Achtundzwanzig
Bella war nicht undankbar für die Verjüngungskur, die die Perückenköpfe ihr hatten zuteil werden lassen, aber selbst die Wissenschaft der Aliens hatte ihre Grenzen. Die Tage vergingen genauso schnell, wie sie schon immer vergangen waren. Vielleicht sogar noch schneller, nachdem das Metronomticken des Schlafs in ihre Welt zurückgekehrt war. Der hartnäckige Rhythmus erinnerte sie ständig daran, dass es immer noch etwas zu tun gab, dass der Tag nie genug Stunden hatte, das Jahr nie genug Tage. Niemand konnte ehrlicherweise behaupten, sich unsterblich zu fühlen. Bislang war niemand zu einer zweiten Verjüngung zu den Perückenköpfen zurückgekehrt, und während Bella kaum daran zweifelte, dass die Aliens ein solches Ersuchen nicht ablehnen würden, war es keineswegs klar, ob sich der Prozess unendlich oft wiederholen ließ.
Außerdem war ein plötzlicher gewaltsamer Tod immer noch genauso ein Problem wie eh und je. Was ihr zuvor vielleicht als akzeptables Risiko für eine achtundachtzig Jahre alte Frau erschienen war, kam ihr nun als große Dummheit vor, wenn so viel auf dem Spiel stand. Sie sorgte sich, wenn ihre Geschäfte es erforderten, ein Fluggerät zu besteigen, auch wenn es in den vergangenen dreiunddreißig Jahren nur einen einzigen tödlichen Unfall mit einem Beiboot gegeben hatte. Im neuen Klima der Vergebung und Aussöhnung war die Gefahr eines Mordanschlags von Barseghian-Anhängern oder anderen Splittergruppen so gering wie nie zuvor. Trotzdem brachte sie viele Stunden damit zu, ihre Sicherheitsmaßnahmen zu verbessern, als würde sich in jeder Menschenansammlung jemand mit einem Messer, einem Gewehr oder einer Giftampulle verstecken.
Monate vergingen, und irgendwann fühlte sich ihr neuer Körper wieder angenehm vertraut an. Sie musste sich bereits bewusst ins Gedächtnis rufen, dass er neu war. Sie vergrub sich in der Arbeit und ging bis an die Grenzen ihrer Leistungsfähigkeit. Doch trotz gewisser Anfangserfolge in mehreren Bereichen führten bald sämtliche Ermittlungen in Sackgassen.
Der schwarze Würfel wahrte sein undurchdringliches Geheimnis. Selbst die glänzenden neuen Werkzeuge der nachgeholten Wissenschaftsgeschichte konnten kaum an der Oberfläche des Mysteriums kratzen, sodass sie deprimierend wenig in Erfahrung gebracht hatten – kaum mehr als durch Svetlanas erste unbeholfene Untersuchungen. Die beste Arbeitshypothese lautete, dass es sich um extrem fortgeschrittene Replikationstechnik handelte, die sich unablässig selbst reparierte und mit einem Substrat arbeitete, das wesentlich feiner als das atomare Granulat war, das die Chinesen in ihren nanotechnischen Schmiedekesseln verwendeten. Vielleicht Femtotechnik auf nuklearer Ebene oder gar eine Replikationsmaschinerie, die aus den grundlegenden strukturellen Einheiten der Raumzeit zusammengeflickt war. Mit solchem Material zu arbeiten, hatte Nick Thale zu Bella gesagt, wäre ungefähr so, als würde man aus frisch gekochten Spaghetti eine funktionierende Drehbank bauen wollen.
Solche Schwierigkeiten hatten die Schöpfer des Würfels offenbar nicht entmutigt.
Bella hatte immer noch keine bessere Theorie, wer sie gewesen sein könnten. Nichts in den Geschichtsdateien deutete darauf hin, dass es Menschen gab, die in der Lage wären, etwas wie diesen Würfel zu fabrizieren. Und selbst wenn es möglich wäre, blieb immer noch die beunruhigende Frage, wie sie das Ding in den Janus-Orbit gebracht hatten.
Ganz zu schweigen von der Frage, was sie damit bezweckt haben mochten.
Hin und wieder besuchte Bella das Forschungslabor, in dem Ofria-Gomberg und die anderen den Würfel untersuchten. Es war ein weißer Raum in einem tiefen Bunker. Zwischen den Instrumenten und Sensoren stach das Artefakt wie eine Granitskulptur in einer anspruchsvollen Galerie heraus.
Der Würfel hatte immer noch etwas an sich, das eine ominöse Saite in ihr zum Klingen brachte, als würde er ihr etwas ins Unterbewusstsein flüstern, um sie näher heranzulocken. Sie konnte das Gefühl nur mit der verführerischen Macht des Wassers an einem Hafenkai vergleichen, das die Menschen dazu verleitete, hineinzustürzen.
Sie wollte nicht in den schwarzen Würfel stürzen. Sie hatte Angst vor dem, was er ihr zeigen mochte.
Auch die Ermittlungen zu den Todesumständen von Meredith Bagley waren nach einem vielversprechenden Anfang bald ins Stocken geraten. Bella war weiterhin überzeugt, die drei Missetäter identifiziert zu haben, aber sie hatte die Zuversicht verloren, dass das Anzugslogbuch als schlagender Beweis taugte, der das Gericht von ihrer Schuld überzeugen würde. Hank Dussen war nicht mehr greifbar, aber sie beabsichtigte nach wie vor, die beiden noch lebenden Männer zur Rechenschaft zu ziehen. Ihr kam der morbide Gedanke, dass sie möglicherweise dafür sorgen musste, die Verdächtigen in der Warteschlange für die Verjüngungskur nach vorn zu schieben, falls einer oder beide zu sterben drohten, bevor das Verfahren seinen Gang genommen hatte.
Der Fall benötigte weitere Beweise. Das Einzige, was ein skeptisches Gericht überzeugen würde, wären die verschwundenen Logbücher für die Außeneinsätze, aus denen ersichtlich wurde, wer tatsächlich während dieser Schicht im Dienst gewesen war. Es wurde allgemein hingenommen, dass die Dateien nicht mehr existierten, dass sie während des Flextop-Sterbens zerstört oder ganz gelöscht worden waren. Nur dass es schon ein seltsamer Zufall war. Wäre es denkbar, dass jemand die Logbücher gezielt vernichtet hatte, um die Mörder zu decken? Jeder der drei Männer hätte triftige Gründe gehabt, so etwas zu tun, aber Bella war sich nicht sicher, ob sie auch die Möglichkeit dazu gehabt hatten. Doch irgendjemand musste für die Verwaltung dieser Dateien zuständig gewesen sein. Vielleicht konnte Parry ihr helfen. Er müsste zumindest wissen, ob es für jemanden aus dem Kreis der Verdächtigen machbar gewesen wäre, die Logbücher zu manipulieren.
Sie nahm sich vor, ihn bei Gelegenheit darauf anzusprechen. Sie freute sich darauf, ihn wiederzusehen, und fragte sich, warum sie so lange Zeit überhaupt nicht mehr an ihn gedacht hatte. Die Unterhaltungen mit Parry waren immer sehr angenehm gewesen. Während der Jahre ihres Exil war er stets freundlich zu ihr gewesen, was häufig auf Kosten seiner Beziehung zu Svetlana gegangen war. Offensichtlich hatte sich in den letzten zwanzig Jahren einiges geändert, doch bei ihren seltenen Begegnungen hatte Bella nie gespürt, dass er ihr feindseliger oder kühler entgegengetreten war. Er schien sich bewusst zu sein, dass Svetlana nicht durch Bella abgesetzt worden war, sondern durch die Rückkehr von Jim Chisholm. Und Bella war natürlich sehr nachsichtig mit Svetlana und ihren Anhängern umgegangen. Von ihnen war niemand in die Verbannung geschickt worden, am Ende eines supraleitenden Kabels, wo sich Eis und Vakuum gute Nacht sagten. Sie hatte sie zwar an den Rand gedrängt, sie jeglichen Einflusses beraubt, aber sie hatte sie nicht ungerecht behandelt. Selbst ihre größten Kritiker konnten ihr niemals vorwerfen, Gleiches mit Gleichem vergolten zu haben, und Parry hatte nie zu ihren größten Kritikern gehört.
Doch dann kam es am folgenden Tag zu einem Zwischenfall – ausgerechnet zu einem Beiboot-Unfall –, und sie vergaß, sich bei Parry zu melden. Weitere Tage verstrichen, dann Wochen, und wenig später drängte sich eine Abfolge von kleineren Krisen auf ihren Terminkalender. Der Fall Bagley schmorte weiter im Hintergrund, und es würde viele Jahre dauern, bis er wieder in den Vordergrund von Bellas Aufmerksamkeit rückte.
Bis dahin war erneut jemand von den Toten zurückgekehrt.
Als Mike Takahashi erwachte, hörte er sprudelndes Wasser und klingelnde Windglöckchen.
»Hallo«, sagte Bella und hoffte, dass sie den richtigen besänftigen Tonfall getroffen hatte. »Ich bin’s, Mike – Bella. Alles ist in Ordnung.«
Sie erinnerte sich, wie es für sie gewesen war – ein kurzer Moment der Desorientierung, dann war alles wieder an den richtigen Platz gerückt. Keine Benommenheit, keine Schwierigkeiten, die Identität wiederzufinden, einen zusammenhängenden Gedanken zu fassen oder auch nur klare Bilder zu sehen. Es war ganz anders als Aufwachen, sondern eher so, als würde man nach einer intensiven, aber kurzen Meditation wieder die Augen öffnen. Nur dass sich in diesem intensiven kurzen Moment eine Unendlichkeit an Zeit und Raum konzentriert hatte – und Mysterien, die sich nicht einmal ansatzweise erfassen ließen.
Takahashi setzte sich auf. Bella bot ihm eine Decke, um den Anstand wahren zu können.
»Wo bin ich?«, fragte er und blickte sich um. Er klang leicht verwirrt, aber nicht mehr. »An diesen Ort kann ich mich nicht erinnern.«
»Ich bin mir nicht sicher, woran du dich erinnerst«, sagte Bella. »Also fangen wir ganz am Anfang an. Du erinnerst dich an die Rockhopper?«
»Ja«, sagte er ohne Zögern. »Natürlich.«
»Und Janus?«
Nun musste er sich besinnen, aber es dauerte nur einen kurzen Moment. »Ja«, sagte er dann.
»Wir haben ihn verfolgt – das Letzte aus unserem Triebwerk herausgeholt. Erinnerst du dich daran?«
Er sah sie an und sprach so leise, dass sie ihn im Plätschern des Wassers kaum verstand. »Etwas ging schief. Ich erinnere mich, dass etwas schief ging.«
»Ja«, sagte sie erleichtert, weil es dadurch wesentlich leichter wurde. »Es gab ein Problem mit einem Massentreiber. Er löste sich vom Rückgrat und riss unterwegs einen zweiten mit sich. Das Schiff hat es überstanden, aber es gab oberflächliche Schäden an den Treibstofftanks. Wir mussten sie zusammenflicken, bevor wir die Verfolgungsjagd mit Vollschub fortsetzen konnten. Du warst im Reparaturteam, Mike.«
»Etwas ist passiert«, sagte er. »Etwas Schlimmes.«
»Du erinnerst dich?«
Sie bemerkte eine kurz aufblitzende Verstörung, als hätte er sich für einen Moment an alles erinnert. Doch dann schüttelte er den Kopf. »Nein. Was ist passiert? Warum bin ich hier?« Er blickte an sich hinab. »Mit mir ist doch alles in Ordnung, nicht wahr?«
»Mehr als nur in Ordnung«, sagte Bella lächelnd.
Die Perückenköpfe hatten ihn wieder zusammengeflickt, aber sie hatten ihn nicht erkennbar verjüngt. Dazu hatte kein Anlass bestanden. Er war ein junger und gesunder Mann gewesen, als er vom Sprühstein eingeschlossen worden war.
»Ich erinnere mich immer noch nicht, was geschehen ist«, sagte er matt.
»Du bist in weichen Sprühstein gestürzt. Du warst darin gefangen, und dein Raumanzug hat sich überhitzt. Wir konnten dich nicht mehr rausholen. Parry hat alles getan, was er konnte, aber es ging einfach nicht. Und die Zeit wurde knapp.«
»Parry«, sagte er. »Geht es Parry gut?«
»Parry geht es gut. Du wirst ihn bald wiedersehen.«
»Was ist mit mir geschehen?«
Bella griff nach seiner Hand und legte sie in ihre. Sie hatte nie einen Sohn gehabt, aber sie dachte, dass es sich ungefähr so anfühlen musste, einen Sohn während einer emotionalen Krise zu trösten. »Wir mussten irgendetwas mit dir machen. Es gab ein Verfahren, mit dem wir dich retten konnten. Es nennt sich Frostengel. Erinnerst du dich daran?«
»Nein«, sagte er, doch sie bemerkte, wie sich seine Augen weiteten, als hätte er sich auf einer unbewussteren Ebene doch an die wesentlichen Einzelheiten erinnert. Man konnte sich niemals sicher sein, wie viel vom Erlebnis des Unfalls die Gelegenheit erhalten würde, im Langzeitgedächtnis gespeichert zu werden.
»Ryan Axford hat dich eingefroren. Er hatte keine andere Wahl. Es war die richtige Entscheidung.«
»Nein«, sagte Takahashi. Bella spürte seine Bestürzung, als die Erinnerungen zurückkehrten. »Nein. Ich wollte nicht sterben.«
»Wir hatten keine andere Wahl«, sagte sie. »Wir mussten es tun.«
Takahashi verkrampfte sich, als ihm schlagartig die Wahrheit bewusst wurde. »Nein! Ich bin nicht gestorben! Das ist nie passiert!«
»Du bist gestorben, Mike.« Sie sprach so ernst, wie sie glaubte, dass er es verkraften würde. »Aber wir haben dich zurückgeholt. Jetzt ist alles wieder gut.«
»Nein«, sagte er wieder, aber jetzt war er bereits etwas ruhiger.
»Jetzt ist wieder alles in Ordnung mit dir.«
Er erschauderte unter der Decke. »Wo bin ich.«
»In einem Raumschiff«, sagte Bella.
Er blickte sich um, doch der Wiederbelebungsbereich hatte nichts ausgesprochen Fremdartiges an sich. Bella hatte die Aliens sogar gebeten, das Glas abzudunkeln und sich nicht dahinter zu zeigen. Sie wollte Takahashi nicht zu viel auf einmal zumuten.
Sie wollte es ihm so leicht wie möglich machen. Sie hatte Takahashi schon immer gemocht, von dem Augenblick an, als er zur Rockhopper rotiert war. Er war ein zuverlässiger Mann des Außeneinsatzteams gewesen, aber es war nicht nur seine professionelle Kompetenz, die sie an ihm geschätzt hatte. Er hatte eine stille Bescheidenheit, die sie sehr sympathisch fand, eine Eigenschaft, die auch Garrison gehabt hatte. Die beiden Männern lachten auf die gleiche Art.
»Nach Janus …«, sagte er misstrauisch. »Sind wir wieder gut nach Hause gekommen?«
Bella lächelte matt. Dieser Teil würde niemals einfach sein. Sie zeigte auf einen Stapel aus ordentlich zusammengelegter Kleidung, die auf einem trockenen Stein lag. Das meiste, was Takahashi besessen hatte, war schon vor langer Zeit recycelt worden. In der schwierigen Anfangszeit auf Janus hatten sie sich einfach keine Verschwendung leisten können. Aber sie hatten ein paar Dinge bewahrt, wie zur Bestätigung, dass er eines Tages zurückkehren würde. Die Kleidung war inzwischen sehr alt, aber sie war gut gepflegt worden, sodass die lange Zeit keine sichtbaren Spuren hinterlassen hatte.
»Zieh dich an«, sagte sie, »dann werde ich dir alles erklären, was du wissen musst.«
Takahashi zog die Decke um seinen Körper enger. »Was ist mit Janus passiert?«
»Wir«, sagte Bella. »Wir sind ihm passiert.« Dann half sie ihm beim Aufstehen.
Sie berichtete ihm, was geschehen war, und teilte die Wahrheit in kleinen Portionen aus, wie sie es immer für die Menschen von Crabtree getan hatte. Bei jeder Gelegenheit versicherte sie ihm, dass er nichts zu befürchten hatte, dass alles in Ordnung war und er viele, viele Freunde hatte, die überglücklich wären, ihn wiederzusehen. Takahashi sagte sehr wenig. Ab und zu wiederholte er etwas, das sie gesagt hatte, oder bat sie um eine Klarstellung in einer bestimmten Sache, aber im Großen und Ganzen schien er so gut wie keine emotionale Beziehung zu allem zu haben.
»Genauso wie die Schweizer Familie Robinson«, sagte sie, nachdem sie ihm von ihrer Ankunft auf Janus und den großen Anfangsschwierigkeiten erzählt hatte.
Takahashi lachte nicht.
Sie fuhren mit dem Expresslift nach Underhole und rasten durch eine Glasröhre hinunter, durch die chromglänzende Induktionsschienen führten. Sie hatten das gesamte Abteil für sich, abgesehen von den allzeit wachsamen Sicherheitssystemen, die in jedem Kubikmillimeter Dekor der Kabine herumspukten.
»Doch all das war vor langer Zeit«, sagte Bella. »Wir sind huckepack auf Janus bis nach Spica geflogen. Dreizehn Jahre haben wir dazu gebraucht. Für die meiste Zeit haben wir uns annähernd mit Lichtgeschwindigkeit bewegt. In der Außenwelt sind zweihundertsechzig Jahre vergangen.«
Bella hatte die Kabinenbeleuchtung gedimmt, damit sie nach draußen schauen konnten. Unter dem Eisernen Himmel war es immer dunkel. Underhole breitete sich unter ihnen aus wie ein hell strahlender Oktopus, dessen Arme den verschiedenen Magnetbahnen folgten, die in alle Richtungen verliefen. Obwohl die Züge immer noch am gleichen Transitbahnhof eintrafen und abfuhren, dehnten sich die Entwicklungsgebiete entlang der Schienenröhren aus, in denen blaue Fäden aus eingebettetem Neon schimmerten. Früher einmal wäre Bella über ein solches Maß von Energieverschwendung entsetzt gewesen. Doch es lag schon Jahre zurück, dass man sich wegen einiger verlorener Kilowatt hatte Sorgen machen müssen.
»Ihr habt all das unmöglich in dreizehn Jahren erschaffen«, sagte Takahashi.
»Nein«, räumte Bella ein, »ein bisschen länger hat es schon gedauert.«
»Wie lange?«
»Nach dreizehn Jahren kamen die Aliens.«
Er nickte. Es war besonders wichtig, dass er von den Perückenköpfen erfuhr, auch wenn er sie noch gar nicht gesehen hatte. »Wie lange ist das her?«
»Fünfunddreißig Jahre«, sagte Bella. »Das heißt, wir leben nun im achtundvierzigsten Jahr auf Janus. Fast ein halbes Jahrhundert. Wir sind inzwischen fast fünfhundert.«
Er sah sie erstaunt an. »Wie alt bist du jetzt, Bella?«
»Zu alt, um diese Frage zu beantworten.« Es fiel ihr schwer, seinen Blick zu erwidern. »Eigentlich wäre ich über hundert Jahre alt. Wie ich mich manchmal auch fühle …« Sie stockte und ahnte, welche Frage er als nächste stellen würde. »Als ich achtundachtzig war – vor fünfzehn Jahren –, ging ich zu den Perückenköpfen. Sie haben mich wieder jung gemacht. Sie haben meine biologische Uhr etwa auf das Alter zurückgedreht, das ich hatte, als wir mit Janus zu tun bekamen.«
»Du siehst jetzt kaum älter als damals aus.«
Takahashi hatte noch nie dazu geneigt, unaufrichtige Schmeicheleien auszuteilen. Außerdem schaute Bella gelegentlich in einen Spiegel. »Eigentlich müsste ich wie siebzig aussehen, aber so funktioniert es nicht. Ich sehe nur ein wenig älter aus als vor fünfzehn Jahren, als ich das Raumschiff der Perückenköpfe verließ.« Sie hob die Hand. »Seit kurzem spüre ich, wie meine Arthritis zurückkehrt. Aber wenn ich es nicht schon einmal erlebt hätte, würde ich die Anzeichen vielleicht gar nicht bemerken.«
Er musterte sie mit unverhohlener Faszination. »Meine Erinnerungen sind noch nicht komplett wieder da, Bella, aber ich weiß noch, dass du alleinstehend warst.«
»Ja«, sagte sie nur.
»Ich schätze, auch in dieser Hinsicht hat sich nach all den Jahren einiges geändert.«
»Ich bin immer noch allein«, erwiderte sie schroff.
»Aber es …« Er schüttelte erstaunt den Kopf. »Hat es nie jemanden gegeben, Bella?«
Sie hätte ihn belügen können – ihn und sich selbst –, aber das hatte Takahashi nicht verdient. »Ich habe es einmal mit jemandem versucht. Er war ein guter Mann, einer der besten, die in Crabtree zu finden sind. Ein paar Monate lang …«
»Was ist mit ihm passiert?« Er schien etwas an ihrem Tonfall missverstanden zu haben.
»Nichts. Es gibt ihn immer noch. Aber es hat zwischen uns nicht funktioniert.«
»Das tut mir leid.«
»Es war mein Fehler. Ich schleppe einfach zu viel Vergangenheit mit mir herum.«
Der Expresslift wurde langsamer, als er sich dem Transitbahnhof in Underhole näherte und die Verbindungsrampen, Geschäfte und Restaurants sichtbar wurden. Nach längerem Schweigen sagte Takahashi: »Werden sie dich noch einmal jünger machen?«
»Das will ich hoffen«, sagte Bella. »Es gibt noch viel Arbeit zu erledigen.«
Takahashi machte weiterhin gute Fortschritte. In der sechsten Woche entschied Bella, dass sie es nun wagen konnten, ihn der Kolonie vorzustellen. Sie wollte ihm zu Ehren eine Party veranstalten.
Sie fand im größten Arboretum von Crabtree statt. Es war Abend. Die Deckenbeleuchtung war reduziert worden, und falsche Sterne funkelten durch das Dachgerüst. An den größten Bäumen hatte man Papierlaternen in Rot, Gold und Grün aufgehängt. Chormusik drang aus verborgenen Lautsprechern. Bella hatte Arvo Pärt aus den Dateien herausgesucht, weil sie eine Aufzeichnung des estnischen Komponisten unter Takahashis persönlichem Besitz gefunden hatte.
Sie hatte es für wichtig gehalten, niemanden von der Party auszuschließen. Demzufolge war fast jeder erwachsene Bürger hier, der sich zu diesem Anlass freimachen konnte. Die Menschen schlenderten umher und unterhielten sich in der ruhigen, duftenden Luft einer Mittsommernacht. Schwebende Laternen folgten kleineren Gruppen und spendeten ihnen Licht, bis sie gutmütig verscheucht wurden. SI-Roboter wahrten eine diskrete Distanz und tauchten nur aus der Dunkelheit auf, um Getränke, Knabbereien oder Unterstützung in anderen Dingen anzubieten.
Bella war viel zu nervös, um die Party wirklich genießen zu können, doch im Verlauf des Abends wurde ihr allmählich klar, dass die Feier nicht der totale Fehlschlag war, den sie insgeheim befürchtet hatte. Takahashi ging entspannt mit der plötzlichen Flut an Aufmerksamkeit um, spazierte von einer Gruppe zur nächsten, erzählte immer wieder die gleichen Geschichten und lachte geduldig über die immer gleichen, gut gemeinten Witze. Gelegentlich zog er sich ein Stück von den anderen zurück, um ein paar Momente für sich selbst zu haben, doch wenn Bella mit ihm sprach, versicherte er ihr jedes Mal, dass es ihm gut ginge und er den Trubel genieße. Er war fasziniert von der Vielfalt der getragenen Kostüme – achtzig Jahre Modegeschichte, die er verpasst hatte. Obwohl die Stile kaum zusammenpassten, sorgte das abendliche Ambiente und das sanfte Licht der Laternen dafür, dass alles zu einer subtilen Einheitlichkeit verwischte.
»Wie gefällt dir die Musik?«, fragte Bella, als sie im Schein einer schwebenden Laterne zusammensaßen. »Wir haben deinen alten Helm wiedergefunden und die Zugriffsstatistik im Speicher abgerufen. Dieses Stück hast du oft gehört.«
»Es ist großartig. Hauptsache, es ist nicht Puccini.«
»Puccini?«
»Ich starb, während ich Turandot hörte. Wie viele Leute können das von sich behaupten?«
Bella legte ihm eine Hand aufs Knie. »Ich weiß, dass das alles nicht einfach für dich sein wird, Mike, aber du wirst es schaffen. Du bist Bergmann.«
»Wir schieben Eis«, sagte er, aber etwas zu betont, um überzeugend zu klingen.
Sie bemerkte, dass er eine junge Frau beobachtet hatte, die in einer Gruppe in der Nähe stand. Ihr leuchtendes Kleid mit Neonmuster war am Rücken tief ausgeschnitten und enthüllte mehr, als es verbarg. Das Laternenlicht spielte auf ihren Schultern und der Biegung ihres Rückens. Bella versuchte sich an den Namen der Frau zu erinnern, aber er wollte ihr nicht einfallen.
»Ihr hättet euch nur meinetwegen nicht so viel Mühe machen müssen«, sagte Takahashi.
»Wir haben es gerne getan.«
»Ich möchte nicht undankbar erscheinen, aber … erhält jeder, der zurückkehrt, so viel Aufmerksamkeit?«
»Du bist ein anderer Fall«, sagte Bella mit sanftem Tadel. »Wir haben nie damit gerechnet, dass du zurückkehrst. Das ist uns eine Feier wert.«
»Ihr habt alle sehr schlimme Zeiten durchgemacht. Ich komme mir fast wie ein Betrüger vor … als hätte ich mich vor der ganzen Arbeit gedrückt.«
»So solltest du es nicht sehen. Ich möchte betonen, dass ich sehr sauer auf dich sein werde, sollte ich jemals den Verdacht haben, dass du so empfindest.«
Takahashi nahm das Angebot eines Roboters an, sein Weinglas nachzufüllen. Die Gläser waren in Schmiedekesseln gezogen worden, Wunder der kristallinen Zartheit, die Stiele aus einem Bündel hauchfeiner Glasfäden geflochten, wie die Triebwerksspur eines Kampfjets im Spiralflug.
»Als du mich vom Schiff der Perückenköpfe hierher gebracht hast, sagtest du, es hätte Meinungsverschiedenheiten an Bord der Rockhopper gegeben. Dass es kein einstimmiger Beschluss war, hierher zu kommen.«
»Das war vor langer Zeit. Es hat keinen Sinn, sich jetzt noch darüber zu streiten.«
»Ich habe gehört, dass du die Rockhopper hierher gebracht hast, dass es deine Entscheidung war, nicht zu versuchen, nach Hause zurückzufliegen.«
»Was hättest du an meiner Stelle getan?«
Takahashi schaute sich die attraktive Frau durch sein Glas an. »Ich glaube, damals wäre ich nicht damit einverstanden gewesen, aber im Nachhinein muss ich sagen, dass du dich richtig entschieden hast. Ihr wärt niemals zurückgekommen. DeepShaft und die VWE hätten niemals eine Rettungsmission für euch auf die Beine gestellt.«
»Einsicht ist etwas Wunderbares. Nur schade, dass es damals nicht alle genauso gesehen haben.«
»Svetlana hat dich eingesperrt. Sie hat dich bestraft, weil du uns gerettet hast.«
Bella spürte einen Kloß in der Kehle. Sie sprach kaum noch über die Zeit ihres Exils oder den Konflikt, der dazu geführt hatte. »Svieta hatte ihre Gründe«, sagte sie und genoss die leichte Anwandlung frömmlerischer Erregung, die die Geste der großherzigen Vergebung ihr bereitete. »Hätte ich auf sie gehört, hätten wir es wahrscheinlich nie geschafft, ins Kielwasser von Janus zu gelangen.«
»Du hattest genauso zwingende Gründe, anders als sie zu entscheiden.«
»Ja«, sagte Bella, »aber es war trotzdem ein Fehler. Ich hoffe, ich habe meine Schuld später wettgemacht, aber …« Sie verstummte. Es wäre geschmacklos gewesen, noch mehr zu ihrer Verteidigung vorzubringen.
»Es hat dich die Freundschaft mit Svieta gekostet«, sagte Takahashi.
»Früher waren wir oft ähnlicher Meinung. Ich habe sie für eine gute Freundin gehalten.« Sie hielt inne und beobachtete die sich umkreisenden Gruppen der Partygäste. »Aber es ist immer schwierig, eine Freundschaft über Rangunterschiede hinweg aufrechtzuerhalten, selbst in einer zivilen Organisation. Es war ein Wunder, dass unsere Freundschaft überhaupt so lange gehalten hat.« Sie zuckte die Achseln, um zu betonen, dass sie sich inzwischen mit allem abgefunden hatte.
»Wie lange ist es her, seit du das letzte Mal mit ihr gesprochen hast?«
Bella lächelte. Diese Frage war leicht zu beantworten. »Wir haben kein Wort mehr gewechselt, seit die Rockhopper auf Janus gelandet ist.«
Er schüttelte entsetzt und fasziniert zugleich den Kopf. »Das ist genauso lange, wie ich tot war!«
»Ja«, sagte sie.
»Das ist nicht richtig, Bella.«
In diesem Moment spürte sie, dass sie sich zum ersten Mal über ihn ärgerte. Was fiel ihm ein, von den Toten zurückzukehren und ihr ins Gewissen zu reden? Aber sie zwang sich, diese Empfindungen nicht zu zeigen. »Mike, es lag nicht daran, dass ich es nicht versucht hätte. Ich habe sie nicht darum gebeten, wieder meine beste Freundin zu werden. Ich habe sie nicht einmal gebeten, mit mir zu reden oder mir einen Brief zu schicken. Ich wollte nur, dass sie mir ein winziges Stück menschlicher Würde zurückgibt, die leiseste Anerkennung, dass ich für sie nicht ausschließlich die Ursache allen Übels war. Aber es kam nichts von ihr.«
»Glaubst du, dass sie dich hasst?«
»Ich weiß nur, dass es nach dem Ende einer intensiven Freundschaft häufig dazu kommt.«
Takahashi schwenkte den Wein im Glas. »Ich glaube nicht, dass Männer solche Freundschaften schließen. Zumindest nicht, wenn keine Liebe im Spiel ist. So eine intensive Freundschaft hatte ich nie mit einem Mann. Mit einem habe ich acht Jahre lang zusammengearbeitet, ich habe ihm in seinen Anzug geholfen, bin auf gemeinsame Außeneinsätze mit ihm gegangen, habe mich mit ihm betrunken – und doch habe ich erst am Ende dieser Zeit erfahren, dass er verheiratet war.« Er lachte und schüttelte den Kopf. »Das Wissen um solche Dinge wurde von unserem Radar einfach nicht wahrgenommen. Trotzdem waren wir die besten Arbeitskumpel, die man sich vorstellen kann.«
»Wie war sein Name?«
»Daran erinnere ich mich nicht.«
Sie saßen mehrere Minuten lang schweigend da und hingen ihren Gedanken nach. Bella rauchte eine Zigarette – die erste, die sie sich seit Wochen gönnte. Im Laternenlicht mischten sich die Partygäste zu neuen Gruppen. Ihre Gesichter glühten mit der wohltuenden Berauschung durch gute Getränke an einem feierlichen Abend. Nur ein einziger Blick auf diese Szene hätte normalerweise jeden Gedanken an die dunkelsten Tage ihres Exils vertrieben.
Takahashi zeigte auf einen rotblonden Jungen, der in einem Kreis aus Erwachsenen stand. »Wer ist das Kind?«
»Axford.«
Takahashi runzelte die Stirn. »Axford hat einen Sohn?«
»Nein«, erklärte Bella geduldig, »der Junge ist Axford. Als er das letzte Mal oben war, hat er einen vollständigen Neustart machen lassen.«
»Ihr lasst euch von einem Kind ärztlich versorgen?«
»Der Junge hat Axfords sämtliche Erinnerungen und Erfahrungen. Er denkt wie ein Erwachsener, nur dass er zufällig wie ein kleiner Junge aussieht. Axford sagte zu mir, er hätte den Weg nach oben so lange hinausgeschoben, dass er ihn erst in sehr vielen Jahren ein zweites Mal gehen will.« Verschmitzt fügte sie hinzu: »Außerdem sagt er, dass er jetzt seine Hand durch chirurgische Öffnungen schieben kann, durch die er früher niemals gepasst hätte.«
»Haben sie ihn … du weißt schon … wieder in Ordnung gebracht?«
Bella täuschte Verwirrung vor. »In welcher Hinsicht sollen sie ihn in Ordnung gebracht haben, Mike?«
»Axford war schwul.«
»Axford ist immer noch schwul, soweit mir bekannt ist. Ich glaube nicht, dass er es als etwas betrachtet, das irgendwie in Ordnung gebracht werden müsste.«
»Gut«, sagte Takahashi mit einem Achselzucken.
»Er ist immer noch Axford, Mike. Er ist jetzt nur wesentlich effizienter ausgestattet. Du wirst dich irgendwann an ihn gewöhnen. Wenn ich ihn jetzt ansehe, erinnere ich mich kaum noch, wie der alte Axford ausgesehen hat.«
Eine Gruppe löste sich auf, und als sie die Sicht freigab, erkannte sie Svetlana, die zwanzig oder dreißig Schritte entfernt stand. Sie hatte Bella den Rücken zugekehrt und unterhielt sich mit Parry Boyce und einem jungen Paar, dessen Namen sie nicht kannte.
Es war für sie kein Schock, Svetlana zu sehen. Sie war eingeladen gewesen (oder eher nicht ausdrücklich ausgeschlossen), und es hatte eine gewisse Wahrscheinlichkeit bestanden, dass sie an der Party teilnehmen würde. Takahashis Rückkehr war schließlich genauso ein Teil ihrer Welt wie von Bellas.
Trotzdem war es Bella unangenehm, sie hier zu sehen. So nahe waren sie sich seit fünfzig Jahren nicht mehr gekommen. Zumindest hielten sie sich in ein und demselben Raum auf, auch wenn es sich um ein weitläufiges Arboretum handelte. Hätten sie den Wunsch dazu verspürt, hätten sie sich etwas zurufen können.
»Auch du hast sie gesehen«, sagte Takahashi leise in verschwörerischem Tonfall.
»Es überrascht mich nicht. Ich habe sie nie in die Verbannung geschickt. Ich habe ihr nie verboten, sich in Crabtree blicken zu lassen.«
»Werdet ihr zwei miteinander reden?«
»Ich glaube, es wurde bereits alles gesagt, was es zu sagen gab.«
Svetlana drehte langsam den Kopf, als hätte sie bemerkt, das Bella sie verstohlen beobachtete. Im Profil wirkte sie älter, als Bella sich an sie erinnerte, selbst wenn sie die schmeichelnde Wirkung des Laternenlichts berücksichtigte. Aber sie sah keineswegs fünfzig Jahre älter aus. Svetlana hatte die Perückenköpfe mindestens einmal besucht, genauso wie Parry. Genauso wie bei Bella war ihre Kleidung von altertümlichem Schnitt – weite Jeans, Cowboystiefel, ein T-Shirt und eine braune Lederjacke, die sie sich über die Schulter gehängt hatte. Ihr rotes Haar war stoppelkurz geschnitten und warf das Laternenlicht zurück.
Es gab einen Moment, in dem sie kurz davor standen, Blickkontakt aufzunehmen, als eine andere Gruppe von Gästen ihnen wieder die Sicht versperrte. Ein Akrobat – Bella konnte nicht erkennen, ob es ein Mensch oder ein SI-Android war – schlug Purzelbäume, während seine Hand- und Fußgelenke goldenes Feuer versprühten. Als er sich entfernt hatte, war auch Svetlanas Gruppe weitergezogen.
Takahashi blickte auf, als über eine breite, von Bäumen gesäumte Schneise etwas Großes auf sie zugerumpelt kam. »He, ist das …?«
»Ja«, sagte Bella, die froh war, dass der beklemmende Moment vorbei war. »Das ist McKinley. Ich hatte gehofft, dass er der Einladung folgen würde.«
Der Perückenkopf war in einer vier Meter durchmessenden transparenten Sphäre eingetroffen, die keine sichtbaren Instrumente oder Lebenserhaltungssysteme enthielt. Er bewegte sich mit kräftigen Wellen seiner Strähnen fort. Bella erschauderte, als sie an den Druck und die Schwerkraft dachte, die hinter dem Glas herrschen mussten.
McKinley schien sie erkannt zu haben. Er – sie hatte es sich angewöhnt, ihn als männliches Wesen zu betrachten – rollte auf sie zu und blieb vor ihr stehen. Er bildete ein hochauflösendes Geflecht aus.
»Hi«, sagte sie, obwohl sie wusste, wie unpassend die banale Grußformel angesichts der Umstände wirken musste.
McKinley verneigte sich, soweit das einem Perückenkopf möglich war. »Ebenfalls hi. Und hallo, Mike.« Die Stimme klang lauter und menschenähnlicher, als sie sich von ihrem letzten Besuch erinnerte, aber vielleicht hatte das etwas mit der akustischen Verstärkung durch die mobile Sphäre zu tun.
»Hi«, sagte Takahashi und hob die Hand.
Das Alien richtete das Geflecht auf ihn. »Es freut mich, dich wohlauf zu sehen.«
»Und mich erst!«, sagte Takahashi. »Lass es dir von jemandem sagen, der sich auskennt: Tot zu sein macht wirklich keinen Spaß.«
»Wahr gesprochen«, sagte McKinley und löste das Geflecht auf.
Takahashi lächelte.
»Alle scheinen sehr glücklich zu sein, dass du wieder da bist«, sagte das Alien. »Du musst damals sehr beliebt gewesen sein.«
»Ich werde versuchen, es diesmal nicht wieder zu verpatzen.« Mit dem Glas in der Hand erhob sich Takahashi entschlossen vom Sitz. »Ich werde mich ein wenig unter die Leute mischen. Dann könnt ihr beiden in Ruhe plaudern. Ich werde später noch mal bei euch vorbeischauen.«
»Alles paletti«, sagte McKinley.
Takahashi klopfte auf die durchsichtige Sphäre. »Aber nicht hinter meinem Rücken Schlechtes über mich reden!«
Bella sah zu, wie er davonspazierte und von einer gut gelaunten Gruppe verschluckt wurde. So sehr sie seine Anwesenheit genoss, insgeheim war sie froh, dass Takahashi sie mit McKinley allein gelassen hatte.
»Sie freuen sich für Mike«, stellte das Alien fest. »Er kann sich glücklich schätzen, dass jemand wie du die Verantwortung trägt.«
»Das waren wir ihm schuldig.«
»Du wärst überrascht, wie viele Spezies keine so freundliche Einstellung gegenüber schwächeren Artgenossen an den Tag legen«, sagte McKinley mit einem lässigen Schwung seiner Strähnen.
»Mir war klar, dass du irgendwann auf ein anderes Thema kommen würdest«, sagte sie. »Und das war eine sehr geschickte Überleitung. Ich vermute mal, dass es bei diesem anderen Thema um eine andere Spezies geht.«
»Du bist eine kluge Frau, Bella Lind.« McKinley vollführte eine seltsame drehende Geste, die sie in seinem üblichen Repertoire noch nicht beobachtet hatte. Es wirkte fast, als würde er einen Blick über die Schulter werfen, um sich zu vergewissern, dass niemand sie belauschte. Er senkte die Stimme, bis sie sich vorbeugen musste, um ihn über die Hintergrundgeräusche zu verstehen. »Es geht um die Sache, die wir vor kurzem besprochen haben … vor deiner Verjüngungskur.«
»Vor kurzem? Das war vor fünfzehn Jahren, McKinley.«
Die menschliche Wahrnehmung unterschiedlicher Zeiteinheiten war für die Perückenköpfe immer noch sehr schwer zu verstehen. Im Verlauf ihrer Gespräche war Bella zur Vermutung gelangt, dass sie Zeit nach der Ereignisdichte maßen und nicht nach der Anzahl verstrichener Einheiten. Für die Perückenköpfe waren hundert Jahre, in denen kaum etwas geschehen war, viel weniger Zeit als eine Minute, in der sich die Ereignisse überstürzten.
»Aber du weißt, worauf ich anspiele«, sagte McKinley.
Eine FI kam vorbeigestapft und wollte ihr Glas nachfüllen. Bella wehrte den Roboter mit einer Geste ab. »Die Moschushunde, vermute ich.«
»Es freut mich, dass du dich erinnerst. Sie zeigen wieder verstärktes Interesse an dieser Region der Struktur. Wir glauben, dass ihre Ankunft unmittelbar bevorsteht.«
»Als wir das letzte Mal darüber sprachen, hast du ›unmittelbar bevorstehend‹ als einen Zeitraum von Jahren oder Jahrzehnten definiert. Wäre es vielleicht möglich, die Sache etwas genauer einzugrenzen?«
»Jetzt wäre ich geneigt, von Monaten zu sprechen. Ihr solltet auf sie vorbereitet sein.«
»Vielleicht sind wir das. Du sagtest, es wäre schlecht, wenn wir sozial zu sehr zersplittert sind, falls du dich erinnerst. Vielleicht waren wir es damals, aber unsere Einigkeit war nie stärker als heute. Schau dir nur diese Party an. Heute Abend sind Vertreter aller Fraktionen auf Janus anwesend, und bislang habe ich nicht beobachtet, dass es irgendwo zum Streit gekommen wäre.«
»Das gibt Anlass zur Hoffnung.«
»Du scheinst nicht überzeugt zu sein.«
»Wenn sie kommen, werden sie die winzigste Uneinigkeit ausnutzen und zu einem weiten Spalt aufreißen. Sie werden Erzfeinde aus distanzierten Rivalen machen und Rivalen aus den besten Freunden.«
Bella schüttelte verzweifelt den Kopf. »Gruppen und Fraktionen zu bilden ist ein Teil unserer Natur.«
»Vielleicht hast du recht«, sagte das Alien mit einem düsteren Unterton, der ihr nicht entging. »Wenigstens haben sich die Voraussetzungen gebessert. Vielleicht ist das bereits genug.«
»Wenn die Moschushunde so schlimm sind, warum sorgt ihr nicht dafür, dass sie verschwinden?«
»Wir können ihnen abraten, aber nur, wenn ihr uns darum bittet.«
»Was würde ›abraten‹ genau bedeuten?«
»Es würde bedeuten, dass wir die Exklusivität der Handelsbeziehungen betonen, die wir mit eurem Volk aufgebaut haben. Wenn die Moschushunde keine Möglichkeit sehen, den für unsere beiden Seiten nützlichen Zustand zu unterminieren, werden sie wahrscheinlich weiterziehen.« Nach einer kurzen Pause fügte der Perückenkopf düster hinzu: »Früher oder später wird eine andere anfällige Spezies eintreffen. Es kommen immer wieder welche, auch wenn die Abstände immer größer werden.«
»Also sind wir nur irgendeine anfällige Spezies?«, sagte sie.
»Ihr habt eure Schwächen, aber wie die meisten Neuankömmlinge habt ihr etwas, das von immensem Wert für uns ist, die wir schon länger hier sind.«
»Die Welt, mit der wir eingetroffen sind.«
»Ihr habt euch gut darauf eingerichtet.«
»Wir kommen einigermaßen über die Runden, McKinley. Das bedeutet nicht, dass wir vorhaben, hier den Rest der Ewigkeit zu verbringen.«
Seine Strähnen schwankten nachdenklich. »Es ist gut, Pläne zu haben.«
Im selben Moment wurde sich Bella bewusst, dass jemand hinter ihr stand. Sie blickte sich um und sah Mike Takahashi mit einem Weinglas in der Hand. Schräg hinter ihm stand Svetlana.
»Mike …«, wollte sich Bella über seine Störung beschweren.
Takahashi schnitt ihr mit erhobener Hand das Wort ab. »Falls einem Mann, der bis vor kurzem tot war, ein Wunsch gewährt werden darf, soll es dieser sein. Ich bedaure diese Fehde, das Zerwürfnis, das politische Schisma oder wie auch immer man es nennen will. Noch mehr bedaure ich, dass zwei frühere Freundinnen nicht einmal ›Hallo‹ zueinander sagen können, wenn sie sich im selben Raum befinden. Es wird Zeit, etwas dagegen zu tun, bevor uns allen dadurch die Partylaune verdorben wird.«
»Das war eine schlechte Idee«, befand Svetlana, ohne Bella anzusehen.
»Das sehe ich genauso«, erwiderte Bella. Ihr Gesicht war stark gerötet, obwohl sie während des Abends nur wenig getrunken hatte. »Mike, ich weiß, dass du es gut meinst, aber hier geht es um mehr als einen Sandkastenstreit, den man mit etwas Zauberstaub und guten Absichten beilegen könnte.«
Takahashi nahm einen Schluck von seinem Glas. »Gut. Aber nur mal interessehalber gefragt: Wie lange habt ihr beiden vor, diesen Groll zu pflegen? Weitere fünfzig Jahre? Ein ganzes Jahrhundert? Oder werdet ihr dann erst richtig anfangen?«
»Es gibt keinen Groll«, sagte Bella. Ihr war unangenehm bewusst, dass McKinley das alles mitbekam.
Takahashi wandte sich an Svetlana. »Ich habe vor einer Weile mit Bella gesprochen. Sie hat zugegeben, dass du offenbar gute Gründe hattest, das Schiff zu übernehmen. Sie hat einen Fehler begangen, einen schweren Fehler, als sie deine Warnungen nicht ernst genommen hat. Das streitet sie keineswegs ab.«
»Ein Fehler bleibt ein Fehler«, entgegnete Svetlana, deren Lippen sich kaum bewegten.
»Was sie freimütig eingesteht. Aber wenn man bedenkt, in welcher Situation sich die Rockhopper damals befunden hat, kannst du dann ehrlicherweise abstreiten, dass es vielleicht genau die richtige Entscheidung war, das Schiff unbedingt in die Nähe von Janus zu bringen?«
»Es bleibt trotzdem ein Fehler«, sagte Svetlana.
Erneut hob Takahashi die Hand. »Das ist noch nicht alles, Svieta. Als ich mit Bella sprach, war sie – wie soll ich es ausdrücken? – nicht ohne Anerkennung für die Art und Weise, wie du Crabtree geführt hast.«
Er forderte Bella mit einem Blick auf, das Gesagte zu bestätigen. Wieder errötete sie, denn dies war eine klare Lüge, was Takahashi zweifellos wusste. Doch insgeheim und widerstrebend hätte sie es vielleicht wirklich so ausgedrückt.
»Wir alle haben unser Bestes getan«, sagte Svetlana und sah Bella zum ersten Mal direkt an.
Bella ging tief in sich und suchte nach einer möglichst netten Erwiderung. »Es kann nicht einfach gewesen sein. Schon gar nicht in den ersten paar Jahren, bevor die Energie aus dem Schlund floss.«
»Wir haben durchgehalten«, sagte Svetlana angespannt.
»Dazu war eine gute Führung nötig.«
Svetlana sah Bella an, wich ihrem Blick nicht aus und nickte knapp. Die Geste war sehr unterkühlt und diplomatisch, aber es war mehr, als Bella erwartet hatte. »Danke«, sagte Svetlana fast lautlos.
Takahashis Augen glänzten im Laternenlicht. »Auf der anderen Seite gibt Svetlana zu, dass deine Führung sehr kompetent war, seit du nach Crabtree zurückgekehrt bist. Wie du mit den Symbolisten umgegangen bist, war ein Paradebeispiel für Taktgefühl und Zurückhaltung.« Er warf Svetlana einen Blick zu. »Nicht wahr?«
»Du hast es ganz gut gemacht«, sagte sie nach kurzem Zögern.
»Svetlana hat außerdem ein gewisses Maß an Lob vorgebracht, wie du darauf verzichtet hast, deine früheren Gegner in die Verbannung zu schicken. Statt dich mit kleinlichen Bestrafungen aufzuhalten, hast du dem Wohl der Kolonie oberste Priorität eingeräumt.«
»Trotzdem hat Bella uns an den Rand gedrängt«, sagte Svetlana.
»Das war ihr gutes Recht. Aber mir ist nicht entgangen, dass sie dich zum heutigen Abend eingeladen hat.«
»Scheint so.«
Bella gab sich einen Ruck. »Ich dachte mir, dass du Mike gerne wiedersehen würdest. Aber jetzt frage ich mich, warum ich ihn zu dieser Party eingeladen habe.«
»Ja«, sagte Svetlana und richtete einen giftigen Blick auf Takahashi. »Es hätte uns beiden einige peinliche Momente erspart, wenn du darauf verzichtet hättest.«
Takahashi nickte mit einem bedauernden Lächeln. »Ja, ohne meine Einmischung hättet ihr beiden euer Vermeidungsspiel fortsetzen können, wohingegen ihr euch jetzt schon seit fünf Minuten gegenübersteht, ohne dass ein einziger Tropfen Blut vergossen wurde. Tut mir leid, aber dort, wo ich herkomme, gilt das als großer Fortschritt.«
»Nicht dort, wo ich herkomme«, sagte Bella, im gleichen Moment, als Svetlana genau dasselbe sagte.
Sie sahen sich an, und beide stießen gleichzeitig ein vorsichtiges, befangenes Lachen aus. Dann gab es nichts mehr zu sagen. Das Schweigen war der unangenehmste Teil der bisherigen Begegnung. Bella dachte, dass sie das Gespräch hier beenden und es bei diesem kurzen, unblutigen, halbwegs würdevollen Intermezzo belassen konnten. Sie würden in den Kreis ihrer jeweiligen Vertrauten zurückkehren, und eine Zeitlang mochte es so aussehen, als hätten sich ihre Beziehungen tatsächlich verbessert. Aber schon bald würden sie wieder genau dort sein, wo sie auch zuvor gewesen waren.
Jetzt oder nie, dachte Bella. Dies war der Moment, in dem sie für eine nachhaltige Veränderung sorgen konnten. Bellas Kehle war knochentrocken. Sie öffnete den Mund und zwang Worte nach draußen. »Du kannst sehr stolz auf Emily sein«, sagte sie. »Ich sehe sie fast jeden Tag in Crabtree. Sie ist sehr begabt und sehr hübsch. Ich kenne niemanden, der nicht in den höchsten Tönen von ihr sprechen würde.«
»Danke«, sagte Svetlana, und diesmal sprach sie das Wort tatsächlich aus, statt es nur anzudeuten. Wieder breitete sich unbehagliche Stille aus, bis Svetlana hinzufügte: »Es war sehr freundlich von dir, dass du es ihr ermöglicht hast, auf diesem speziellen Gebiet zu arbeiten.«
Bella warf einen Seitenblick zu McKinley. »Mach dir seinetwegen keine Sorgen. Er weiß genau, dass wir eine Forschungsgruppe gebildet haben, die sich ausschließlich um die Enträtselung der Geheimnisse der Perückenköpfe kümmert. Wenn sie darauf bestehen, nur gelegentlich vereinzelte Hinweise fallen zu lassen, müssen sie mit so etwas rechnen.«
Bella hatte bemerkt, dass Emily Barseghian über ausgezeichnete analytische Fähigkeiten verfügte, und dafür gesorgt, dass sie eine der begehrten Positionen in der Abteilung für die Erforschung der Perückenköpfe erhielt. Der Geheimdienst hatte enttäuschend wenige Fortschritte erzielt, aber diesen Misserfolg konnte man nicht Emily anlasten.
»Die Arbeit gefällt ihr«, sagte Svetlana.
»Das habe ich mir gedacht. Ich habe viel von dir in deiner Tochter wiedererkannt.« Bella wagte ein schwaches Lächeln. »Vielleicht auch etwas von mir.«
»Ich könnte diese Art von Arbeit nie machen«, gestand Svetlana. »Ich bin immer noch durch und durch Ingenieurin.«
Bella sammelte ihren ganzen Mut. »Crabtree kann immer gute Ingenieure gebrauchen.«
»Ich habe trotzdem genug zu tun.«
Klar doch, dachte Bella, an Maschinen herumschrauben, ohne in die Nähe von interessanten Aufgaben zu gelangen. »Aber vielleicht hätte ich dich nützlicher einsetzen können. Ich muss zugeben, dass ich mich nicht darum bemüht habe, dich in die aufregenderen Projekte einzubinden. Warst du in letzter Zeit in Underhole? Hast du die Fortschritte bei der Ebene-Zwei-Entwicklung gesehen?«
»Ich war seit fünfunddreißig Jahren nicht mehr auf der anderen Seite des Himmels«, sagte Svetlana. »Dies ist erst mein dritter Besuch in Crabtree seit damals.«
»Das tut mir leid«, sagte Bella, als ihr das Ausmaß dieser Zeitspanne mit spürbarer Wucht bewusst wurde.
»Du musst dich nicht entschuldigen. Wenigstens hast du mich nicht dreizehn Jahre lang weggesperrt. Was das betrifft … es war ein Fehler von mir, okay? Aber wenn du von mir eine umfassende Entschuldigung erwartest – dazu fühle ich mich im Moment noch nicht imstande.«
»Ich nehme es, wie es kommt.«
»Und ich habe dich bei der Chisholm-Sache hintergangen. Falls es dich tröstet: Das ist eine meiner Entscheidungen, auf die ich am wenigstens stolz bin.« Etwas veränderte sich in ihrer Miene. Sie schien sich wieder zu verschließen, als hätte sie erkannt, dass sie viel zu schnell zu viel gesagt hatte. »Ich sollte jetzt lieber gehen«, fuhr sie fort. »Ich bin froh, dass wir miteinander gesprochen haben, Bella. Wenn du mich heute Früh gefragt hättest … hätte ich nie geglaubt, dass wir wieder einmal so miteinander reden würden. Aber jetzt ist es an der Zeit, dass ich wieder verschwinde.«
»Nein«, sagte Bella entschieden. »Bleib. Ich möchte mich weiter mit dir unterhalten. Ich bin noch nicht fertig, Svieta.«
»Du bist noch nicht fertig?«
»Richtig. Und du auch nicht.« Bella blickte sich um. »Komm, wir suchen uns ein Plätzchen, wo es etwas ruhiger ist. Nur wir beide und kein Takahashi und kein McKinley.«
»Na gut«, sagte Svetlana unbehaglich, als würde sie Bella immer noch nicht recht über den Weg trauen.
Svetlana hatte nichts in der Hand. »Möchtest du etwas trinken?«, fragte Bella. »Ich würde dir ja eine Zigarette anbieten, aber soweit ich mich erinnere, rauchst du nicht.«
»Gut, ich nehme einen Drink«, sagte Svetlana.
Bella rief mit einem Fingerschnippen den nächsten Roboter herbei. »Bedienung!«