Luftschleuse zurück. Nachdem die Tür hinter ihm geschlossen und der Helm versiegelt war, würde Bella nicht mehr hören können, wie er mit Svetlana in der Crusader sprach.
»Nun?«, fragte sie.
»Bella ist bereit zu reden. Jim hat ihr etwas gesagt, das für uns möglicherweise nützlich sein könnte. Sie wird es offenbaren, wenn wir ihr ein Stück entgegenkommen.«
»Ich verhandle nicht. Hol es aus ihr raus.«
»Svieta …«
»Wir stehen kurz davor, das wichtigste Ereignis in der Menschheitsgeschichte zu vermasseln, Parry. Ich bin jetzt nicht in Stimmung für Verhandlungen. Sag ihr, wenn sie nicht reden will, kürzen wir ihre Rationen.«
»Dann wird sie dichtmachen. Du kennst Bella.«
Am anderen Ende der Verbindung folgte verärgertes Schweigen. Svetlana schien zu wissen, dass er recht hatte. Die beiden Frauen waren sich in punkto Temperament viel zu ähnlich. »Was verlangt sie?«, fragte Svetlana nach einer Weile.
»Die Rückkehr nach Crabtree.«
»Nur über meine Leiche.«
»Hör mir zu«, sagte Parry. »Gib ihr eine der abgelegenen Kuppeln. Sie muss nicht im Habitat untergebracht werden. Sie wäre immer noch eine Gefangene.«
Wieder Schweigen. Es hielt zwanzig oder dreißig Sekunden lang an, während sich Parry vorstellte, welche quälenden Gedanken durch Svetlanas Kopf gingen.
»Nur Crabtree, hat sie gesagt? Keine weiteren Forderungen?«
»Sie würde gerne wieder eine kleine Aufgabe übernehmen.«
»Nein.«
Parry dachte an Bella, die auf der anderen Seite der Schleusentür wartete und sich fragte, was hier vor sich ging. »Es wäre möglich«, sagte er. »Wir haben bereits einen privaten Kanal eingerichtet, auf dem jeder anonyme Vorschläge einsenden kann.«
»Aha?«, sagte sie überrascht.
»Ja. Auch wenn du nie ins Postfach schaust.«
»Aber du.«
»Ich überfliege die Eingaben von Zeit zu Zeit. Manchmal sind ganz brauchbare Vorschläge dabei. Dann lasse ich sie in meine Entscheidungsfindung einfließen. Bella hat derzeit keinen Zugang zu diesem Kanal, aber es würde uns nichts kosten, wenn sie ihre Meinung sagen darf. Anonym, versteht sich. Sie wäre nur eine von vielen Stimmen.«
»Läuft die Sache über das Schiffsnetz?«
»Früher ja. In letzter Zeit mussten wir wieder auf handgeschriebene Briefe in einer verschlossenen Schachtel zurückgreifen. Aber es funktioniert trotzdem.«
»Ich kenne ihre Handschrift.«
»Das spielt keine Rolle. Du liest die verdammten Briefe sowieso nie. Ich kenne ihre Handschrift nicht. Also wäre es egal.«
»Also gut«, sagte Svetlana mit einem tiefen Seufzer. »Mach ihr folgendes Angebot: eine Kuppel am Rand von Crabtree, aber nur mit einer Luftschleuse als Zugang zur Oberfläche. Niemand kann sie ohne Anzug besuchen. Und sie selbst bekommt keinen.«
»Mal sehen, was sie dazu sagt. Und der zweite Punkt?«
»Sie kann den Briefkasten für die Vorschläge benutzen. Sie bekommt einen begrenzten Papiervorrat zugeteilt. Ich will nicht, dass das Ding mit ihren Briefen überquillt.«
»Großzügigkeit ist etwas Wunderbares.«
Er kehrte in den Innenraum der Kuppel zurück und öffnete gleichzeitig den Helm.
Bella warf ihm einen wissenden Blick zu. »Wie ich sehe, lief alles glatt.«
Parry setzte sich zu ihr. »Deine Forderungen werden erfüllt. Du ziehst in eine Kuppel am Rand von Crabtree um. Ohne Zugang zum Tunnelsystem. Ohne Raumanzug.«
»Weiter«, sagte Bella ungerührt.
»Du darfst allgemeine Vorschläge über einen anonymen Kanal einreichen. Ich werde sie lesen und beurteilen, nicht Svieta. Alles, wovon ich glaube, dass es sinnvoll klingt, wird sie von mir zu hören bekommen. Keiner von uns wird je wissen, von wem die Vorschläge ursprünglich stammen.«
»Sehr demokratisch.«
»Du wirst wieder am Leben von Crabtree teilhaben. Darauf kannst du weiter aufbauen.«
»Vielleicht«, sagte sie zweifelnd. »Alles, was du mir gerade angeboten hast … ich kann mich doch darauf verlassen, dass ich es wirklich bekomme, oder?«
»Natürlich«, sagte Parry.
»Es ist gut, dass ich immer mit dir reden konnte«, sagte Bella. »Es war erleichternd zu wissen, dass nicht alle mich hassen. Da war zwar noch Axford, aber du hättest jeden Grund gehabt, dich von mir abzuwenden. Trotzdem hast du es nicht getan. Dafür bin ich dir sehr dankbar.«
»Ich hatte immer großen Respekt vor dir. Daran hat sich nie etwas geändert.«
»Dann sollten wir jetzt vielleicht über Jim Chisholm reden.«
Svetlana verfolgte, wie Parry zur Star Crusader zurückkam, während er gleichzeitig von einer anderen Gestalt an einem Fenster der Kuppel beobachtet wurde. Er verschwand aus ihrem Blickfeld, als er in die Schleuse des Beiboots trat, und für einen Moment hatte Svetlana das Gefühl, als würden Bella und sie sich gegenseitig ansehen, auch wenn sie zu weit voneinander entfernt waren, um sich in die Augen blicken zu können. Doch irgendwie spielte das gar keine Rolle. Der menschliche Geist war so sehr auf die Bedeutung von Blicken eingestellt, dass er es einfach wusste.
Es gab einen Moment der elektrischen Verbindung, wie ein emotionaler Kurzschluss, bevor Svetlana zusammenzuckte und wegschaute.
Parry kam durch die Luftschleuse. Sie nahm ihn auf der anderen Seite in Empfang und half ihm beim Ausziehen des Anzugs. Nervös hantierte sie mit den Verschlüssen. Ihre Fingerspitzen fühlten sich wund an, nachdem die Nägel fast bis zur Haut heruntergekaut waren.
»Hat sie angebissen?«
»Sie hat. Es war einige Überzeugungsarbeit nötig, aber schließlich hat sie mitgemacht. Ich glaube, sie war nicht allzu begeistert von der Idee, in eine andere isolierte Kuppel verlegt zu werden. Aber dass sie jetzt Vorschläge einreichen kann, schien für sie von großer Bedeutung zu sein.«
»Sie hat bekommen, was sie hören wollte«, sagte Svetlana.
»Darum ging es nicht«, erwiderte Parry. »Sie hat bekommen, was wir ihr tatsächlich bieten wollen.«
Parry folgte ihr in die Passagierkabine des Beiboots mit den durchgewetzten Sitzen. Svetlana rief Denise an und sagte ihr, dass sie nach Underhole zurückkehren konnten. Als die Crusader gestartet war, sagte sie: »Jetzt erzähl mir, was der ganze Aufwand sollte.«
Parry nahm seine rote Mütze ab und strich sich mit einer Hand durch das ergraute Haar. »Es geht um das, was Jim ihr in Crabtree gesagt hat. Um seine Pläne für die Zeit, wenn sie zu uns kommen.«
»Sie«, wiederholte sie matt.
»Die Aliens, denen wir seiner Überzeugung nach begegnen würden. Er hat sich gedacht, dass etwas in der Art geschehen musste, wenn wir Spica erreicht haben. Er wusste auch, dass er dann nicht mehr leben würde.« Parry hielt kurz inne, um sich zu vergewissern, dass er ihre Aufmerksamkeit hatte. »Tot, aber eingefroren.«
»Einer von Ryans Frostengeln.«
Er nickte ernst. »Jim wusste, dass er sterben würde, und er hat nicht geglaubt, dass wir jemals zur Erde zurückkehren würden. Aber Aliens? Er dachte, dass unsere Chancen sehr gut stünden, ihnen zu begegnen. Schließlich hat Janus uns irgendwohin gebracht. Also war es ziemlich wahrscheinlich, dass uns am Ende der Reise Außerirdische erwarten würden.«
»Er hatte recht«, sagte Svetlana, während sie an Schropes rätselhafte letzte Worte im Alienschiff dachte. »Aber was hat das mit unseren gegenwärtigen Problemen zu tun?«
»Jim hat sich gedacht, dass die Aliens eher als Menschen in der Lage sein würden, ihn zurückzuholen. Er sagte zu Bella, wenn es so weit ist und sich der Erstkontakt als schwierig erweisen sollte, sollten wir ihn zu ihnen schicken.«
»Wir sollen einen Toten schicken?«, sagte sie.
»Ein Toter hat nicht mehr viel zu verlieren.«
»Das ist verrückt.«
»Mag sein. Aber ist es verrückter, als noch jemanden hineinzuschicken und darauf zu warten, dass er genauso wie Craig draufgeht?«
»Man schickt keinen Toten als Unterhändler«, sagte Svetlana.
»Vielleicht ist mir etwas entgangen, aber ich erinnere mich nicht, jemals ein Handbuch für solche Fälle gesehen zu haben.«
»Sie haben schon eine menschliche Leiche.«
»Nein«, sagte Parry nachdrücklich. Wieder einmal blieb er völlig ruhig, brachte rationale Argumente vor, wurde nie laut und ließ sich nicht im Geringsten irritieren, wenn sie seinen Standpunkt nicht sofort einsah. »Wir haben ihnen einen lebenden Menschen geschickt, den sie getötet haben. Wahrscheinlich nicht absichtlich, aber es ist nun einmal passiert. Doch damit haben sie keine saubere Leiche. Sie haben einen Menschen, der von Luftdruck und Schwerkraft zerquetscht wurde, einen Menschen, der im Raumanzug starb. Er war noch warm, nachdem sein Herz stehen blieb, aber als sie an ihn rangekommen sind, muss sein Gehirn glatt wie antarktisches Eis gewesen sein. Der Schaden war nicht mehr zu beheben.«
»Jim ist genauso tot.«
»Jim ist ein Frostengel. Das ist der große Unterschied. Er wurde durch einen kontrollierten medizinischen Prozess eingefroren. Er wurde euthanasiert, bevor der Krebs größere Schäden in seinem Gehirn anrichten konnte. Es ist immer noch genug Material vorhanden, mit dem sie arbeiten können.«
Svetlana stieß ein knappes, humorloses Lachen aus. »Willst du damit sagen … dass sie ihn vielleicht zurückholen können?«
»Für sie ist er wie eine kaputte Uhr. Wenn wir ihn so rüberschicken, wie er ist, müssen sie zur Schlussfolgerung gelangen, dass wir ihn repariert wiederhaben möchten.«
Ash Murray nahm sie in Empfang, als die Crusader an Underhole andockte.
»Parry, Svieta – ihr müsst euch da unbedingt etwas ansehen.«
Sie folgten ihm in den Konferenzraum. Man hatte die Mahlzeiten abgeräumt und den Tisch mit einem Mosaik aus halbwegs funktionsfähigen Flextops ausgelegt. Alle schauten Svetlana erwartungsvoll an, als wäre sie der lang ersehnte Ehrengast, der zu guter Letzt auf einer Party erschien.
Sie schluckte, weil sich ihre Mundhöhle plötzlich mit Speichel gefüllt hatte. »Was ist los?«
»Wir haben mehr, als wir dachten«, sagte Murray und rieb sich mit einem Finger im Augenwinkel. »Kurz vor dem Ende, als Craig in der Luftschleusenkammer war – oder wie auch immer wir sie nennen wollen –, gab es eine vorübergehende Verbesserung der Übertragungsqualität.«
Sie trat neben den Tisch und blickte auf das lückenhafte Mosaik. »Ich verstehe nicht. Was willst du damit sagen?«
»Das Signal kam durch – Craig hat das letzte Bild an uns übermittelt. Er hat die Kamera gehoben und … wir haben ein Standbild. Es kam in Einzelbits über den Audiokanal. Das ist ein Notfallprotokoll, das sich automatisch aktiviert, wenn das System entscheidet, dass die Audioübertragung Vorrang hat. Deshalb haben wir es anfangs übersehen.«
»Ein Einzelbild?«
»Das ist besser als gar kein Bild.«
Sie sah sich das zusammengesetzte, verzerrte Bild an, das die Flextops zeigten, doch zunächst konnte sie nichts damit anfangen. Es war wie ein verwischtes Foto, das man aus dem Seitenfenster eines fahrenden Autos geschossen hatte. Undeutliche Gestalten, farbige Streifen. Unter der enormen Schwerkraft, während er im steigenden Druck kaum noch atmen konnte, musste es Schrope übermenschliche Kräfte gekostet haben, die Kamera auch nur in die ungefähre Richtung zu bewegen – geschweige denn, sie ruhig zu halten.
Aber er hatte sein Bestes gegeben. Und er hatte etwas aufgezeichnet.
»Ich nehme alles zurück, was ich zum Thema Halluzinationen gesagt habe«, murmelte Axford.
Parry zeigte auf eine verwaschene Silhouette. »Das da ist eindeutig etwas.« Er bewegte den Finger weiter. »Und das hier. Und vielleicht auch das hier.«
»Spicaner?«, sagte Svetlana.
»Craig sagte, dass es mehrere waren. Dass sie groß waren. Er sagte, sie wären wie …«
»Bergrücken«, sagte Nadis.
»Nur dass sie es nicht sind.« Svetlana kniff die Augen zusammen und versuchte mental die Verzerrungseffekte durch die Kamerabewegung und das Glas auszublenden. Die Aliens waren große aufrechte Gestalten in Meeresfarben – blau, grün und türkis. Sie sahen wie Rankenfüßer aus, die sich aus einer breiten Basis erhoben, aber die spitz zulaufende Grundform war auch schon alles, was sie mit Bergen gemeinsam hatten. Oben wölbten sich die Seiten zu einem stumpfen Ende, nicht zu einem spitzen Gipfel. Sie hatten keine erkennbare Vorder- oder Rückseite, keine sichtbaren Gliedmaßen oder Sinnesorgane, keinen eindeutigen Fortbewegungsapparat. Sie sahen aus wie in einer Kuchenform gebacken.
»Aber er hat sie gesehen«, sagte Parry, »und die Kamera auf sie gerichtet. Er sagte, sie würden sich bewegen, näher kommen.«
»Wenn sich die optischen Eigenschaften des Glases verändert haben, könnte er es als Bewegung fehlinterpretiert haben«, sagte Axford. »Was wir hier sehen, lebt vielleicht gar nicht. Es könnten einfach nur maschinelle Strukturen sein.«
»Nein«, sagte Svetlana entschieden. »Craig wusste, was er gesehen hat. Wir sollten nicht grundsätzlich an seinen Worten zweifeln.«
»Sie sind nicht das, was ich erwartet habe«, sagte Parry.
»Ich bin mir nicht ganz sicher, was wir überhaupt erwarten durften«, sagte Svetlana und sah Parry lächelnd an.
»Wenn das die Spicaner sind«, sagte Nadis, »wollen wir sie weiterhin so bezeichnen oder den Namen übernehmen, den Craig ihnen gegeben hat?«
»Craig hat uns das Bild übermittelt«, sagte Parry. »Das genügt, um ihn für immer im Gedächtnis zu behalten.«
»Ich frage mich nur«, sagte Svetlana langsam, während sie den Kopf schief legte, »ob er vielleicht etwas anderes als ›Bergrücken‹ gesagt hat.«
Axford flog mit der Crusader nach Crabtree. Als er vier Stunden später zurückkam, hatte er einen der Frostengel im Gepäck. Die Leiche lag in einem grauen Metallsarg, der sie im Zustand der kryogenen Suspension hielt.
Svetlana hatte zu diesem Zeitpunkt die Bestätigung erhalten, dass Bella die Wahrheit über Jim Chisholms letzten Willen gesagt hatte. Bella hatte Parry einen Codesatz mitgeteilt – sich wappnend gegen eine See von Plagen –, mit dem sich eine Datei in Chisholms privater Partition öffnen ließ. Sein Flextop war schon vor Jahren gestorben, aber die Einträge waren immer noch im Netzwerk vorhanden, und sie erwiesen sich als intakt. Der Codesatz aktivierte eine kleine Videodatei, die Chisholm auf dem Totenbett aufgezeichnet hatte.
Svetlana erschauderte, als sie ihn sprechen hörte.
»Wenn ihr das hier seht«, sagte er, »habt ihr entweder mit Bella gesprochen, oder ihr wart verdammt gut im Dechiffrieren meiner Dateien. Kriegt es nicht in den falschen Hals, aber ich gehe mal davon aus, dass Ersteres der Fall ist.« Ein geisterhaftes Lächeln erschien auf seinen ausgemergelten Zügen. »Ich hoffe, dass es euch allen gut geht. Wenn ihr das hier hört, haben es zumindest einige von euch bis nach Spica geschafft, wo irgendjemand oder irgendetwas auf euch gewartet hat.
Wenn Bella euch meine Wünsche mitgeteilt hat, seid euch gewiss, dass sie die Wahrheit gesagt hat. Genau das ist mein Wunsch, auch wenn es für euch nur schwer zu verstehen ist. Wir alle erinnern uns an die theoretischen Diskussionen über die Natur außerirdischer Intelligenzen. Ich habe mir die Zusammenfassungen angesehen, auch wenn ich nicht persönlich daran teilnehmen konnte. Ihr habt euch ausführlich darüber unterhalten, dass sie uns möglicherweise in jeder Hinsicht um viele Millionen Jahre voraus sind. Das erscheint mir völlig logisch. Wir müssten aus unserer eigenen Geschichte gelernt haben, dass Intelligenz etwas sehr Kostbares, Seltenes und Empfindliches ist. Wenn die Spicaner immer noch irgendwo da draußen leben, treiben sie vermutlich schon seit undenklichen Zeiten Raumfahrt. Also schätze ich, dass es für sie ein Leichtes ist, Humpty Dumpty wieder zusammenzuflicken.
Also bringt mich zu ihnen und schaut, was sie aus mir machen. Im ungünstigsten Fall lernen sie etwas mehr über uns, wenn sie mich auseinandernehmen und schauen, wie ein Mensch funktioniert. Vielleicht klappt es ja. Und wenn nicht, habe ich nichts verloren.«
Jim Chisholms Lächeln war das eines Toten. »Und wenn ich tatsächlich zurückkommen sollte, werde ich versuchen, euch keinen allzu großen Schrecken einzujagen.«
Svetlana kehrte zum Loch im Himmel zurück. Sie hatte den Frostengel auf einem Schlitten dabei und zog ihn bis zum Schiff der Spicaner, auf dessen Hülle die Symbole weiterhin ihren wilden Tanz aufführten. Doch als sie sich der Rampe näherte, wurde das Flackern langsamer und hörte schließlich ganz auf, als wollte das Schiff zum Ausdruck bringen, dass es ihre Anwesenheit bemerkt hatte. Diese Art von gespannter Aufmerksamkeit verursachte Svetlana eine Gänsehaut.
Sie ging die Rampe hinauf und folgte Schropes Weg ins gläserne Innere. Sie fand die kugelförmige Kammer, in der er zu Tode gekommen war. Sie schob den Schlitten über die Kante und beobachtete, wie er hinunterrutschte und in der Mulde zur Ruhe kam. Die darauf festgebundene gefrorene Leiche sah wie eine Opfergabe aus.
Die gläserne Luftschleuse zog sich zwischen ihr und der Kammer zusammen. Nichts geschah dort, wo sie stand. Sie konnte den Schlitten und seine Fracht immer noch durch das Glas erkennen.
Dann kamen sie.
Zuerst waren es nur undeutliche Silhouetten, die auf der anderen Seite der Kammer erschienen. Sie waren wirklich groß, wie Craig Schrope gesagt hatte, drei Meter hoch und mindestens genauso breit an der Basis. Sie bewegten sich auf sehr merkwürdige Weise, ganz anders als alle Tiere, die sie jemals beobachtet hatte. Sie waren hauptsächlich blau, ein klares Blau, das von funkelnden Fäden in Grün und Türkis und einem gelegentlich hellroten Klecks durchsetzt war.
Sie drängten sich ans Glas, um zu sehen, was sie ihnen mitgebracht hatte, wie Kinder, die die Nasen an ein Schaufenster drückten. Langsam, um sie nicht zu beunruhigen, löste Svetlana die Kamera und schoss ein paar Aufnahmen. Falls die Aliens ihre Anwesenheit registrierten, war es ihnen nicht anzumerken.
Jetzt konnte sie sie besser erkennen. Sie hatten einen zylindrischen Querschnitt, ohne dass es ein offensichtliches Vorne oder Hinten gab. Was im Standbild, das Schrope ihnen geschickt hatte, wie eine massive Gestalt ausgesehen hatte, erwies sich nun als Vorhang aus sehr feinen Fäden, die aus der Mitte entsprangen und in allen Richtungen herabfielen, bis sie den Boden streiften. Nicht wie Bergrücken, sondern wie Perücken! Das war es, was Craig Schrope gesagt hatte.
Seine Beschreibung fasste ihre Erscheinung mit einem Wort zusammen: Sie waren wie grell gefärbte Langhaarperücken, die sich aus eigener Kraft bewegten und mit den Haarspitzen den Boden berührten. Sie waren in ständiger Bewegung, auch wenn sie still standen. Die Fäden wogten, wellten sich und verschlangen sich ineinander wie glitzernde Schlangen. Sie bewegten sich fort, indem sie die Fäden wellenförmig über den Boden laufen ließen. Wenn sich irgendwo ein Vorhang teilte, sah sie darunter nur weitere Schichten aus den fadenförmigen Strukturen.
Das also waren die Aliens. Sie waren eindeutig keine mechanischen Elemente des Schiffs. Sie waren auch keine Roboter. Die Art, wie sie sich bewegten, wie sie sich ans Glas drückten, passte eher zu lebenden Individuen als gesteuerten Einheiten.
Auf der anderen Seite der Kammer öffnete sich eine Tür, und eins der blauen Wesen zwängte sich durch die Lücke. Zuerst wirkte der Durchgang viel zu eng, aber Svetlana hatte erlebt, wie Oktopoden ähnliche Kunststücke zustande brachten. Während es zum Schlitten hinunterfloss, folgte ihm ein zweites Alien. Sie hielt die Kamera auf die beiden Wesen gerichtet, als sie sich um den Schlitten scharten und ihn völlig umschlossen. Für einen Moment schienen die zwei Gestalten miteinander zu verschmelzen, als würden sie sich beraten, was sie mit der Beute anfangen sollten. Dann löste sich einer, floss zur Tür zurück und zwängte sich wieder hindurch. Nach kurzem Zögern folgte das zweite Alien. Der Schlitten und der Frostengel waren verschwunden.
»Kümmert euch gut um ihn«, flüsterte Svetlana. Dann drehte sie sich um und machte sich auf den Rückweg nach Underhole.