Einundzwanzig
Parry hatte den Eindruck, dass Bella auf ihn gewartet hatte. Im Innern ihrer Kuppel sah es karger aus als zuvor. Ihr weniger Besitz war ordentlich in Kisten verpackt und wartete darauf, durch die Luftschleuse gebracht zu werden. Parry tat, als würde er es nicht bemerken. Sie machte Tee für ihn, wie gewöhnlich.
»Ich habe nichts Neues von Crabtree gehört«, sagte sie, während das Wasser kochte.
»Svetlana hat die Nachrichtensperre verstärkt. Craigs Verschwinden war eine Sache, aber was wir mit Jim machen, auch wenn es sein ausdrücklicher Wunsch war, ist etwas ganz anderes. Für Axford war es schon schwierig genug, ihn aus der Leichenhalle zu holen, ohne dass sein medizinisches Personal zu viele unliebsame Fragen stellte.«
»Ich kann mir vorstellen, dass er sehr diskret vorgegangen ist. Aber Svieta kann die Nachrichtensperre nicht ewig aufrechterhalten. Früher oder später werden die Leute erfahren müssen, was geschieht.« Sie löffelte Tee in das provisorische Sieb. »Wie lange ist es jetzt schon her.«
»Etwa drei Tage.«
»Und am Schiff hat sich nichts verändert?«
»Die Symbole haben sich wieder beruhigt. Sie wechseln noch seltener als zuvor. Es ist, als wäre bei ihnen endlich der Groschen gefallen, dass wir sie sowieso nicht verstehen. Obwohl nicht klar ist, warum sie jemals erwartet haben, wir würden sie verstehen …«
»Sie haben es nicht erwartet«, entgegnete Bella. »Sie haben es sich nur gedacht. Ich habe Bilder von diesem Schiff gesehen, und ich finde, dass es nicht besonders spicanisch wirkt. Es ist schlank, gläsern, filigran. Die Maschinen von Janus sind riesig, klobig und hauptsächlich schwarz.«
»Wie kommst du darauf? Wie könnte es nicht spicanisch sein? Du hast die Symbole gesehen. Jake und Christine haben vielleicht noch keine exakte Übereinstimmung mit den Mustern auf Janus gefunden, aber es ist eindeutig dieselbe Sprache.«
Sie goss ihm Tee ein. »Dass es dieselbe Sprache ist, sehe ich genauso, aber welche andere Sprache sollten sie im Umgang mit uns benutzen? Jedenfalls kein Englisch oder Chinesisch, dazu kennen sie uns noch nicht gut genug. Aber was wäre, wenn sie ein wenig über uns wissen, zum Beispiel, dass wir viel Zeit hatten, uns auf Janus umzusehen und die spicanischen Maschinen zu studieren. Vielleicht sind sie auf ähnliche Weise mit spicanischen Artefakten in Berührung gekommen. Und wenn die Sprache für sie sehr einfach zu entziffern war, würden sie selbstverständlich davon ausgehen, dass auch wir keine besonderen Schwierigkeiten damit hatten.«
»Aber wir hatten und haben Schwierigkeiten. Große Schwierigkeiten.«
»Ich glaube, dass ihnen das inzwischen klar geworden ist«, sagte Bella bedauernd.
»Wenn deine Vermutungen zutreffen … wenn sie keine Spicaner sind …«
»Ich weiß es nicht. Und es könnte sein, dass ich mich irre. Aber mir sind da ein paar Ideen gekommen. Ich habe ständig Ideen.« Bella zögerte. »Vor langer Zeit habe ich dir gesagt, dass wir hinsichtlich der Spicaner vielleicht völlig falsch liegen.«
»Ich erinnere mich«, sagte Parry. »Es war, als ich dich das letzte Mal zu Jim gebracht habe.«
»Ganz allein hier draußen, ohne Ablenkungen … hatte ich eine Menge Zeit zum Nachdenken. Hauptsächlich über Janus und was der Mond über die Wesen sagt, die ihn geschaffen haben.« Sie neigte den Kopf, als wäre ihr plötzlich eine Idee gekommen. »Wir hatten großes Glück, nicht wahr?«
Er konnte ihr nicht mehr folgen. »Glück?«
»Wir wurden vom Kielwasser mitgerissen, hingen an diesem Ding wie Ahab an seinem Wal … Unter diesem lächelnden Himmel, über dieser unberechenbaren See.«
»Bella!«, sagte er mit einem nachsichtigen Lächeln.
»Janus hat uns von zu Hause fortgebracht, aber er hat uns am Leben erhalten. Wir haben uns für verdammt intelligent gehalten, als wir ihm Energie und Rohstoffe für unsere Zwecke abspenstig gemacht haben.« Sie fixierte Parry mit dem vertrauten intensiven Blick, der während all der Jahre ihres Exils nichts von seiner Kraft eingebüßt hatte. »Aber was ist, wenn das der Sinn des Ganzen war? Was ist, wenn die Spicaner erwartet haben, dass wir Janus für unsere Zwecke nutzen? Und um sich darüber zu amüsieren. Ich glaube, dass das der Sinn des Ganzen war, Parry. Ich glaube, Janus war ein Rätsel, das uns am Leben erhalten und unseren Verstand herausfordern sollte, wie ein Käfig im Zoo. Man gibt den Tieren Wasser und Nahrung, und man gibt ihnen Spielsachen und Herausforderungen, damit sie geistig beweglich bleiben.«
»Wir sind nur versehentlich auf diesem Ding gelandet«, sagte er. »Der Pannenstrudel, weißt du noch?«
»Golf Bravo«, sagte sie und nickte. »Ja, wir haben Fehler gemacht. Aber auch ein Tier macht einen Fehler, wenn es in die Falle tappt. Janus war unsere Falle und unser Käfig. Er war dazu gedacht, uns zu animieren, ihn genau zu untersuchen. Er sollte uns entführen und uns während der Reise am Leben erhalten.«
Parrys Stimme klang papierdünn. »Die Reise wohin, Bella?«
»Wohin schon?« Sie klappte den Deckel ihrer Teetasse zurück, um einen Schluck zu nehmen. »Zum Zoo natürlich.«
Nachdem sie mit dem Tee fertig waren, konnten sie die verpackten Sachen nicht länger ignorieren. Bella werkelte mit einer Fröhlichkeit, die er seit dreizehn Jahren nicht mehr an ihr erlebt hatte, als sie das Teegeschirr abwusch.
»Es stimmt, was ich dir erzählt habe«, sagte sie über die Schulter, während Parry seinen Helm untersuchte, als wäre er das faszinierendste Artefakt, das die Welt zu bieten hatte. Er studierte jeden Mikrometeoritenkrater, jeden Kratzer kosmischer Strahlung. »Ich hatte hier draußen viel Zeit zum Nachdenken. Jetzt werde ich wenigstens einen kleinen Einfluss auf die Politik haben, auch wenn ich nur etwas über den anonymen Kanal bewirken kann. Zuerst hat mir diese Lösung gar nicht gefallen, aber nachdem ich darüber geschlafen habe, halte ich es für ein recht gutes Arrangement. Sehr demokratisch. Auch wenn du es kaum glauben wirst, aber ich stand tatsächlich die meiste Zeit auf der Seite der Interimsverwaltung. Svieta hätte besser mit den Symbolisten umgehen können, aber das war von Anfang an ein heikles Problem.«
»Sie hat gelogen.«
Bella hantierte unbeirrt weiter. »Und es wird mir gut tun, wieder in der Nähe von Crabtree zu sein. Ich weiß, dass ich trotzdem sehr isoliert leben werde und keine ungeplanten Besuche machen kann, aber wenigstens wird es für andere Leute nicht mehr so schwierig sein, mich zu besuchen, auch wenn es hauptsächlich Besuche von Axford sein werden. Aber Ryan war in all den Jahren sehr freundlich zu mir. Er ist ein guter Mann – ohne ihn hätte es uns schlimmer treffen können.«
»Sie hat gelogen«, wiederholte Parry.
Bella drehte sich um. »Wie bitte?«
»Svetlana hat dich angelogen«, sagte er mit matter, kraftloser Stimme, ohne von seinem Helm aufzublicken. »Du wirst nicht bekommen, was dir versprochen wurde.«
»Nein«, sagte Bella mit einem missglückten Lächeln.
»Alles, was ich zu dir gesagt habe, habe ich in voller Überzeugung gesagt. Jedes Wort war ehrlich gemeint.«
Jetzt war das Lächeln verschwunden, als die Wahrheit zu ihr durchdrang. »Nein. Das kann sie nicht tun.«
»Sie hat es schon getan. Du hattest etwas, das sie haben wollte. Jetzt hat sie es. Damit hast du für sie keinen Nutzen mehr.«
Bellas Stimme zerfiel zu einem Krächzen. »Das kannst du ihr nicht einfach durchgehen lassen.«
»Ich habe es versucht. Sie hört nicht auf mich.«
Bella setzte sich auf eine der gepackten Kisten. Ihr fröhlicher Schwung hatte sich spurlos verflüchtigt. »Es war dumm von mir«, sagte sie schließlich, als wollte sie sich selbst einen Tadel erteilen. »Ich bin das Risiko eingegangen, ihr zu vertrauen.«
»Du hast nichts Falsches getan«, sagte Parry. Er wollte sie trösten, aber er wusste, dass es nichts gab, das ihr den Schmerz dieses Verrat nehmen würde.
»Ich habe ihr vertraut.«
»Du hast das Richtige getan. Du hast uns etwas gesagt, das für uns wichtig ist.«
»Ich habe verhandelt, Parry. Ich dachte, ich würde etwas als Gegenleistung erhalten.«
»Aber am Ende hättest du es uns sowieso gesagt, auch wenn ich dir nichts versprochen hätte, weil es dir letztlich um das Wohl von Crabtree geht. Und um die Erfüllung von Jims letztem Willen.«
»Parry«, sagte sie leise, »würdest du jetzt bitte gehen? Es war sehr freundlich von dir, dich persönlich hierher zu bemühen. Ich weiß, dass es nicht einfach gewesen sein kann. Aber jetzt würde ich sehr gern allein sein.«
Er folgte dem Stromkabel nach Crabtree und machte sich auf den Weg in Svetlanas Büro, ohne seinen Anzug vollständig auszuziehen. Er musste durch die Zentrifugensektion, wo er auf ein Ge beschleunigt wurde, aber er hatte den größten Teil seines Ballasts aus abgereichertem Uran im Traktor gelassen, bevor er den Aufzug genommen hatte.
Mit seinem Schlüssel öffnete er die Tür zum Büro. Es war dunkel. Svetlana war noch in Underhole, wie er erwartet hatte. Er schaltete die Beleuchtung auf schwächster Stufe ein und ging zum vertrauten Kasten des Aquariums, der leise im Zwielicht blubberte. Die Fische hatten sich problemlos an die Beinahe-Schwerelosigkeit gewöhnt, was angesichts seines Vorhabens gut war.
Nachdem Parry den Tank von der Strom- und Wasserversorgung abgekoppelt hatte, vergewisserte er sich, dass der Deckel geschlossen war, damit er nichts verschüttete. Er legte seinen Helm auf den Deckel, um ihn zur Hand zu haben, wenn er den Traktor erreicht hatte. Der Tank war groß, aber er konnte ihn gerade mit den Händen von beiden Seiten packen, ohne sich allzu sehr anstrengen zu müssen. Mit einem unwillkürlichen Ächzen versuchte er das Ding anzuheben.
Auf der Erde hätte das Aquarium eine gute Tonne gewogen, da es bestimmt einen Kubikmeter Wasser enthielt, ganz zu schweigen vom Sand und den Steinen, die darin lagen. Auf Janus hätte das Ganze nicht mehr als ein paar Kilogramm wiegen dürfen, trotzdem ließ sich das Ding nicht von der Stelle bewegen. Er versuchte es erneut, wieder ohne Erfolg, dann erkannte er – wie dumm von ihm! – dass das Aquarium mit vier Klecksen Geckoflex auf dem Tisch befestigt war. Er hob die vier Ecken nacheinander an, und plötzlich hatte es sich gelöst. Die Masse besaß immer noch ein respekteinflößendes Trägheitsmoment, aber Parry war es gewohnt, schwere Objekte auf Janus durch die Gegend zu bewegen. Er bemühte sich, das Ganze in der Waagerechten zu halten und stapfte vorsichtig zur Tür.
In diesem Moment sah er Svetlana, die ihn als vage Silhouette aus dem Korridor beobachtete.
»Ich dachte, du wärst noch in Underhole«, sagte er unbehaglich.
»Es scheint so.« Eine Hand hatte sie in die Hüfte ihres Anzugs gestemmt, in der anderen hielt sie ihren Helm. »Was machst du da?«
Er blieb stehen, ohne das Aquarium loszulassen. »Ich mache das, was es mir ermöglicht, diesen Tag mit einem letzten Funken Würde zu überstehen. Und du?«
Sie drückte ihren Helm gegen einen Geckoflexstreifen an der Decke. »Stell das Aquarium zurück.«
»Ich bringe es zu Bella. Wir haben sie bei der Sache mit Jim übers Ohr gehauen. Ihr dafür etwas zu geben ist das Mindeste, was wir für sie tun können.«
»Stell das Aquarium zurück«, wiederholte sie.
Er ging einen Schritt auf die Tür zu. »Nein.«
»Stell es zurück!«
»Geh mir aus dem Weg, Svieta!«
Sie kam ihm entgegen und legte ihre Handschuhe an das Aquarium. Geckoflex haftete vorzüglich an Glas. Svetlana war kräftiger, als er gedacht hatte. Sie hatte sich immer genug Zeit genommen, um in Form zu bleiben, selbst in den schwierigen Tagen des Eisernen Himmels. Trotzdem war Parry stärker als sie. Auch er war durchtrainiert, und er hatte das Aquarium besser im Griff als sie. Sie kämpften darum, doch keiner konnte sich gegen den anderen durchsetzen. Parrys Helm rutschte vom Deckel und schwebte mit federgleicher Langsamkeit zu Boden. Obwohl er den Deckel verschlossen hatte, spritzte etwas Wasser heraus. Es flog wie eine verbogene Glasscheibe durch die Luft, die sich in silbrige Klumpen auflöste, während sie zu Boden driftete.
»Stell es zurück«, sagte Svetlana schwer keuchend. »Sie wird es nicht bekommen.«
»Es sind jetzt dreizehn verdammte Jahre«, erwiderte Parry angestrengt schnaufend. »Hat sie nicht schon genug bezahlt, ohne dass wir sie anlügen müssen, ohne dass wir sie hintergehen müssen?«
»Stell … das … Aquarium … zurück!«
Er verlor den Halt, wo das Geckoflex an seinem rechten Handschuh zu dünn geworden war. Svetlana nutzte seine Schwäche und zog das Aquarium in ihre Richtung, um es ihm ganz aus den Händen zu reißen. Parry versuchte nachzufassen, sorgte aber für eine Überkompensierung der Drehbewegung, die Svetlana eingeleitet hatte. Dadurch entglitt ihm das Aquarium. Für einen kurzen Moment hatte Svetlana es. Mit dem Gewicht kam sie problemlos zurecht, aber das Ding hatte trotzdem ein Trägheitsmoment von über einer Tonne. Während dieses Gerangels entwickelte die Masse eine gefährliche Geschwindigkeit. Es war, als würde man versuchen, einen fallenden Motorblock aufzuhalten.
Das Aquarium glitt ihr aus den Händen. Sie versuchte noch einmal, es aufzufangen, aber es befand sich unwiderruflich auf dem Weg zum Boden und gewann mit jeder Sekunde ein größeres Bewegungsmoment. Die starren Raumanzüge verhinderten, dass sie schnell genug hinterherspringen konnten. Also mussten sie tatenlos zusehen, wie das Aquarium mit der Wucht eines außer Kontrolle geratenen Supertankers den Boden rammte. Das Glas hielt – schließlich war es den Anforderungen des Weltraums gewachsen –, aber der Deckel sprang ab und ließ das noch übrige Wasser in einer quälend langsamen Flutwelle samt der Fische herausschwappen.
»Ach du Scheiße«, sagte Svetlana.
Das Wasser floss in alle Richtungen davon. Die Oberflächenspannung zog es zu amöbengleichen Formen zusammen, die sich aus eigenem Willen zu bewegen schienen. Die verblüfften Fische zappelten mit verständnislos geweiteten Glupschaugen in den Pfützen, schlugen mit den Schwänzen um sich und rissen die Mäuler im verzweifelten Überlebenskampf auf.
Parry und Svetlana schauten entsetzt auf die Bescherung. Ein scheinbar ewiger Moment verging, bevor sie sich gleichzeitig in Bewegung setzten, steif in die Knie gingen und versuchten, mit den Händen Wasser und Fische zurück ins Becken zu schöpfen. Als sie die meisten Tiere eingesammelt hatten, war der größte Teil des Wassers in Bellas altem Teppich versickert. Was sich noch im Aquarium befand, sah schaumig und trübe aus. Die Fische hingen schief und betäubt in der Flüssigkeit. Ihr empfindlicher Gleichgewichtssinn war völlig durcheinander geraten.
Wortlos bugsierten Parry und Svetlana das Becken zurück auf den Tisch und schlossen es wieder an die Wasserversorgung an.
»Das wird ihnen nicht gefallen«, sagte Parry, als das Aquarium zur Hälfte nachgefüllt war. »Ich glaube, man darf immer nur ein bisschen Wasser austauschen, damit das Ökosystem keinen zu großen Schock erleidet.«
»Es tut mir leid«, sagte Svetlana zitternd.
Parry sah sie an. »Sprichst mit mir oder den Fischen?«
»Bring das Aquarium zu Bella. Vielleicht … kriegt sie es wieder in Ordnung.«
»Was soll ich ihr sagen?«, fragte er.
»Nichts. Bring ihr einfach das Aquarium.«
In diesem Moment bemerkten sie gleichzeitig das dringende Summen, das aus ihren Helmen drang. Parry ging in die Knie, um seinen vom Boden aufzuheben, während Svetlana ihren von der Decke holte. Was sie hörten, war das Alarmsignal des Helmdisplays, also zog Parry ihn sich über den Kopf, ohne den Halsverschluss einrasten zu lassen. Das Display erhellte sich.
»Ich glaube, du solltest deinen Helm aufsetzen«, sagte er zu Svetlana.