Sieben


 

 

Das Gesicht auf Bellas Wand gehörte einen jungen Mann, dessen Haut von der Schwerkraft fast von den Knochen gerissen wurde. Gepolsterte Gurte hielten seinen Kopf, sodass er ihn keinen Zentimeter mehr bewegen konnte. Was von seiner Umgebung zu erkennen war, schimmerte verschwommen in rotem Licht – perforierte Bullaugen aus Schaumstahl, ein Gewirr aus Zirkulationsröhren, Bildschirme mit durchlaufenden Texten und Diagrammen. Unter den gekreuzten Sitzgurten trug er eine Anzugjacke über einem weißen Rollkragenpullover. Farbige Bänder und metallene Abzeichen hoben sich vom dunklen Stoff der Jacke ab. Der junge Mann hatte kurzes schwarzes Haar, das ordentlich zur Seite gekämmt war und glänzte, als hätte er es kurz vor dieser Sendung gewaschen und gegelt.

»Wir grüßen den Captain und die Besatzung des kommerziellen Raumschiffs Rockhopper«, sagte das Gesicht auf Bellas Wand. »Hier spricht Kommandant Wang Zhanmin des Erkundungsraumschiffs Shenzhou Fünf, im Namen der Demokratischen Volksrepublik Groß-China. Es ist mir eine große Ehre, im Namen meiner Nation die Hand der Freundschaft auszustrecken. Wir bitten die ehrenhafte Besatzung des kommerziellen Raumschiffs Rockhopper, das Angebot des chinesischen Volkes anzunehmen, die Erkundung der Janus-Anomalie gemeinsam durchzuführen.«

Bella hielt die Aufzeichnung an. »Es ist das Gleiche wie beim letzten Mal. Nicht exakt derselbe Wortlaut, aber an den Grundaussagen hat sich nichts geändert.«

»Es gefällt mir, wie er das mit dem ›kommerziellen Raumschiff‹ betont«, sagte Craig Schrope. »Als wüsste er nicht, das wir eine VWE-Mission mit sämtlichen diplomatischen Befugnissen sind.«

»Der Junge sagt nur das, was in seinem Drehbuch steht, was Beijing ihm vorgeschrieben hat«, erwiderte Bella. »Betrachte es aus ihrem Blickwinkel. Warum sollten sie unseren offiziellen Status anerkennen, wenn wir ihren auch nicht anerkennen.«

»Weil China ein Schurkenstaat ist und wir ein Vollmitglied des Rats sind. Das ist für mich ein hinreichender Grund.«

Bella fragte sich, wie deutlich sich bei ihr der Stress zeigte. Sie hatte immer noch nicht mit Schrope über den zweiten Beweis gesprochen, auf den Svetlana sie aufmerksam gemacht hatte, und dieses Versäumnis machte ihr schwer zu schaffen. Sie sorgte sich, was geschehen würde, wenn sie die angeforderte neue Antwort von der Erde erhielt. Sie hatte schuldbewusst darauf gehofft, dass sich das chinesische Problem von selbst lösen mochte und sie dann eins weniger haben würde, über das sie sich den Kopf zerbrechen musste.

Bedauerlicherweise funktionierte Beijings wunderschöne Schöpfung mit dem gestuften, pagodenartigen Design weiterhin tadellos. Das Fusionstriebwerk war auf beängstigende zwei Ge hochgefahren worden, was ihnen ein noch längeres Beobachtungsfenster ermöglichen würde. Wäre das Wettrennen zwischen der Rockhopper und der Shenzhou Fünf unter gleichen Ausgangsbedingungen und von der gleichen Position aus gestartet worden, hätte kein Zweifel bestanden, dass die Chinesen als Sieger daraus hervorgegangen wären. Die Shenzhou Fünf hatte sich der Rockhopper bereits auf fünf Lichtminuten genähert, eine minimale Distanz angesichts der weiten, leeren Lichtstunden jenseits des Kuiper-Gürtels. Kurz vor dem Ziel würden sich beide Schiffe noch viel näher kommen.

»Du kannst dir gerne auch noch den Rest anhören«, sagte Bella.

»Ich verzichte. Spricht immer nur dieser junge Bursche oder manchmal auch ein anderer?«

»Nur Wang«, sagte Bella. »Vielleicht ist er der Einzige, dem Beijing genügend vertraut, um mit uns zu kommunizieren. Wir wissen immer noch nicht genau, wie viele Personen sich an Bord dieses Dings befinden. Die Chinesen tun so, als wären es ein paar Dutzend, aber das könnte eine Übertreibung sein.«

»Spielt sowieso keine Rolle. Wir brauchen nur einen, der unsere Antwort versteht.«

»Bis jetzt hat noch niemand über eine Antwort diskutiert«, sagte Bella. »Es ist nicht unsere Entscheidung, wer auf Janus herumkriechen wird.«

»Das ist der Punkt – wir müssen gar nichts entscheiden. Die VWE haben für uns entschieden. Sie haben uns den Auftrag erteilt.«

»Hör auf, Craig.« Bella sah ihn streng an, um das Pokergesicht des Mannes zu knacken, der die Shalbatana-Bohrung in den Griff bekommen hatte. »Du weißt genau, was das wirklich bedeutet.«

»Es bedeutet, dass Wang das Tor schießen wird.«

»Nein, es bedeutet, dass Powell in Niagara Falls seine Beziehungen hat spielen lassen. Er hat es praktisch selber zugegeben. Du weißt doch, wie gut er mit Inga de Jong steht.«

»DeepShaft hat einen Sitz im Sicherheitsrat«, sagte Schrope mit pedantisch langsamer Betonung. »Es ist nicht gerade eine Neuigkeit, dass Powell in VWE-Angelegenheiten einigen Einfluss hat.«

»Ich glaube, es geht etwas tiefer«, sagte Bella. »Ich glaube, Powell wusste, welchen kommerziellen Gewinn Janus verspricht. Es mag sein, dass wir jetzt unter der Flagge der Gefälligkeit fliegen, aber glaubst du wirklich, dass das noch irgendjemand interessieren wird, wenn wir voll beladen mit Technologien zurückkehren, die die Welt verändern werden?«

»Also kriegen auch wir ein Stück von der großen Torte ab.« Schrope zuckte gekonnt lässig die Achseln. »Falls du es vergessen hast: Es ist eine Torte, die sich als tödlich erweisen könnte. Wir gehen hier ein großes Risiko ein. Ich schlage vor, dass du die gierigen Finger in eine andere Richtung ausstreckst.«

»Ich strecke keine …« Bella sprach nicht weiter, da sie gegen Schrope nicht den Kürzeren ziehen wollte. Er war ihr untergeordnet, also war sie befugt, ihn zurechtzustutzen, aber irgendetwas hielt sie immer wieder davon ab. Schrope hatte gute politische Verbindungen in der Firma, die bis zu Powell Cagan reichten. Nach der guten Arbeit, die er in Shalbatana geleistet hatte, war Schrope trotz seiner vielen Feinde der neue Stern am Konzernhimmel.

Auch Bella hatte Verbindungen zu Cagan, aber ihre waren anderer Art. Vielleicht arbeiteten sie sogar gegen sie. Vor der Rockhopper – sogar noch vor Garrison – war sie Cagans Liebling gewesen. Sie hatte gegen viele Türen gedrückt, aber Cagan hatte dafür gesorgt, dass sie sich für sie öffneten. Er hatte ihr zu einem schnellen Aufstieg in der Organisation verholfen, schneller, als es ihr nur mit Geschick oder Ehrgeiz möglich gewesen wäre – woran es Bella keineswegs mangelte. Danach hatte sie geglaubt, dass sich die Sache damit erledigt hätte, dass sie niemals den Preis dafür würde zahlen müssen.

Nun wusste sie, dass alles seinen Preis hatte. Schöne Dinge gab es nie umsonst, vor allem nicht, wenn Männer wie Powell Cagan im Spiel waren.

Für ihn war sie mehr gewesen als nur ein talentierter Schützling. Er hatte Bella in eine sexuelle Beziehung gedrängt, von der sie in ihrer Naivität gedacht hatte – noch im Alter von dreißig Jahren –, dass das Ganze eine ernste Sache war. Cagan war zweiundzwanzig Jahre älter als sie und ein ausgesprochen reicher Mann. Ein Jahr lang hatte sie am Glanz seiner Luxuswelt teilgehabt, einschließlich der Privatjets und Privatinseln. Dann war Cagans rastloser Blick auf eine jüngere Frau gefallen, und Bella war ohne Vorwarnung von der Erde wegbefördert worden. Eines Tages hatte der Privatjet sie nicht zu einer Insel, sondern zu einem Startkomplex gebracht, und das war es dann gewesen.

Bella befand sich im Orbit, bevor ihr bewusst wurde, was geschehen war. Die Beförderung war ein Geniestreich – genau das, wofür sie die ganze Zeit gearbeitet hatte, und für Cagan die eleganteste Methode, sie ohne die geringsten Schuldgefühle loszuwerden.

Damals war sie viel zu benommen gewesen, um Hass oder Kummer zu verspüren. Stattdessen hatte sie sich geschämt, dass sie die Regeln des Spiels nicht begriffen hatte, die für alle anderen so kinderleicht und eindeutig waren. Sie hatte nie richtig verstanden, warum sie die Einzige gewesen war, die nicht von Anfang an erkannt hatte, wie diese Sache enden würde – enden musste.

Andere Männer mochten Probleme damit haben, dass eine verschmähte Geliebte weiter in der gleichen Firma arbeitete, aber dazu war Cagans Fähigkeit zur Reue nicht genügend ausgeprägt. Wenn sie miteinander sprachen, schien er sich nicht die leisesten Sorgen wegen ihrer Vergangenheit zu machen. Gelegentlich spielte er sogar mit einem nostalgischen Glitzern in den Augen auf ihre gemeinsame Zeit an, und wahrscheinlich ging er sogar davon aus, dass Bella ihre Liaison durch die gleiche rosarote Brille betrachtete – als wäre ihre Trennung unter würdigen Umständen im gegenseitigen Einvernehmen erfolgt.

Powell Cagan zu verlieren war für sie nicht das Ende des Lebens gewesen. Bella lernte Garrison nur wenig später kennen, und ihre paar gemeinsamen Jahre waren eine gute Zeit gewesen – bis kurz vor dem bitteren Ende. Garrison behielt sie im Herzen; für Cagan empfand sie nichts, außer leichter Verachtung. Sie hatte sich damals geschworen, dass ihre Gefühle niemals ihre professionelle Beziehung beeinträchtigen sollten. Der Vorstandsvorsitzende war eine abstrakte Gestalt, die nichts mit dem Mann gemeinsam hatte, der sie so eiskalt entsorgt hatte. Das hatte viele Jahre lang gut funktioniert. Das Kommando über die Rockhopper ermöglichte ihr eine gewisse Unabhängigkeit von der Kontrolle durch die Firma, aber nun hatte Janus alles verändert. Schon die VWE-Angelegenheit war ihr viel zu viel.

Schrope war an Bord versetzt worden, lange bevor Janus die ersten Schlagzeilen gemacht hatte, aber Bella hatte von Anfang an Zweifel bezüglich der wahren Gründe für seine Rotation gehabt. Selbst wenn Cagan gar nicht viel an Bella lag, in welcher Hinsicht auch immer, mochte es sein, dass er sich etwas Besseres für seinen neuen Schützling wünschte, und die Stellung des Captains stand keineswegs außer Frage. Mit seinen Beziehungen konnte Schrope ihr das Leben sehr schwer machen, falls er es wollte. Wenn sie es sich in den Kopf setzte, ihn zu verteidigen, wie sie es mit Svetlana gemacht hatte, wollte sie damit nicht nur andere, sondern vor allem sich selbst überzeugen.

Bei Schrope hatte sie immer das Gefühl, dass er sie dazu drängen wollte, etwas zu sagen, was sie später bereuen würde – etwas, das er vor einem Untersuchungsausschuss gegen sie verwenden konnte. Deshalb biss sie sich immer wieder auf die Zunge, wenn sie mit ihm sprach.

So viele Dinge waren besser gewesen, bevor Jim Chisholm krank geworden war. Wenn sie jetzt kurz davor stand, wegen Schrope an die Decke zu gehen, stellte sie sich jedes Mal Jim vor, wie er neben ihr saß und ihr einen warnenden Blick zuwarf.

»Was ich damit sagen wollte«, erwiderte sie so freundlich, wie es ihr möglich war. »Warum haben die Chinesen sich kein eigenes Stück von der Torte verdient?«

»Es ist unsere Torte«, sagte Schrope.

»Aber warum dürfen nur die VWE über Janus entscheiden? Beim letzten Stand der Dinge war Janus ein außerirdisches Artefakt. Vielleicht ist mir eine Zeile im Kleingedruckten entgangen, aber ich glaube nicht, dass irgendwo in der Verfassung steht, dass Inga und ihren Kumpels automatisch das Verwertungsrecht zusteht.«

»Wenn die Chinesen damit ein Problem haben, hätten sie darauf achten müssen, nicht aus dem Club geworfen zu werden, weil sie mit Dingen herumgespielt haben, mit denen sie nicht umgehen konnten.« Er meinte es völlig ernst. Trotz des Drucks der anderen Wirtschaftseinheiten hatten die Chinesen ihre Nanotechnik-Experimente fortgesetzt, und irgendwann war ihnen die Sache um die Ohren geflogen. Während eine glitzernde graue Masse die Hälfte von Nanjing aufgefressen hatte, war China aus den VWE ausgeschlossen worden.

Bis heute hielten sich Sabotagegerüchte, dass Agenten jener Industriekonzerne, die die Welt frei von Nanotechnik halten wollten, das Institut in Nanjing infiltriert und für eine Panne in den Replikatoren gesorgt hatten. Niemand glaubte ernsthaft an diese Version, aber Bella konnte trotzdem nicht das Gefühl abschütteln, dass die Chinesen auf subtile Weise hereingelegt worden waren. Obwohl sie nicht zwangsläufig alles billigte, was sie getan hatten (und was sie weiterhin taten, ohne Kontrolle durch die VWE), konnte sie es ihnen nicht verdenken, dass auch sie sich Janus aus der Nähe ansehen wollten.

Es kam ihr einfach nur menschlich vor.

»Craig«, sagte sie, »wenn mit ihrem Schiff nichts schiefgeht, werden sie dabei sein, ob es uns gefällt oder nicht. Da dieser Fall sowieso eintreten wird, sollten wir zumindest über die Möglichkeit einer Kooperation nachdenken.«

»Die beste Kooperation wäre, wenn sie sich möglichst weit von uns fernhalten«, sagte Schrope, »oder muss ich dich ausdrücklich an die Sperrzone erinnern?«

»Sie hat einen Durchmesser von einer Lichtsekunde«, sagte Bella verzweifelt. »Das ist eine juristische Abstraktion, die niemand wirklich ernst nimmt.«

»Trotzdem ist es eine klare Grenze. Sobald sie sie überschreiten …«

»Was dann?« Plötzlich hatte sie ein sehr unangenehmes Gefühl.

»Sind wir zu einer rabiaten Reaktion befugt. Du weißt sehr genau, dass wir dazu in der Lage sind.«

 

Am vierzehnten Tag, eine Woche vor dem Janus-Rendez-vous, erschien Powell Cagans Gesicht auf Bellas Flextop. Sie konnte nicht erkennen, von wo aus der Vorstandsvorsitzende anrief; alles war in ein intensiv weißes, herzzerreißendes Licht getaucht, das die Farben des Tages verblassen ließ. Er saß draußen an einem weißen Tisch auf einer Veranda mit weißen Wänden. Die Wipfel bläulich-grüner Bäume ragten über die Wand hinaus, und in der Ferne lagen trockene, baumlose Berge wie ausgebleichte Papierfetzen in der Sonne.

»Bella«, sagte Cagan mit schauspielerischer Ruhe, »verzeih mir die Störung, aber diese Sache halte ich für zu wichtig, um sie dir in einem nüchternen Text zu übermitteln. Falls du nicht allein bist, möchte ich vorschlagen, dass du deine Besucher bittest, dich allein zu lassen. Du solltest dafür sorgen, dass nur du diese Nachricht zu Gesicht bekommst.« Er breitete die Hände aus und führte sie wieder zusammen, als wollte er ihr Zeit geben, die Aufzeichnung anzuhalten, aber sie befand sich wie gewünscht ohne weitere Anwesende in ihrem Quartier. »Ich werde fortfahren, sobald du einen Stimmbefehl erteilst.«

»Sprich weiter, Powell«, flüsterte sie.

»Was ich dir mitzuteilen habe, sind nicht unbedingt gute Nachrichten«, sagte Cagan. Im gnadenlosen Licht der Mittagssonne wies seine Haut die gleiche ledrige Struktur wie die Oberfläche des Flextops auf. Die Rötung durch den Sonnenbrand war die einzige echte Farbe im Bild. »Aber ich werde mit der guten Neuigkeit anfangen. Einhundertzwanzig Stunden Janus-Erkundung sind immer noch machbar, vorausgesetzt, du wirfst auf dem Rückflug die noch vorhandenen Massentreiber ab. Du wirst etwas zu schnell sein, um in einen Orbit um die Erde oder den Mars einschwenken zu können, aber das wird kein Problem sein. Wir können deine Besatzung mit Shuttles von der Rockhopper abholen und den Kahn dann mit Schleppern wiederauftanken, um ihn abzubremsen. Aber wir hätten nicht das geringste Problem damit, die Rockhopper anschließend zu versenken. Der alte Kahn hat weit mehr als erwartet geleistet, wenn er euch nach Hause gebracht hat.«

Ein Gedanke bildete sich in ihrem Kopf: Warum erzählst du mir das, Powell? Das weiß ich doch längst.

»Also musst du dir deswegen keinerlei Sorgen machen«, sagte er mit dem Ansatz eines Lächelns. Plötzlich wurde sein Tonfall ernst. »Aber du solltest dir Sorgen um Svetlana Barseghian machen.«

Bella kniff die Augen zusammen, als er den Namen der Frau aussprach.

»Ich weiß nicht, wie ich es vorsichtig ausdrücken soll«, sagte Powell, »aber durch diese Sache mit den Druckmessungen ist eine ziemlich üble Sache an die Oberfläche geschwappt. Ich weiß, dass Barseghian nur gute Leistungen vorzuweisen hat, aber trotzdem passiert hier etwas Beunruhigendes. Wir glauben, dass sie vielleicht Schwierigkeiten mit einer Art …« Cagan zögerte, als würde er nach den richtigen Worten suchen. Doch Bella kannte ihn viel zu gut. An Powell Cagan gab es nichts Spontanes, das nicht im Drehbuch stand.

Schließlich fand er die Worte, nach denen er scheinbar gesucht hatte. »Es handelt sich um eine stressbedingte Geschichte, eine Krise, die durch den Druck der Janus-Mission ausgelöst wurde. Das alles hat nach dem Tod von Mike Takahashi angefangen, nicht wahr? Der Tod eines Kollegen …« Er korrigierte sich. »Der äußerst unangenehme Tod eines Kollegen, ein Tod, der unvermeidlich mit der eigentlichen Mission im Zusammenhang steht. Jeder von uns geht auf seine Art mit solchen Dingen um, Bella. Die meisten von uns reißen sich zusammen und machen weiter, und das tun wir tagein, tagaus, Jahr für Jahr, während immer wieder Menschen sterben. Aber für manche von uns kommt irgendwann ein Tag, an dem wir es nicht mehr schaffen, uns zusammenzureißen. Dann zerbrechen wir. Ich fürchte, genau das ist mit Svetlana Barseghian geschehen.«

»Nein«, sagte Bella, als könnte ein Widerspruch in irgendeiner Weise die Nachricht beeinflussen, die Cagan viele Stunden zuvor aufgezeichnet hatte.

»Dieser Todesfall hat ihr offenbar sehr schwer zugesetzt. Sie hat die Nerven verloren, und sie fühlt sich nicht mehr in der Lage, den Rest der Mission durchzustehen. Aber sie kann auch nicht mehr zurück. Genauso wenig würde sie es schaffen, den wahren Grund ihres Problems zuzugeben. Aber der menschliche Geist war schon immer sehr erfindungsreich. In einer psychischen Zwangslage findet er Mittel und Wege.«

Cagan lehnte sich zurück, und für einen Moment sah Bella den Schatten eines leidgeprüften Ausdrucks über sein Gesicht ziehen, als seine Züge unter dem schweren psychischen Stress vorübergehend entgleisten.

»Das ist keine einfache Sache«, sagte er. »Ich will damit auf gar keinen Fall andeuten, dass irgendetwas davon vorsätzlich und bewusst geplant ist, aber die Beweise auf unserer Seite lassen keinen Zweifel zu. Barseghians Version der Ereignisse entspricht nicht der Wahrheit. Die Daten, die sie angeblich aus dem Zwischenspeicher geholt hat, sind Daten, die sie selbst gefälscht hat.«

»Nein«, sagte Bella erneut.

»Für sie war es überlebenswichtig, eine Möglichkeit zu finden, deine Entschlossenheit zur Durchführung der Mission ins Wanken zu bringen«, fuhr Powell unerbittlich fort, »aber das ließ sich für sie nur mit einer Lüge bewerkstelligen. Wie ich bereits sagte, glaube ich nicht einmal daran, dass sie sich ihres Motivs bewusst ist. Im Rahmen ihrer Selbsttäuschung meint sie es wahrscheinlich völlig ehrlich. Aber es bleibt die unumstößliche Tatsache, dass sie nicht mehr vertrauenswürdig genug ist, um ihre Pflichten erfüllen zu können. In sieben Tagen werdet ihr Janus erreichen, Bella. Dort operiert ihr nicht nur unter der Ägide von DeepShaft, sondern auch als diplomatische Gesandte der Vereinten Wirtschaftseinheiten. Ihr werdet im Namen der gesamten Menschheit auftreten. Ihr dürft euch keine Irrtümer und keine Fehlurteile erlauben. Es ist von größter Bedeutung, dass du das Ziel mit einer Besatzung erreichst, auf die du dich in jeder Beziehung verlassen kannst. Das bedeutet, dass du sofort handeln musst. Du darfst nicht warten, bis Barseghian einen weiteren Fehler begeht. Du musst sie jetzt von ihrem Posten entfernen, bevor alles noch schlimmer wird. Du musst es schnell und sauber erledigen, damit du genug Zeit hast, vor eurer Ankunft eine funktionierende Personalstruktur – und die Moral – wiederherzustellen.«

Cagan schüttelte bedauernd den Kopf. »Wenn es eine Möglichkeit gegeben hätte, es zu vermeiden, dir diese Nachricht zu schicken, hätte ich sie sofort genutzt. Ich habe auch Craig Schrope über das Problem informiert. Er ist vollständig eingeweiht. Aber ich weiß, dass es für dich nicht einfach sein wird. Ich weiß, dass du mit Barseghian befreundet bist, dass du sie magst und ihr vertraust. Ich kann nur hoffen, dass die notwendigen Maßnahmen diese Freundschaft nicht zerstören.«

Damit war Cagans Botschaft zu Ende, und eine Weile blieb der Flextop stumm. Dann erschien das Symbol für einen eingehenden Anruf, und Craig Schropes Gesicht füllte die Bildfläche aus.

»Bella«, sagte er. »Du hast eine Nachricht von Powell erhalten?«

»Ja«, sagte sie immer noch völlig benommen.

»Dann müssen wir miteinander reden.«

 

Er kam in ihr Büro. Sie saßen sich gegenüber und sahen sich an, während sie darauf warteten, dass der andere zuerst sprach. Die Fische bildeten ein besorgtes Publikum, scharten sich zusammen und schossen mit hyperaktiver Aufmerksamkeit durch das Aquarium. Normalerweise wären sie längst gefüttert worden, aber der Stress der vergangenen Tage hatte Bella völlig aus ihrem Zeitplan geworfen. Sie vernachlässigte ihre Fische und sich selbst. Sie spürte, wie sich in ihr ein Mahlstrom der Anspannung ausbildete und wie ein magnetischer Sturm von ihr ausstrahlte.

»Ich werde es nicht machen«, sagte Bella kategorisch. »Ich werde Svetlana nicht über die Klinge springen lassen, nur weil sie Bedenken geäußert hat, die Powell nicht in den Kram passen.«

»Niemand wird irgendwen über die Klinge springen lassen. Wir werden ausschließlich die Fakten zusammentragen. Zuerst die Tatsachen, dann das Urteil. So habe ich es auch in Shalbatana gemacht.«

»Wir sind nicht in Shalbatana, Craig. Wir reden hier über meine beste Freundin.«

»Auch beste Freundinnen können auf die schiefe Bahn geraten.«

»Nicht Svieta. Ich habe nie einen Menschen kennengelernt, bei dem diese Gefahr geringer wäre.«

»Das spielt keine Rolle. Ich habe schon genug psychologische Gutachten gesehen, um zu wissen, dass solche Dinge aus heiterem Himmel geschehen können. Unter extremer Belastung können Menschen sehr leicht zusammenbrechen und ausbrennen.« Er sah sie aufmerksam an. »Das kann mit den besten Leuten passieren.«

Bella errötete. Sie hatte keine Ahnung gehabt, dass Craig etwas über ihren eigenen Aussetzer wusste. Sie stellte sich Jim Chisholm vor, wie er ihr gegenüber saß und sie drängte, nichts Überstürztes zu sagen.

»Ich hatte Probleme, aber niemand hat mir vorgeworfen, Daten gefälscht zu haben.«

»Ich weiß. Ich will damit nur sagen, dass niemand immun ist.« Er ließ seinen Kugelschreiber klicken und klopfte damit auf den Tisch. »Also gut, ich habe einen Plan. Wir müssen uns diese Zahlen persönlich ansehen, unabhängig von Svetlana. Das bedeutet, dass wir jemanden aus ihrem Team finden müssen, der mit uns kooperiert.«

»Wie bitte?«

»Jemanden, der kompetent ist, der aber keine persönliche Beziehung zu Svetlana hat. Ich denke an jemanden, der während der letzten Rotation an Bord gekommen ist.«

»Warum? Was hast du vor?«

»Ich denke an Meredith Bagley. Sie ist noch ziemlich jung. Hat in der Firma angefangen. Sie kennt sich mit dem Schiffsnetz aus. Sie kann uns diese Daten besorgen. Dann haben wir die Fakten, die wir brauchen.«

Bella war verwirrt. »Ich will zuerst mit Svieta reden.«

Er sah sie mit bedauerndem Ausdruck an. »Das wäre zu diesem Zeitpunkt ein schwerer Fehler. Sie ist viel zu intelligent, viel zu erfindungsreich. Rede mir ihr, wenn du es für absolut erforderlich hältst … aber ich rate dringend davon ab.«

»Ich weiß nicht genau, warum ich glaube, dich daran erinnern zu müssen, Craig, aber ich bin es, die das Kommando über dieses Schiff führt.«

»Daran besteht kein Zweifel.« Plötzlich sah er sie beschämt an. »Es tut mir leid. Ich erwische mich selber immer wieder dabei, dass ich den Eindruck erwecke, als würde ich versuchen, den Laden zu übernehmen. Das ist unverschämt und unverzeihlich. Auf dem Mars gab man mir die Zügel in die Hand, sodass ich tun konnte, was ich wollte. Der Einzige, vor dem ich mich verantworten musste, war Powell Cagan. Es fällt mir schwer, mit dieser Gewohnheit zu brechen.«

»Ich verstehe«, sagte Bella, »aber ich empfehle dir, daran zu arbeiten.«

»Das werde ich tun – und es tut mir aufrichtig leid. Ich will nur das Beste für DeepShaft.«

Bella brachte ein Lächeln zustande. »Jeder weiß, dass du auf dem Mars gute Arbeit geleistet hast. Deshalb war ich froh darüber, dich in mein Team aufnehmen zu können. Aber hier geht es um eine Frau, die ich seit vielen Jahren kenne und der ich vertraue. Ich werde sie nicht wie eine gewöhnliche Kriminelle behandeln, und ich werde nicht zulassen, dass sie öffentlich gedemütigt wird.«

»Ich werde mich nachhaltig dafür einsetzen, dass die ganze Angelegenheit mit einem Höchstmaß an Diskretion durchgeführt wird.« Er sah sie aufmunternd an. »Dürfte ich kurz deinen Flextop benutzen?«

Bella zögerte eine Sekunde, dann schob sie ihm den Schirm über den Schreibtisch zu. Schrope sah sich den Tagesdienstplan an und vergewisserte sich, dass Meredith Bagley wach war. Er schickte das Anrufsignal ab und trommelte mit den Fingern auf der Tischplatte, während er auf ihre Antwort wartete.

»Meredith hier«, sagte sie fröhlich, als hätte sie jemand anderen erwartet. »Was kann ich …?«

Bella beugte sich vor, sodass sie von der Kamera des Flextops erfasst wurde. »Meredith, könntest du sofort in mein Büro kommen?«

»Und sprich bitte mit niemandem, bis du hier bist«, fügte Schrope hinzu.

Sie brauchte nur zwei Minuten. Ihre Körperhaltung drückte Ängstlichkeit aus, als würde sie mit einem Tadel rechnen. Bagley war die Jüngste in Svetlanas Flugkontrollteam. Sie war ehrgeizig, aber unsicher und noch nicht vollständig in das soziale Netzwerk an Bord des Schiffes eingebunden. Ihre Finger spielten nervös mit dem dichten schwarzen Haar, ihre Augen zuckten zwischen Bella und Schrope hin und her.

»Entspann dich«, sagte Bella, »es besteht kein Anlass zur Sorge. Ich bin sogar mehr als zufrieden mit deinen Leistungen.«

»Wir möchten, dass du etwas für uns tust«, sagte Schrope. »Es ist ein einfacher Auftrag, und er wird nicht viel Zeit beanspruchen. Die Wagen fahren seit heute wieder, nicht wahr?«

»Wir sind noch mit ein paar Feinjustierungen …«, begann Bagley.

»Kein Problem. Wir werden uns nicht beschweren, wenn die Fahrt etwas holprig wird.« Schrope beugte sich vor und sah sich noch einmal den Dienstplan an, dann blickte er zu Bella auf. »Eigentlich müsste sie jetzt schlafen. Das ist eine gute Voraussetzung.«

Bagley sah die beiden an. Sie fragte nicht, wer »sie« war, aber sie schien einen vagen Verdacht zu haben.

Sie verließen Bellas Büro und machten sich auf den Weg zum nächsten Terminal. Dort stand bereits ein Wagen, aber Schrope rief zunächst eine Darstellung der Positionen der anderen Wagen ab.

»Jemand ist im Schwitzkasten«, sagte er. »Ich hatte gehofft, dass wir dort allein sein könnten.« Mit seinem Flextop versuchte er ein Bild von einer Webcam zu bekommen, aber die Verbindungen zum Schwitzkasten waren getrennt.

»Ich könnte anrufen und die Betreffenden auffordern, sich zu entfernen«, sagte Bella.

»Ich halte es für besser, wenn wir dort unverhofft auftauchen«, sagte Schrope. »Aber das ist nur ein Vorschlag«, fügte er nach einer kurzen Pause hinzu.

Sie stiegen in den dreisitzigen Wagen, und Schrope tippte das Ziel ein. Der Wagen fuhr langsamer als sonst am Rückgrat hinunter und bewegte sich nur noch im Kriechtempo, als sie an der Stelle vorbeikamen, wo es zu den schwersten Schäden gekommen war. Dann beschleunigte er wieder, passierte die Trümmer der Werkstatt und versank zwischen den vier gewaltigen Zylindern der Treibstofftanks.

Bagley saß auf dem Rücksitz der tropfenförmigen Kabine. Während der ganzen Fahrt sagte sie kein einziges Wort.

Wie erwartet stand bereits ein anderer Wagen vor dem Eingang zum Schwitzkasten. Bellas Wagen verlangsamte und schob den anderen Wagen ein Stück vor, bis ihr Gefährt genau vor der Luftschleuse anhielt und sie aussteigen konnten. Hier waren sie dem Heck der Rockhopper einen Kilometer näher als in Bellas Büro, und zwischen ihnen und dem Triebwerk befand sich spürbar weniger Schockdämpfung. Der Bodenbelag aus Titan vibrierte, als wären nur weniger Meter unter ihnen schwere Bohrarbeiten im Gange. Wieder einmal hatte Bella das deutliche Gefühl, dass die Maschinen stark beansprucht wurden.

Schrope öffnete die innere Tür der Schleusenkammer und stellte fest, dass es im Schwitzkasten bereits hell und warm war. Zwei Gestalten drehten sich überrascht um. Bella erkannte sie: Robert Ungless und Gabriela Ramos. Sie waren schon seit langem an Bord tätig. Im Ernstfall würden sie für Svetlana Partei ergreifen.

»Robert, Gabriela«, begrüßte sie die beiden. »Es tut mir leid, aber ich muss euch bitten, den Schwitzkasten für ein paar Minuten zu verlassen.«

Sie tauschten einen Blick, in dem offensichtliche Empörung lag. Ihre Ausrüstung war durch Glasfaserkabel mit Anschlüssen in den Wänden verbunden. Die Flextops auf dem Boden und den Klapptischen zeigten verwirrende dreidimensionale Treibstoffflussdiagramme, deren Komplexität Escher Kopfschmerzen bereitet hätte.

»Es wird nur ein paar Minuten dauern«, sagte Bella.

»Ihr habt einen Befehl erhalten«, sagte Schrope. »Unterbrecht eure Arbeit und geht. Draußen steht ein Wagen. Dort könnt ihr warten, bis wir euch wieder hereinrufen.«

Ungless und Ramos wussten, dass es sinnlos war, Einwände zu erheben. Sie ließen ihre angeschlossene Ausrüstung zurück und schoben sich an Bella vorbei in die Luftschleuse. Als sich die innere Tür geschlossen hatte, sagte sie zu Schrope: »Ich glaube nicht, dass sie warten werden. Ich glaube, sie werden zum Habitat fahren und Svieta wecken.«

»Das wäre die Missachtung eines Befehls.«

»Sie werden behaupten, etwas anderes verstanden zu haben. Dass sie nicht wussten, dass sie verpflichtet sind, Befehle von dir entgegenzunehmen.«

Schrope wandte sich mit einem Fingerschnippen an Bagley. »Ich brauche die Daten der Treibstoffdruckwerte im Zwischenspeicher. Das dürfte für dich doch keine Schwierigkeit sein, oder?«

»Nein, kein Problem«, sagte Bagley misstrauisch.

»Dann mach dich an die Arbeit. Lade die Daten in eine saubere Partition deines Flextops, dann erteile dem Captain und mir die ausschließliche Lesebefugnis.«

»Schon dabei«, sagte Bagley und hantierte mit dem Datenkabel ihres Flextops. Bella war froh, dass die Frau wusste, was sie zu tun hatte. Sie wollte diese schmutzige Sache so schnell wie möglich hinter sich bringen.

Für einen Moment spürte sie, wie sich das Rumpeln im Boden verstärkte, eine unbehagliche Erinnerung an die Instabilitäten des Triebwerks, die gelegentlich das Schiff erschütterten. »Was war das?«

»Das war der Wagen, der von der Schleuse abgefahren ist«, sagte Schrope. »Sie sind auf dem Weg nach oben.«

 

Svetlana spritzte sich Wasser ins Gesicht, machte eine Katzenwäsche und schlüpfte in ihre Jogginghose. Sie legte ihren BH an und griff nach einem frischen T-Shirt. Oben auf dem Stapel lag eins in schlammbrauner Farbe mit einem billigen Druck des Rockhopper-Maskottchens auf der Vorderseite, dem gezähnten, grinsenden, mit einem Bohrer bewaffneten Pinguin, der inzwischen von der Außenhülle des Schiffs entfernt worden war. Ihre Hand zögerte und wollte bereits nach einem anderen T-Shirt greifen. Doch dann murmelte sie »Scheiß drauf« und zog doch den Pinguin an. Sie brachte ihr Haar in Form und verließ ihr Quartier, um Platz für Parry zu machen, damit auch er sich waschen und anziehen konnte.

Ungless wartete immer noch draußen. »Vor fünf Minuten, sagtest du?«, fragte sie.

»Inzwischen sind es eher sechs oder sieben«, antwortete er.

»Bist du mit dem letzten Wagen raufgefahren?«

»Nein«, sagte Ungless, »da unten ist noch ein zweiter.«

Svetlana joggte die Krümmung des Korridors entlang, bis sie ein Sichtfenster erreichte, das unter den derzeitigen Verhältnissen in den Boden eingelassen war. Sie schob den Blendfilter zurück und legte eine Scheibe aus abgewetztem und schartigem Glas frei. Dann blickte sie am Rückgrat des Schiffes hinunter. Ein Wagen kam gerade die Schiene herauf.

Parry ging neben ihr in die Hocke. Er hatte bereits die Mütze, sein Markenzeichen, aufgesetzt. »Bist du bereit, mir zu erklären, was los ist?«

»Was glaubst du?«, gab sie abfällig zurück. »Wir haben uns Bella anvertraut. Das ist die Reaktion.«

»Ich dachte, du vertraust Bella.«

»Ihr vertraue ich. Schrope vertraue ich nicht. Und Schrope hat die Oberhand.«

Sie stand auf und lief barfuß – sie hatte sich nicht einmal die Zeit genommen, ihre Joggingschuhe anzuziehen – weiter den Korridor entlang. Parry folgte ihr und zog sich im Gehen ein ausgefranstes altes Jeanshemd über.

»Das könnte sonst was bedeuten«, sagte er.

»Hinter meinem Rücken? Das glaube ich kaum.«

»Svieta, könntest du bitte damit aufhören? Du benimmst dich, als hätte sich die Angelegenheit zu einer Meuterei ausgewachsen.«

»Meine Fachkompetenz wurde in Frage gestellt. Angezweifelt. Mehr muss ich nicht wissen.«

Der Wagen traf soeben ein, als sie den Terminal erreichten. Sonst wartete niemand an der Luftschleuse. Svetlana baute sich vor der inneren Tür auf, die Arme verschränkt, als wäre sie es, die eine Rechtfertigung verlangen durfte. Durch das kleine Fenster war zu sehen, wie sich der Wagen in Position brachte. Leute stiegen aus und drängten sich in der Schleuse. Da kein Druck ausgeglichen werden musste, konnte nach dem Schließen der äußeren Tür sofort die innere geöffnet werden.

»Svieta«, sagte Bella, als sich ihre Blicke trafen. Sie blinzelte nicht einmal, das musste man ihr lassen.

»Bella. Schön, dich zu sehen. Sollte ich erfahren, wo du warst?«

»Du weißt, wo wir waren«, sagte Craig Schrope. »Deswegen bist du hier. Ich vermute, Ungless und Ramos haben uns an dich verpfiffen.«

»Niemand hat hier irgendwen verpfiffen. Und wenn ich erfahre, dass du Robert oder Gabriela auch nur schief angesehen hast …«

»Was dann?« Er lächelte amüsiert. »Na los, ich will es hören. Was wirst du dann tun?«

»Schon gut«, sagte Bella und schob sich zwischen Svetlana und Schrope. »Wir wollen uns zivilisiert verhalten.«

»Kann ich jetzt gehen?«, fragte Meredith Bagley vorsichtig.

»Ja«, sagte Bella. »Vielen Dank, Meredith.«

»Was immer hier los ist, du hättest sie nicht hineinziehen sollen«, sagte Svetlana. »Du hättest sie nicht gegen mich verwenden sollen.«

»Ich habe sie in nichts hineingezogen. Ich habe sie nur gebeten, etwas für mich zu erledigen.« Bella sah sich um. »Ich schlage vor, dass wir uns in meinem Büro weiter unterhalten.«

»Wir alle?«, fragte Parry.

»Nein, du nicht«, sagte Schrope. »Es ist eine Sache zwischen uns und Svetlana.«

»Dann ist es auch eine Sache zwischen euch und mir.«

Schrope bedachte ihn mit einem warnenden Blick. »Bring dich nicht in Schwierigkeiten, Boyce.«

»Sonst was?«, fragte Parry.

»Kommt«, sagte Bella. »In mein Büro. Auch Parry. Und wir alle sollten versuchen, uns wie Profis zu verhalten, einverstanden?«

In ihrem Büro saßen sie sich am Schreibtisch gegenüber – Bella und Schrope auf der einen Seite, Parry und Svetlana auf der anderen. Bella öffnete den Reißverschluss ihrer Jacke und zog ihren Flextop hervor. Sie legte ihn auf den Tisch und drehte ihn herum, damit Parry und Svetlana den Schirm sehen konnte.

»Ich glaube, du weißt, worum es geht, Svieta.«

»Ich habe eine recht gute Vorstellung.«

»Du bist mit einem Problem zu mir gekommen. Ich habe mir deine Argumente angehört und diesbezüglich eine Anfrage an die Zentrale gerichtet.«

»Und man hat dir eine Antwort geschickt, die nichts taugt.«

»So lautete dein Urteil. Deshalb habe ich entschieden, mir weitere Unterstützung von zu Hause zu holen.«

»Oh nein!«, sagte Svetlana bestürzt, als hätte soeben das Triebwerk für einen Moment ausgesetzt. »Du hast ihnen doch nicht etwa die Daten geschickt? Nach allem, was ich dir gesagt habe?«

»Was hätte ich sonst tun sollen?«

»Du hättest auf der Grundlage dieser Daten eine Entscheidung treffen können. Du hättest mir vertrauen können.«

»Und die bedeutendste Mission in der Geschichte der Weltraumfahrt einfach in den Wind schießen? Eine Mission im Auftrag der VWE? Ein Mission, auf deren Erfolg das gesamte Sonnensystem hofft? Eine Mission, die sich unter gar keinen Umständen wiederholen lässt? Entschuldige bitte, Svieta, aber das ist keine Entscheidung, die ich mal eben so treffen kann.«

»Ich fasse es nicht, dass du ihnen alles geschickt hast! Du hättest sonst was tun können, aber nicht …«

Bellas Stimme nahm einen schrilleren Klang an. »Ich habe auf der Grundlage dessen gehandelt, was du mir berichtet hast. Ich hätte es genauso gut ignorieren können.«

»Was haben sie geantwortet«, fragte Parry, der weiterhin den Anschein von Ruhe wahrte.

»Sie sagten …« Doch Bella fühlte sich auf einmal nicht mehr imstande, weiterzusprechen.

Craig Schrope tippte mit einem Kugelschreiber auf den Flextop. »Sie sagten, dass die Daten gefälscht wurden.«

»Das hat Svieta von Anfang an behauptet«, sagte Parry.

»Nein«, widersprach Schrope. »Sie sagten, dass Svetlana die Beweise gefälscht hat. Es hat nie einen Beweis gegeben.«

»Das kann doch nicht wahr sein!«, sagte Parry und sah Svetlana hilfesuchend an. »Oder?«

»Jetzt ist es wahr«, sagte sie.

»Hier kannst du es dir ansehen«, sagte Schrope und lenkte Parrys Aufmerksamkeit auf den Flextop. »Es gibt keinen Unterschied zwischen den Druckwerten. Die Informationen in den Puffern sind identisch mit denen im Schiffsnetz.«

»Aber ich habe es doch selbst gesehen!«, sagte Parry.

»Du hast … irgendetwas gesehen«, erwiderte Schrope. »Aber es war nicht das, wofür du es gehalten hast.«

»Bella hat es verpatzt«, sagte Svetlana. Sie fühlte sich ermattet und ausgelaugt. Sie wusste, dass es im Grunde gar keine Rolle mehr spielte, was sie sagte. »Bella hat es verpatzt, als sie ihnen die Daten aus dem Puffer geschickt hat.«

»Red keinen Unsinn«, sagte Schrope.

»Es muss ziemlich schwierig für sie gewesen sein, diese Zahlen zu manipulieren«, sagte Svetlana, »aber als ich feststellte, dass die zwei Datensätze unterschiedlich sind, blieb ihnen keine andere Wahl, als etwas zu tun. Und du hast ihnen den Hinweis gegeben, Bella. Du hast ihnen die Zahlen gezeigt. Du hast sie auf den Puffer aufmerksam gemacht.«

»Du glaubst, DeepShaft hat auch die Daten aus dem Zwischenspeicher manipuliert?«, fragte Bella.

»Wenn es ihnen wichtig genug war, haben sie eine Möglichkeit gefunden, es zu tun.«

»Das hat Hand und Fuß«, sagte Parry. »Wenn es von so entscheidender Bedeutung für sie ist …«

»Ich denke, es reicht jetzt«, sagte Schrope und ließ seinen Stift mit richterlicher Endgültigkeit klicken. »Ich weise dich darauf hin, Svetlana, dass DeepShaft bereits deine Suspendierung vom Dienst empfohlen hat. Wir hätten diese Empfehlung unverzüglich ausführen können, aber wir waren der Ansicht, dass wir deine Bedenken persönlich überprüfen sollten.«

»Verbindlichsten Dank!«

»Wir haben die Version von DeepShaft überprüft«, fuhr Schrope fort, »weil wir instinktiv dazu neigen, dir zu glauben, Svetlana. Aber du hast unser Vertrauen enttäuscht, Svetlana.«

»Wie furchtbar!«

»Seht ihr nicht, dass man sie hereingelegt hat?«, sagte Parry. »Sie hat nichts Unrechtes getan, Bella. Du solltest Svieta eigentlich besser kennen. Du weißt, dass sie dich niemals hintergehen würde.«

Bellas Unbehagen war offensichtlich. »Es tut mir leid, dass es so weit gekommen ist, aber die Beweise liegen auf dem Tisch.« Sie sah Svetlana bedauernd an. »Ich muss dich vom Dienst suspendieren, Svieta. Wenn ich es nicht tue, wäre das eine schwere Vernachlässigung meiner Pflicht als Kommandantin dieser Mission.«

»Du musst dich nicht für deine Entscheidungen rechtfertigen«, sagte Schrope.

»Halt die Klappe, Craig«, sagte Bella. »Das ist eine Sache zwischen Svieta und mir.«

»Tu es nicht«, sagte Svetlana. »Hör auf mich. Wenn du es nicht tust, werden wir alle sterben.«

»Tut mir leid. Mir bleibt keine andere Wahl.«

»Das ist das Todesurteil für uns alle.«

»Ich gebe dir mein Wort«, sagte Bella, »dass es eine gründliche Untersuchung geben wird, wenn wir wieder zu Hause sind. Falls die Firma dahintersteckt, werden wir die Beweise finden. Wir werden jemanden finden, der zum Reden bereit ist, der dich rehabilitiert.«

»Verstehst du es immer noch nicht?«, sagte Svetlana. »Wenn ich recht habe, werden wir nicht nach Hause zurückkehren!«

Bella schloss die Augen. »Wir kehren zurück«, sagte sie. »Was auch immer geschehen mag. Das ist ein Versprechen.«

 

»Du darfst mich deswegen nicht verfluchen«, sagte Bella, als sie allein waren. »Alles, nur nicht das.«

Sie sah Svetlana über den Schreibtisch an. Was sie in ihren Augen sah, war eher Fassungslosigkeit als der selbstgerechte Zorn, den sie erwartet hatte. »Dann tu es nicht«, sagte sie leise. »Wenn dir unsere Freundschaft noch etwas bedeutet, tu es nicht.«

»Ich kann nicht anders«, sagte Bella unglücklich. »Ich muss mich an die Beweise halten, und die sprechen gegen dich.« Bella blickte Svetlana in die Augen und versuchte die Sache irgendwie zum Abschluss zu bringen, auf eine Weise, die ihre Freundschaft vor dem Zerbrechen bewahrte. »Aber ich habe es ernst gemeint, als ich sagte, dass wir nach der Rückkehr …«

»Es wird keine Rückkehr geben.«

»Ich werde mit Ryan Axford reden«, sagte Bella. Ihre Miene hellte sich auf, als sie plötzlich eine Lösung sah. »Du hattest da draußen einen schlimmen Unfall. Wie ich gehört habe, hast du deine Arbeit wieder aufgenommen, bevor Ryan deine Entlassung unterschrieben hat. Eigentlich solltest du immer noch in der Krankenstation sein. Die letzten paar Tage hätten niemals geschehen dürfen. Es wäre für uns nicht allzu schwierig zu behaupten, dass sie niemals geschehen sind.« Sie wartete und hoffte, dass Svetlana einsah, wie genial ihr Vorschlag war.

Doch sie schüttelte nur trotzig den Kopf. »Mein Unfall hat damit nicht das Geringste zu tun. Das weißt du ganz genau. Warum willst du etwas anderes behaupten?«

»Ich versuche dir nur zu helfen.«

Zu Bellas Erstaunen blieb Svetlana völlig ruhig. »Wenn du mich von meinen Pflichten entbindest, änderst du damit nichts an der Tatsache, dass wir nicht genug Treibstoff für den Rückflug haben.«

»Ich bezweifle keine Sekunde, dass du davon überzeugt bist. Das Problem ist nur, dass ich nicht zulassen kann, dass du herumläufst und es jedem erzählst. Ich muss ein Schiff führen, Svieta. Ich habe eine Mission, die ich erfüllen muss. Der ganze verdammte Planet Erde schaut mir über die Schulter und wartet darauf, dass ich einen Fehler mache.«

»Du machst gerade einen Fehler.«

Bellas Zorn flammte auf, aber mit einer gewaltigen Willensanstrengung riss sie sich zusammen. »Wenn es nur so einfach wäre. Ich bin eine Frau von fünfundfünfzig Jahren, Svieta. Ich bin der Captain eines Bergbauraumschiffs von fünfzigtausend Tonnen. An Bord dieses Schiffes befinden sich einhundertfünfundvierzig Menschen …«

»Einhundertvierundvierzig«, sagte Svetlana eisig, »es sei denn, du willst Mike Takahashi immer noch mitrechnen.«

»Also einhundertvierundvierzig. Von denen deutlich weniger als zweiundsiebzig Frauen sind. Es sieht besser aus als je zuvor, Svieta, aber wir sind immer noch eine Minderheit. Und als Kommandantin dieses Schiffs darf ich es mir nicht für einen Moment erlauben, Nachsicht zu zeigen – und schon gar nicht gegenüber einer anderen Frau – ganz zu schweigen von einer engen Freundin.«

»Also willst du an mir ein Exempel statuieren, um zu demonstrieren, dass du genauso hart und dickköpfig wie ein Mann sein kannst?«

»Verschone mich mit solchen Moralpredigten, Svieta. An meiner Stelle würdest du genau das Gleiche tun.«

In Svetlanas Gesicht flackerte für einen winzigen Moment Zustimmung auf, eine unbedachte Reaktion, die bestätigte, dass Bella in diesem Punkt recht hatte. Aber dieser Blick sagte auch, dass die Sache dadurch nicht richtiger wurde.

»Bitte überleg es dir noch einmal, Bella. Gib mir Zeit, dir einen realen Beweis zu liefern. Erlaube mir, ein Loch in die Tanks zu bohren und einen Drucksensor anzubringen, um einen direkten Messwert zu erhalten.«

»Das kann ich nicht. Ich würde mir wünschen, dass ich dir glaube, aber ich kann es mir nicht leisten. Andererseits glaube ich auch nicht, dass du lügst. Ich glaube, es sind nicht mehr als …«

»Hirngespinste?«

»Ich bin schon einmal ausgebrannt, Svieta. Ich weiß, wie so etwas abläuft. Eben noch hat man tadellos funktioniert, und plötzlich liegt man am Boden. Dafür muss man sich nicht schämen. Dadurch wird man nicht zu einem schlechten Menschen.«

Bella hegte für einen Moment die Hoffnung, dass sie mit ihren Worten durchgedrungen war, dass Svetlana erkannt hatte, dass es ihr keineswegs Spaß machte, sondern sie nur tiefe Sorge um ihre Freundin empfand.

Dann sagte Svetlana: »Hier geht es gar nicht um dich und mich, nicht wahr? Hier geht es um Powell Cagan.«

»Wie bitte?«, fragte Bella mit leichtem Erstaunen.

»Wir alle wissen, was mit dir und Cagan los war, Bella. Wir alle wissen, dass du mit ihm gevögelt hast. Wir alle wissen, dass eure Beziehung keineswegs rein professionell ist.«

Bella spürte einen schmerzhaften Stich. In all den Jahren ihrer Freundschaft hatten sie nie über ihre Affäre mit Cagan gesprochen. Sie war fest davon überzeugt gewesen, dass Svieta nichts darüber wusste. Aber nun wurde ihr klar, dass es die ganze Zeit da gewesen war, wie eine Waffe, die nur darauf wartete, gezogen und eingesetzt zu werden.

»Das war vor fünfundzwanzig Jahren«, sagte sie, den Tränen nahe.

»Aber es ist nicht einfach, alte Gewohnheiten aufzugeben, nicht wahr? Auch wenn du nicht mehr mit ihm vögelst, muss Powell nur sagen, dass du springen sollst …«

»Bitte, sag nichts mehr. Ich will kein Wort mehr hören!«

»Nach all den Jahren kannst du immer noch nicht den Tatsachen ins Gesicht sehen.«

»Welchen Tatsachen?«

»Dass Cagan vielleicht nicht mehr der Mann ist, zu dem du damals bewundernd aufgeschaut hast.«

Bella trat einen Schritt vor und hob die Hand, um Svetlana zu ohrfeigen. Doch im letzten Moment hielt sie sich zurück, während Svetlana bereits abwehrend die Arme hob.

»Das hättest du nicht sagen sollen«, erwiderte Bella. »Das hättest du wirklich nicht sagen sollen.«