Zehn


 

 

Jens Flettericks Hände vollführten exaltierte Bewegungen wie ein Schattenboxer. Bella, Hinks und Pagis starrten ihn wie hypnotisiert an. Er machte damit noch eine Minute lang weiter, während seine Gesten immer langsamer und resignierter wirkten, bis er ganz aufhörte. In der folgenden Minute lag er ruhig da und atmete flach. Danach klappte er die durchsichtige Maske hoch und befreite sich aus den Sitzgurten der Couch.

»Er ist weg«, sagte er.

»Weg?«, fragte Bella.

»Die Verbindung ist abgerissen. Ich kann die Maschine nicht mehr erreichen.«

»Aber wir haben noch lange nicht die Grenze der Funkreichweite erreicht«, sagte Hinks. »Ist die Signalstärke runtergegangen?«

»Nein«, sagte er. »Das Signal war plötzlich weg. Eben war es noch da, und ich konnte auf die Rockhopper zurückschauen. Auch Janus konnte ich sehen. Dann war es einfach nicht mehr da.«

»Als hätte jemand die Fäden der Marionette durchgeschnitten«, sagte Bella.

»Nein«, korrigierte er sie mit sanfter Entschiedenheit. »So hat es sich eigentlich nicht angefühlt. Es gab einen kurzen Moment … eine Art Übergang.« Zum ersten Mal erlebte Bella, dass dieser Mann, der sich für gewöhnlich sehr präzise ausdrückte, nicht die richtigen Worte fand. »Es war, als würden die Fäden in die Länge gezogen werden, bis sie zerrissen sind. Sie wurden auf keinen Fall gekappt oder zerschnitten.«

Hinks ging neben der Couch in die Knie. »Das ist seltsam«, sagte sie und strich mit dem Finger über eine Anzeige auf ihrem Flextop. »Schau dir die Dopplerverschiebung deiner Telemetrie an.«

Fletterick nahm die schwere Fernsteuerungsausrüstung vom Kopf. Ohne die Handschuhe auszuziehen, nahm er ihr den Flextop ab. »Die Linie müsste eigentlich flach sein«, sagte er.

»Das war sie auch, nachdem der Treibstoff aufgebraucht war. Das heißt, bis kurz vor dem Ende. Dann ist etwas Komisches passiert.«

»Zeig es mir«, sagte Bella.

Während der Beschleunigungsphase des Flugroboters war es zur erwarteten Dopplerverschiebung der Funksignale gekommen, und als er sich nach dem Ausbrennen des Triebwerks mit konstanter Geschwindigkeit fortbewegt hatte, war die Kurve dieser Verschiebung zu einer waagerechten Linie geworden. Daran hätte sich nichts ändern dürfen, bis die Funkverbindung abgerissen war.

Doch so war es nicht gewesen.

In den letzten sechs Sekunden vor dem Abreißen des Kontakts war die Dopplerkurve wieder angestiegen. Und zwar ungewöhnlich steil. Die Steigung der Kurve war stärker als während der einstündigen Beschleunigungsphase.

Da die Daten nur einen Zeitraum von sechs Sekunden umfassten, konnte Bella nicht mehr als eine grobe Schätzung der Beschleunigungsrate vornehmen, aber es sah danach aus, dass der Winkel etwa fünfmal steiler war. Das bedeutete, dass der Flugroboter mit etwa fünf Ge beschleunigt worden war, als der Funkkontakt unterbrochen wurde.

»Das ist unmöglich«, sagte sie und schüttelte entschieden den Kopf. »Das kann nur ein Fehler sein, eine falsche Messung.«

»Mit den Daten ist alles in Ordnung«, sagte Hinks.

»Dann gib mir eine Erklärung. Kann das Triebwerk noch einmal mit fünffacher Erdbeschleunigung gestartet sein?«

Fletterick übernahm die Antwort. »Nein. Er war darauf programmiert, bis zur restlosen Erschöpfung des Treibstoffs zu feuern. Selbst wenn noch ein kleiner Rest im System übrig gewesen wäre – was nicht der Fall war –, lässt sich nicht erklären, wie der Motor noch einmal auf fünf Ge hätte hochfahren können. Das hätten wir entsprechend programmieren müssen. Was wir nicht getan haben.«

»Also eine Explosion«, sagte Bella. »Etwas Unkontrolliertes. Eine Verpuffung von Treibstoffdämpfen, die heftig genug war, um dem Flugroboter einen kräftigen Schubs zu geben.«

»Wenn es eine Explosion gegeben hätte«, sagte Fletterick, »hätten vorher einige Telemetrie-Kanäle ausfallen müssen. Es sei denn, es war eine sehr genau abgestimmte Explosion, die nicht nur die kritischen Systeme unbeschädigt ließ, sondern den Flugroboter obendrein in genau dieselbe Richtung davonschleuderte, der er bis zu diesem Zeitpunkt gefolgt war.«

Bella sah ihn lächelnd an. Sie liebte Sarkasmus, vor allem bei Ingenieuren.

»Moment mal«, sagte Hinks und sah stirnrunzelnd auf die Anzeigen ihres Flextops. »Das hier ist wirklich seltsam. Das ist absolut widersinnig.«

»Noch etwas?«, fragte Bella.

»Siehst du diesen Telemetrie-Kanal?« Hinks zeigte auf ein Diagramm, das irgendeinen anderen Systemparameter auf einer Zeitachse darstellte. »Das sind die Daten des Beschleunigungsmessers an Bord des Flugroboters. Er funktioniert wie ein Trägheitskompass. Aber sieh dir mal an, wie es losgeht. Eine Stunde lang eine flache Linie bei einem Ge. Dann geht es mit einer Deltafunktion auf null Ge, als das Triebwerk den Betrieb eingestellt hat. So weit ist alles in Ordnung. Der Wert bleibt die nächsten fünfundzwanzig Minuten bei null, was dem Zeitraum entspricht, den der Flugroboter im freien Fall verbracht hat.«

»Und dann steigt er plötzlich auf fünf Ge«, sagte Bella.

»Nein – genau darauf will ich hinaus. Der Wert bleibt bei null Ge, bis zum allerletzten Datenpaket.«

»Das wird ja immer seltsamer«, sagte Bella. »Noch mal zum Mitschreiben: Die Doppler-Telemetrie sagt also, dass der Flugroboter während der letzten sechs Sekunden, in denen wir Kontakt hatten, mit fünf Ge davongeschossen ist.«

»Richtig«, bestätigte Hinks.

»Während der Beschleunigungsmesser an Bord der Einheit behauptet, es wäre überhaupt nichts geschehen.«

»Auch richtig.«

»Dann müssen über einen oder beide Kanäle falsche Daten gekommen sein. Das würde für meine theoretische Explosion sprechen, die den Beschleunigungsmesser zerstört hat.«

»Nein«, sagte Hinks geduldig. »Das würde nicht zum Bild passen. In diesem Fall hätten wir auf diesem Kanal gar nichts mehr empfangen. Stattdessen hat der Beschleunigungsmesser bis zuletzt saubere Daten geliefert.«

»Nach dem Beschleunigungsmesser«, sagte Fletterick, »hat der Flugroboter nichts von der fünffachen Erdbeschleunigung gemerkt.«

»Aber er ist beschleunigt«, sagte Bella.

»Laut Telemetriedaten.«

»Und welche Daten sind richtig?«

»Beide sind richtig«, sagte Svetlana. Sie war soeben in die Marionettenkabine getreten. Bella hatte ihr keine Erlaubnis erteilt, ihr Quartier zu verlassen. Ihr Erscheinen war sogar eine klare Verletzung ihrer Arrestvereinbarungen, die ihr begrenzten Zugang zum Schiffsnetz gestatteten, solange sie ihr Zimmer wie eine verriegelte und bewachte Gefängniszelle betrachtete. Doch in diesem Moment verspürte Bella keine Neigung, sie dafür zu bestrafen.

»Du hast eine Erklärung?«, fragte sie.

»Ja«, sagte Svetlana, »aber sie wird dir nicht gefallen.«

»Sag mir einfach, was du glaubst, das hier vor sich geht«, sagte Bella.

»Ich möchte, das Belinda zuerst etwas ausprobiert. Es dürfte nicht allzu lange dauern.«

»Ich höre«, sagte Pagis.

»Richte die Antennenschüssel auf die Erde, falls es nicht schon passiert ist.«

»Okay«, sagte Pagis und schüttelte dann den Kopf. »Aber ich habe immer noch kein Signal.«

»Richtig, aber ich glaube, ich weiß, wo du eins finden wirst. Du musst die Empfangsfrequenz um ein gutes Stück verschieben.«

»Wir haben den Dopplereffekt längst berücksichtigt.«

»Versuch es trotzdem. Versuch es mit tieferen Frequenzen, als hättest du den Grad der Verschiebung unterschätzt.«

»Ich verstehe nicht …«, begann Pagis.

Svetlana schnitt ihr ungeduldig das Wort ab. »Tu es einfach, okay? Fang beim Nennwert an und geh runter in die langen Frequenzen. Und sag mir, wenn du auf ein Signal stößt.«

Es ging schneller, als Bella erwartet hatte. Pagis gab Befehle in ihren Flextop ein und sprach direkt mit der Verbindungsantenne. Nach wenigen Minuten sah Bella, wie sie die Stirn runzelte und den Mund zu einem stummen »Was?« öffnete.

»Du hast das Signal gefunden, nicht wahr?«, sagte Svetlana. »Die Erde ist immer noch auf Sendung. Sie war es die ganze Zeit. Wir haben nur auf der falschen Frequenz gehorcht.«

»Das ist unmöglich«, sagte Pagis. »Ich musste etwa fünfzig Prozent mehr als die zu erwartende Rotverschiebung angeben.«

»Das kann nicht stimmen«, sagte Bella, aber sie konnte an Svetlanas Gesichtsausdruck erkennen – der gleichzeitig angstvoll und triumphierend war –, dass es keinen Zweifel gab.

»Aber es stimmt«, sagte sie.

»Svieta, was ist hier los?«

Svetlana hüstelte und sah die Anwesenden der Reihe nach an. »Ganz einfach: Wir bewegen uns wesentlich schneller, als wir glauben. Deswegen die größere Dopplerverschiebung. Ihr habt einen zu geringen Unterschied in der Bewegung relativ zur Erde angesetzt.«

»Wir wissen, wie schnell wir uns bewegen«, sagte Bella.

»Nein, das wissen wir nicht. Wir glauben es zu wissen, aber in Wirklichkeit haben wir einen schweren Fehler begangen.« Svetlana hielt kurz inne. Nun hatte sie ihre ungeteilte Aufmerksamkeit. »Es war gar nicht der Flugroboter, der mit fünf Ge beschleunigt wurde. Wir sind es. Wir sind es, die dieser Beschleunigung unterliegen.«

»Mit fünf Ge? Wir befinden uns im freien Fall. Wir bewegen uns nicht einmal so schnell, wie es ursprünglich geplant war.«

»Nein«, sagte sie mit resignierter Gelassenheit. »Wir bewegen uns wesentlich schneller als zuvor.«

»Seit Fletterick den Kontakt verloren hat?«

»Nein. Wir beschleunigen schon seit längerer Zeit, mindestens seit dem Moment, als wir das Signal von der Erde verloren haben. Wahrscheinlich schon ein paar Stunden länger.«

»Woher willst du das wissen?«

»Das ist die einzige Erklärung, die zu den Daten passt. Ihr habt außerdem Probleme mit der Astroorientierung. Gut. Das ist nämlich genau das, was ich erwarten würde, wenn wir plötzlich eine Menge Tempo zulegen.«

»Erklär mir das«, sagte Bella unbehaglich.

»Das System ist darauf konfiguriert, helle Sterne in bestimmten Konstellationen zu erkennen. Es soll Sterne ignorieren, die nicht in der exakten Winkeldistanz zueinander stehen. Das Problem ist nun, dass sich die Sterne relativ zueinander verschoben haben, also findet das System keine Entsprechungen mehr. Das bezeichnet man als Aberration, eine scheinbare Verschiebung der Sternenpositionen in Abhängigkeit von der Geschwindigkeit.«

»Das verstehe ich nicht«, sagte Hinks. »Was hat unsere Geschwindigkeit mit der Position der Sterne zu tun?«

Bella befürchtete schon, Svetlana würde der Robotikingenieurin an die Gurgel springen, weil sie keine Ahnung von einfachster Astrogationstheorie hatte, doch ihr Wutpotenzial schien völlig erschöpft zu sein.

»Stell es dir folgendermaßen vor. Du fährst nachts mit dem Auto, und es schneit. Es weht kein Wind, aber trotzdem scheint der Schnee waagerecht zu fallen und aus der Richtung, in die du fährst, auf deine Windschutzscheibe zu zielen. Obwohl du genau weißt, dass die Schneeflocken in Wirklichkeit senkrecht zu Boden fallen. Das Gleiche passiert mit dem Sternenlicht, nur in wesentlich geringerem Maße. Das Problem ist, dass die Abweichung ausreicht, um die Astroorientierung völlig zu verwirren.«

»Und das kann sie nicht ausgleichen?«, fragte Hinks.

»Sie könnte es schon. Sie ist darauf programmiert, die zu erwartenden Sternenpositionen unter Berücksichtigung der Aberration zu korrigieren. Aber damit sie es tun kann, muss sie wissen, wie schnell sich das System bewegt.«

»Die Roboter fliegen huckepack mit der Rockhopper«, sagte Saul Regis, der zum ersten Mal das Wort ergriff, seit Svetlana aufgetaucht war. »Sie gehen davon aus, dass das Schiff weiß, wie schnell es sich bewegt, also fragen sie es danach, um ihre kinetischen Parameter zu kalibrieren.«

»Anders ausgedrückt, sie fragen das Schiff, in welchem Rahmen sie ihre Daten korrigieren müssen, und das Schiff sagt es ihnen«, erklärte Svetlana. »Aber in diesem Fall irrt sich das Schiff.«

»Auch das können wir überprüfen«, sagte Bella. »Es dürfte nicht allzu schwierig sein. Aber damit ist immer noch nicht meine eigentliche Frage beantwortet: Was, zum Teufel, ist hier los?«

 

Bella forderte Svetlana und Craig Schrope auf, in ihr Büro zu kommen. Bevor Schrope einen Einwand gegen Svetlanas Verletzung der Arrestvereinbarungen vorbringen konnte, sagte sie: »Ich werde Svetlanas Anwesenheit dulden, da wir uns in einer Ausnahmesituation befinden. Sie hat bereits das Antennenproblem gelöst, und ich glaube, sie hat auch eine Erklärung für die Schwierigkeiten bei der Astroorientierung.«

Schropes Kugelschreiber glänzte in seiner Hand wie eine Pistole. »Dann wollen wir sie uns anhören.«

»Wie es aussieht, werden wir von Janus mitgezogen«, sagte Svetlana. »Wir sind quasi in sein Kielwasser geraten.«

Schrope verzog das Gesicht. »Wir bewegen uns durch luftleeren Raum. Im Vakuum gibt es kein Kielwasser.«

Svetlana behielt die Fassung. »Hier gibt es eine Menge Dinge, die wir nicht verstehen. Ich halte es nicht für ein Verbrechen, einen weiteren Fall auf die Liste zu setzen.«

Schrope antwortete mit einem unverbindlichen Achselzucken.

»Erklär uns, was deiner Ansicht nach vor sich geht«, sagte Bella, »und dann, was wir deiner Ansicht nach unternehmen sollten.«

»Ich bin der Ansicht, dass wir umkehren sollten, und zwar sofort. Wir sollten es schon jetzt tun, statt hier herumzusitzen und zu diskutieren.«

»Zuerst werde ich mir deine Begründung anhören«, sagte Bella geduldig. »Ich verspreche dir, so schnell wie möglich zu handeln, wenn du mich überzeugt hast.«

Svetlana beugte sich vor. »Ich werde es erklären, aber du musst handeln, sobald ich fertig bin. Jede Sekunde, die wir damit vergeuden …«

»Erklär es einfach«, sagte Schrope.

»Janus beschleunigt immer noch. Er hat nie aufgehört, es zu tun. Unser einziger Bezugspunkt war der Laser, den wir auf Janus gerichtet haben, und plötzlich stellten wir fest, dass sich der Abstand zu schnell verringerte. Also haben wir unser Triebwerk gedrosselt. Als wir die erste Beobachtungsposition erreichten, dachten wir, dass wir uns im freien Fall befinden. Aber das stimmt nicht. Wir beschleunigen nach wie vor.«

»Warum spüren wir dann nichts davon?«, fragte Schrope.

»Weil wir uns in einem beschleunigten Bezugsrahmen aufhalten, der sich wie ein unbewegtes System anfühlt. Für diesen scheinbaren Widerspruch habe ich keine Erklärung. Janus muss etwas sehr Seltsames mit der Raumzeit anstellen, und wir sind in dieser Seltsamkeit gefangen.«

Bella betastete ihre Halskette aus Haifischzähnen. »Was ist also mit dem Flugroboter geschehen?«

»Ich kann es mir nur so erklären, dass er sich weit genug von uns entfernt hat, um aus dem Kielwasser herauszudriften«, sagte Svetlana. »Er wechselte von diesem Beschleunigungsfeld in den nicht beschleunigten Raum. Für uns sah es so aus, als würde der Flugroboter plötzlich ohne erkennbaren Grund beschleunigen – nur dass wir selbst es waren, die ganze Zeit.«

»Aber fünf Ge – das ist absurd! Janus hat nie mit solchen Werten beschleunigt.«

»Etwas muss sich geändert haben. Als Janus den Saturnorbit verließ, hat er seine Eishülle abgeschüttelt, wie es bei einem materiellen Objekt zu erwarten ist, wenn es der Belastung einer Beschleunigung ausgesetzt ist. Doch irgendwann verlor Janus kein Eis mehr, das haben wir auf den Bildern gesehen. Wir haben nur nicht darüber nachgedacht, was das bedeutet.«

»Und was bedeutet das?«

»Janus scheint auf einen anderen Antriebsmechanismus umgeschaltet zu haben. Vielleicht hat er das erste System benutzt, um das Sonnensystem zu verlassen, etwas verhältnismäßig Langsames und Primitives, zumindest nach spicanischen Maßstäben, um seine Umgebung nicht zu sehr in Mitleidenschaft zu ziehen. Aber nun ist er weit von der Sonne entfernt. Hier draußen hat er etwas viel Mächtigeres aktiviert, etwas, das einen kompletten Mond mit fünf Ge beschleunigen kann.«

»Und wir werden vom Kielwasser mitgerissen«, sagte Bella.

Svetlana nickte. »So geht es schon seit mindestens einem Tag. Wir werden eine bessere Vorstellung von unserer wahren Geschwindigkeit erhalten, wenn wir die genauen Zahlen der zusätzlichen Dopplerkomponente haben. Aber ich kann schon jetzt eine Schätzung abgeben. Wir beschleunigen mit fünf Ge, seit wir den Kontakt zur Erde verloren haben, vielleicht schon etwas länger. Gestern haben wir uns mit drei Prozent Lichtgeschwindigkeit bewegt. Heute dürften es viereinhalb Prozent sein, vielleicht sogar fünf.«

»Was genau bedeutet das?«, fragte Schrope. Er klang wie jemand, der gerade seinem eigenen Geist begegnet war. »Im Hinblick auf die Missionsziele, meine ich.«

»Über die Missionsziele kann ich nichts sagen, Craig, aber ich weiß, was es für dich persönlich bedeutet, wenn wir hier nicht ganz schnell rauskommen. Es bedeutet, dass du in der Scheiße steckst. Es bedeutet, dass wir alle in der Scheiße stecken.«

Bella zuckte zusammen und erwartete eine heftige Reaktion von Schrope. Aber nichts kam. Er saß nur schockiert mit offenem Mund da, als hätte man ihm eine kräftige Dosis Beruhigungsmittel verpasst.

»Wenn das alles bestätigt wird«, sagte Bella vorsichtig, »was … sollten wir dann tun? Kommen wir überhaupt wieder aus diesem Kielwasser heraus?«

»Wir können es versuchen«, sagte Svetlana. »Der Flugroboter scheint keinen Schaden genommen zu haben, als er aus dem Beschleunigungsfeld driftete. Wir haben nur den Kontakt verloren, weil sich die Frequenzen verschoben haben.«

»In diesem Punkt sollten wir Gewissheit haben, bevor wir etwas versuchen. Ich werde Pagis und Hinks sagen, dass sie auf einer längeren Frequenz nach einem Signal suchen sollen.«

»Dafür bleibt uns keine Zeit, Bella. Wir müssen sofort wenden, bevor wir uns noch schneller aus dem Sonnensystem entfernen, als wir es jetzt schon tun.«

»Erst wenn wir wissen, dass der Flugroboter den Übergang unbeschadet überstanden hat. Das dürfte nicht allzu lange dauern.« Sie griff nach ihrem Flextop, um den Befehl weiterzuleiten. Sie bereute es, dass sie Pagis und Hinks nicht in ihr Büro mitgenommen hatte.

»Bella«, sagte Svetlana eindringlich, »hör mir zu! In jeder Minute, die du hier rumsitzt und grübelst, erhöht sich unsere Geschwindigkeit um weitere drei Kilometer pro Sekunde, die wir ausgleichen müssen, wenn wir jemals nach Hause zurückkehren wollen. Wir haben einfach nicht genug Zeit, um alle Aspekte gründlich zu beleuchten. Du musst jetzt handeln.«

Schrope erwachte plötzlich wieder zum Leben. »Der Flugroboter … wie lange hat er gebraucht, um das Kielwasser zu verlassen?«

Svetlana antwortete ihm ohne jegliche Gefühlsregung. »Er hat sich mehr als eine halbe Lichtsekunde von uns entfernt. Wenn wir jetzt mit einem halben Ge losfliegen, könnten wir den Übergang in zwei oder drei Stunden erreichen. Zu diesem Zeitpunkt werden wir uns entsprechend schneller bewegen.«

Schrope sah Bella an. »Vielleicht sollten wir über einen Rückzug nachdenken …« Er sagte es beinahe flehend, wie ein Kind, das um Süßigkeiten bettelt. Bella erkannte, was mit ihm los war: In diesem Moment war sein ordentlich strukturiertes Firmenuniversum kollabiert. Bis vorhin hatte Schrope noch alles unter Kontrolle gehabt. Doch nun war er der Gnade einer unberechenbaren und furchteinflößenden Macht ausgeliefert.

Bellas Flextop meldete einen Anruf von Belinda Pagis. Sie hatte die Aberration gemessen.

»Das sieht … gar nicht gut aus«, sagte sie, als hätte sich Bella viel zu große Hoffnungen gemacht. »Um die Verschiebung der Sternenpositionen auszugleichen, müssen wir …« – sie senkte den Blick und las die Zahl von einem anderen Flextop ab – »eine Geschwindigkeit von vier Komma neun acht Prozent der Lichtgeschwindigkeit ansetzen.«

»Gute Arbeit«, sagte Bella.

»Inzwischen haben wir auch ein schwaches Signal vom Flugroboter aufgefangen«, sagte Pagis beinahe entschuldigend. »Wir haben eine entsprechende Dopplerverschiebung zugrunde gelegt. Der Wert passt beunruhigend genau zu den anderen Zahlen.«

»Welchen Eindruck machen die Telemetrie-Systeme des Flugroboters?«

»Es gibt keine Anzeichen für Beschädigungen. Die Werte des Beschleunigungsmessers …«

»… standen die ganze Zeit bei null«, übernahm Bella.

»Äh … ja.«

Bella wandte sich an Svetlana. »Dann könnten wir es – theoretisch – überleben, wenn wir uns aus dem Kielwasser entfernen.«

»Fang sofort an«, drängte Svetlana. »Starte das Triebwerk mit einem halben Ge. Wir sollten die noch vorhandenen Massentreiber abwerfen – alles, was wir nicht unbedingt brauchen.«

»Zuerst müssen wir das Schiff wenden«, sagte Bella. »Das dauert etwa zwei Stunden, wenn wir nicht riskieren wollen, dass es auseinanderbricht.«

Svetlana schloss die Augen. »Mist. Das habe ich völlig vergessen.«

Die Rockhopper reagierte sehr empfindlich auf seitlich einwirkende Belastungen. Eine Drehung des gesamten Schiffs, damit das Fusionstriebwerk in die gewünschte Richtung feuern konnte, musste sehr behutsam durchgeführt und durfte nicht überstürzt werden.

Normalerweise gab es keinen Grund, sich mit einem solchen Manöver zu beeilen.

»Belinda«, sagte Bella, »lass liegen und stehen, was du gerade tust, und bereite alles für ein Wendemanöver um einhundertachtzig Grad vor. So schnell wie möglich. Wir gehen bis an die absoluten Grenzwerte für ein Drehmanöver.«

»Wird gemacht«, sagte Pagis. »Noch etwas?«

»Ja«, sagte Bella. »Während wir wenden, will ich die aktuellen Statusberichte. Haben wir noch genug Treibstoff zum Bremsen? Reicht unser Vorrat überhaupt noch aus, um nach Hause zu kommen?«

»Ich werde die Zahlen zusammenstellen«, sagte Pagis. »Bitte um Erlaubnis, mit dem Wendemanöver zu beginnen, sobald das Schiff bereit ist.«

»Erlaubnis erteilt. Fang sofort damit an, wenn es geht.«

Nachdem Bella die Verbindung getrennt hatte, sagte Svetlana leise: »Wir werden es nicht mehr rechtzeitig schaffen.«

»Wir werden es versuchen. Mehr können wir nicht tun.«

Im gesamten Schiff wurde die Besatzung mit Sirenen alarmiert. Für das bevorstehende Wendemanöver musste jeder seine Ausrüstung und sich selbst gegen den Impuls der Steuerdüsen sichern. Als er kam, war der Ruck nicht schlimmer als bei einem leichten Auffahrunfall, aber es fühlte sich trotzdem bedrohlich und falsch an. Ein Schubs in eine Richtung, in der sich das Schiff nur sehr selten bewegte.

Das Wasser in Bellas Aquarium schwappte gegen den Deckel, und die Fische wurden unruhig. Die Struktur des Schiffes knirschte und knarrte, bis sie sich wieder entspannte.

»Wir rotieren mit drei Bogenminuten pro Sekunde«, sagte Pagis zu Bella, »schneller geht es nicht.«

Bella stellte eine schnelle Kopfrechnung an. »Das ist nicht schnell genug. Bei diesem Tempo brauchen wir eine Stunde, bis wir uns um einhundertachtzig Grad gedreht haben.«

»Das System erlaubt keine schnellere Rotation«, sagte Pagis. »Die Funktion der Steuerdüsen wird von der Software eingeschränkt. Ich kann die Rotation verlangsamen, aber nicht beschleunigen.«

»Gib mir den Flextop«, sagte Svetlana. Bella schob ihn zu ihr hinüber und gab ihr ein Zeichen, dass sie sprechen sollte. »Belinda, hör mir genau zu. Du musst eine bestimmte Datei aktualisieren. Ich werde dir sagen, wie es geht, okay?«

»Schieß los«, sagte Pagis.

»Öffne ein neues Fenster und geh auf ›Flugdynamikoptionen‹. Aber es funktioniert nur, wenn der privilegierte Systemzugang aktiviert ist.«

Bella hörte, wie Pagis’ Finger über die Haut ihres Flextops strichen. Nach ein paar Sekunden sagte sie: »Hab es gemacht.«

»Dort müsstest du zwei Unterverzeichnisse sehen. Geh auf ›OMS‹ Unterstrich ›Optionen‹ und such nach einer Datei, die ›Sicherheitslimits‹ oder so ähnlich heißt.«

»Da ist nichts …«, sagte Pagis. »Moment … hier ist eine, die ›struct‹ Unterstrich ›lims‹ heißt.«

»Das dürfte sie sein. Öffne sie und scrolle nach unten, bis du den Parameter ›rotat‹ Unterstrich ›maxlimits‹ oder so ähnlich gefunden hast. Das müsste etwa die zwanzigste Zeile sein.«

»Hab sie«, sagte Pagis schnell.

»Im Zahlenfeld ist unsere erlaubte maximale Rotationsgeschwindigkeit in Grad pro Sekunde angegeben. Da müsste so etwas wie null Komma null fünf stehen.«

»Ja, hab es. Soll ich das ändern?«

Svetlana sah Bella an. »Dieses Sicherheitslimit ist aus gutem Grund angegeben. Es verhindert, dass das Schiff auseinandergerissen wird.«

»Erhöhe auf null Komma null sieben«, sagte Bella. »Ich übernehme die Verantwortung.«

»Dann tu es«, sagte Svetlana zu Pagis.

»Ich habe den Wert geändert«, sagte Pagis.

»Schließ die Datei, geh zurück in dein Navigationsfenster und schau mal, ob das Schiff die neue Winkelgeschwindigkeit akzeptiert.«

»Schon dabei. Haltet euch lieber fest, denn falls es funktioniert …«

Bella zuckte zusammen, aber nichts tat sich. Kein Ruck, kein Knirschen, kein Ächzen.

»Haben die Steuerdüsen reagiert?«, fragte Svetlana.

»Nein. Das Schiff akzeptiert die erhöhte Rotationsrate nicht.«

Bella sah, wie Svetlana die Augen schloss und sich konzentrierte. Ihr Gesicht nahm einen Ausdruck des Schmerzes und höchster intellektueller Anstrengung an. Svetlana kannte die Funktionsparameter der Rockhopper besser als irgendein anderer Mensch, aber das Schiff war einfach zu groß, als dass eine Person mit allen Details vertraut sein konnte. »Okay«, sagte sie, und ihr Gesicht entspannte sich. »Ich glaube, ich weiß, wo das Problem liegt. Das Steuersystem für die Düsen wird die Änderung in der Datei erst annehmen, wenn wir die Rotation auf null zurücksetzen und noch einmal von vorn anfangen.«

»Verdammt!«, murmelte Bella. »Wer kommt auf die Idee, sich so einen Blödsinn auszudenken?«

»Ingenieure«, antwortete Svetlana lakonisch.

»Also gut, dann machen wir es. Rotation stoppen und von vorn anfangen.«

Nach einigen angespannten Momenten ertönte wieder die Sirene. Diesmal kam der Stoß aus der entgegengesetzten Richtung und hob die langsame Drehung des Schiffes auf. Erneut protestierte die gesamte Konstruktion wie ein altes Haus, das von einer Sturmböe durchgeschüttelt wurde.

»Null«, meldete Pagis.

»Versuch es noch einmal«, sagte Svetlana zu ihr, »und halt dich bereit, den Befehl schnell zu widerrufen.«

Wieder warnten die Sirenen. Der neue Stoß war etwa anderthalbmal so stark. Der Unterschied war deutlich zu spüren. Das Wasser im Aquarium fand den Weg durch die Lücke unter dem Deckel und spritze auf Bellas Teppich. Das Schiff tat seine Missbilligung kund, aber wie es aussah, hielt es die Belastung aus.

»Wie läuft es?«, wollte Bella von Pagis wissen.

»Die Rockhopper ist immer noch ganz. Keine Meldungen über Lecks oder Überlastungen.«

Doch das Nervensystem des Schiffes hatte nach dem Unfall mit dem Massentreiber schwere Schäden erlitten, dachte Bella. Nur lebenswichtige Signale wurden über die gesamte Länge des Rückgrats geschickt. Sie hielt es für unwahrscheinlich, das wirklich jede Schadensmeldung weitergegeben wurde.

»Belinda, jemand aus deinem Team soll an einem Sichtfenster Stellung beziehen. Jemand soll sich mit eigenen Augen überzeugen, dass es keine Probleme mit dem Rückgrat oder der Triebwerkssektion gibt.«

»Alles sieht tadellos aus«, sagte Pagis. »Das Schiff hält.«

»Im Augenblick ja, aber ich will die Rotation noch einmal stoppen. Das ist mir immer noch nicht schnell genug.«

»Wir haben die Sicherheitsgrenzen bereits überschritten«, warnte Svetlana.

»Die Rockhopper schafft noch mehr. Belinda, ruf noch einmal die Datei auf und erhöhe die Rotationsrate auf ein Zehntelgrad pro Sekunde.«

Svetlana schüttelte warnend den Kopf. »Damit überschreitest du die Sicherheitsmarge um den Faktor zwei.«

»Du bist es, die es nicht abwarten kann, endlich von hier zu verschwinden.«

»Richtig, aber ich kenne dieses Schiff und weiß, was die Konstruktion definitiv nicht mehr aushalten wird.«

»Ich habe den Wert in der Datei geändert«, meldete sich Pagis vorsichtig. »Soll ich …?«

»Rotation auf null und Neustart«, sagte Bella.

»Ich rate davon ab, so etwas zu tun.«

»Habe ich zur Kenntnis genommen. Wenn das Schiff auseinanderbricht, bleibt dir immerhin die Genugtuung, dass du mit deiner Warnung recht gehabt hast.«

Die Manövrierdüsen stoppten die Drehung. Wieder schwappte Wasser aus dem Aquarium, und wieder verkündeten Geräusche das Missfallen der Rockhopper, aber das Schiff blieb heil. Zehn oder fünfzehn Sekunden vergingen, dann ertönte die Warnsirene erneut. Bella fragte sich, was die restliche Besatzung denken mochte, was hier vor sich ging? Wenn sie nicht so beschäftigt gewesen wäre, hätte sie sich die Zeit für eine Ansprache genommen. Aber vielleicht war es sogar rücksichtsvoller, nichts zu sagen. Es würde die Leute nicht unbedingt beruhigen, wenn sie wussten, dass gerade die Belastungsgrenzen des Schiffes getestet wurden. Lass mich daran glauben, dass dieses Raumschiff erheblich mehr aushält, als in den Konstruktionsparametern angegeben ist, betete Bella. Lass mich daran glauben, dass die Ingenieure in großzügiger Stimmung waren, als sie dieses Schiff bauten.

Das Schiff hielt auch den nächsten Ruck aus. Bellas Aquarium verlor noch mehr Wasser, aber die Feuchtigkeitsfilter würden die Flüssigkeit wieder einsammeln, auch wenn es Monate dauerte, bis sie den Weg zurück in ihr Quartier fand.

»Das Schiff ist immer noch in einem Stück«, sagte Pagis, ohne ein Geheimnis aus ihrer Überraschung zu machen. »Wir rotieren jetzt mit einem Grad alle zehn Sekunden. In etwa siebenundzwanzig Minuten haben wir die Wendung vollzogen.«

Dann müssen wir die Drehbewegung wieder aufheben, dachte Bella. Aber wenn das Schiff den letzten Ruck überstanden hatte, würde es mit den nächsten vermutlich auch keine Probleme haben. Mehr wollte Bella der Rockhopper nicht zumuten. Sie bewegten sich jetzt genauso schnell wie der Minutenzeiger einer Uhr, aber es wäre Wahnsinn, die Sache weiter auf die Spitze zu treiben.

»Trotzdem brauche ich bald den Statusbericht«, sagte Bella. »Je früher, desto besser.«

Noch dreißig Minuten, bis sie das Triebwerk zünden konnten. Dann noch zwei Stunden – mindestens –, bis sie den Punkt erreicht hatten, an dem der Flugroboter scheinbar beschleunigt hatte. Und die ganze Zeit zog Janus sie immer schneller mit sich, wodurch sich der Heimflug für sie zunehmend schwieriger gestalten würde.

Was war, wenn von der Flugkontrolle die Meldung kam, dass es nicht zu schaffen war? Sie brauchte für diesen Fall einen Plan, auch wenn dieser Plan lediglich darauf hinauslief, es trotzdem zu versuchen.

Die Idealsituation sah so aus, das sie noch genug Treibstoff in den Tanks hatten, um nicht nur langsamer zu werden, bezogen auf das Sonnensystem, sondern es auch schafften, innerhalb einer vernünftigen Zeitspanne nach Hause zurückzukehren. Wenn das nicht ging, musste die Erde ihnen ein Versorgungsschiff entgegenschicken. Und wenn auch das nicht möglich war, wenn sie nicht mehr schafften, als die Fahrt aufzuheben, dann würde ein Schiff den weiten Weg bis hierher auf sich nehmen müssen, um sie zu retten.

Vielleicht konnten sie so lange durchhalten. Mit dem geschlossenen Recyclingsystem der Lebenserhaltung konnten sie eine ganze Weile überleben. Es würde keine Bequemlichkeiten und keinen Luxus mehr geben, aber die Besatzung würde am Leben bleiben. Trotzdem brauchten sie Energie, damit die Lebenserhaltung funktionierte. Wenn ihnen der Treibstoff ausging, verloren sie damit auch ihre Hauptenergiequelle. Es gab Ersatzsysteme, aber sie waren darauf ausgelegt, das Schiff nach einem Reaktorausfall ein paar Wochen lang warm und bewohnbar zu halten. Wenn es Monate oder gar Jahre dauern sollte, bis die Rettungsmission von der Erde eintraf, wäre es für sie zu spät.

Das waren ziemlich schlechte Voraussetzungen.

Aber es gab einen noch schlimmeren Fall, den sie ebenfalls in Betracht ziehen musste. Was war, wenn sie es nicht schafften, langsamer zu werden? Bella war überzeugt, dass sie ihre Geschwindigkeit wenigstens etwas verzögern konnten, aber würde es genügen? Wenn das Schiff, nachdem der letzte Rest Treibstoff verbraucht war, immer noch mit ein oder zwei Prozent Lichtgeschwindigkeit in Richtung Spica raste …

Dann war es möglicherweise ausgeschlossen, dass man sie jemals einholen würde.

Zumindest nicht in den nächsten Jahren. Und danach? Würde sich dann noch jemand die Mühe machen, hundertfünfundvierzig kalte, ausgetrocknete Leichen zu bergen?

DeepShaft würde es auf keinen Fall tun.

Ihr Flextop summte. »Ja, Belinda?«, fragte sie und hoffte, dass niemand ihre tiefe Besorgnis bemerkte.

»Ich habe den Bericht. Er müsste noch einmal gegengecheckt werden, aber …«

Bella schnitt ihr das Wort ab. »Wie lautet das Urteil?«

»Wir können die Fahrt aufheben, wenn wir das Kielwasser innerhalb der nächsten drei Stunden verlassen.«

»Und dann?«

»Dann ist gerade noch genug Treibstoff übrig, um einen Flugvektor zu erreichen, der uns nach Hause führt. Für das Bremsmanöver reicht es nicht mehr, aber wenn wir es bis dorthin geschafft haben, kann man uns mit Shuttles abholen.«

»Wie lange wird es dauern?«

»Zehn Monate«, sagte Pagis. »Das ist zumindest die optimistischste Schätzung.«

Bella warf einen Blick zu Svetlana. »Ich vermute, diese Prognose fußt auf der Annahme, dass unsere Messdaten die korrekte Treibstoffmenge angeben.«

»Natürlich«, sagte Pagis.

»Mach eine neue Berechnung«, sagte Bella zu ihr. »Geh davon aus, dass unser Treibstoffvorrat fünfzehn Prozent niedriger ist, als das System angibt.«

Schrope rührte sich. »Das hatten wir doch längst abgehakt. Es gibt keinen Grund, Barseghians Mutmaßungen ernst zu nehmen.«

»Wir werden es nicht schaffen«, sagte Svetlana zu Bella, als wäre Schrope gar nicht anwesend. »Es wird schon so knapp. Zieh fünfzehn Prozent Treibstoff ab, und wir schaffen es nicht einmal, unsere Fahrt aufzuheben.«

»Ich warte, bis ich den neuen Bericht gehört habe«, sagte Bella. »Aber falls du – nur mal angenommen – damit recht hättest, könnten wir dann irgendetwas dagegen tun?«

»Die Zeit, um etwas zu tun«, sagte Svetlana, »wäre vor zwei Wochen gewesen.«

»Aber ich habe mich dagegen entschieden. Also müssen wir von der Situation ausgehen, in der wir uns jetzt befinden. Wenn der Treibstoffvorrat wirklich kritisch wäre, könnten wir dann unsere Situation verbessern, indem wir früher aus dem Kielwasser herauskommen?«

Svetlanas Blick wurde glasig, als sie darüber nachdachte. Trotz der Spannungen zwischen ihnen konnte sie eine technische Frage nicht einfach ignorieren.

»Vielleicht … aber wir haben unsere Berechnungen bereits mit einem halben Ge angesetzt.«

»Das weiß ich«, sagte Bella. »Aber könntest du mehr aus dem Triebwerk herausholen? Würden wir auf ein Ge kommen? Oder mehr als ein Ge, und sei es nur so lange, bis wir das Kielwasser hinter uns gelassen haben?«

»Ich … ich weiß es nicht«, sagte Svetlana. »Darüber habe ich noch nie nachgedacht. Das liegt weit außerhalb der technischen Vorgaben für das Schiff.«

»Wird es die Belastung aushalten?«

»Wenn wir die noch vorhandenen Massentreiber abwerfen …«

»Davon kannst du ausgehen.«

»Dann könnte es vielleicht klappen. Aber das Triebwerk … ich weiß nicht. Ich müsste es mir ansehen. Wir würden mit einer doppelt so hohen Rate wie sonst Treibstoff verbrennen …«

»Aber es könnte besser sein, den Treibstoff jetzt zu verbrennen, während wir uns noch im Kielwasser aufhalten.«

»Ich verstehe.« Svetlana wirkte plötzlich abwesend, als hätte sich der Geist vom Körper gelöst und würde nun durch die mentale Architektur des Schiffes streifen und besorgniserregende neue Möglichkeiten erkunden.

»Fünfzehn Minuten bis zum Ende der Rotation«, meldete Pagis. »Die Zahlen für die Flugdynamik sind da. Es sieht nicht gut aus für die Variante mit fünfzehn Prozent weniger Treibstoff. Am Ende würden wir uns immer noch in Richtung Spica bewegen.«

»Wie schnell?«

»Mit viertausend Kilometern pro Sekunde. Das ist mehr als …«

»Ein Prozent Lichtgeschwindigkeit. Vielen Dank, Belinda. Jetzt tu mir bitte noch einen letzten Gefallen. Lass die Simulation ein weiteres Mal laufen. Geh vom gleichen Treibstoffdefizit aus, aber mit einer Schubphase von zwei Ge während der ersten dreißig Minuten oder bis wir das Kielwasser verlassen haben.« Bella sprach mit übertriebener Deutlichkeit, da ihr bewusst war, dass ein einziges Missverständnis sie teuer zu stehen kommen konnte. »Und noch etwas, Belinda.«

»Ja, Bella?«

»Diese Antwort brauche ich sehr schnell.«

 

Bella setzte sich an ihren Schreibtisch und atmete tief durch. Jetzt war es so weit, dachte sie. Jetzt war er gekommen, der Kulminationspunkt, der Augenblick des kritischen Maximums, von dem sie immer gewusst hatte, dass sie ihn zu irgendeinem Zeitpunkt ihrer Karriere erleben würde. Hin und wieder hatte sie sich gefragt, in welcher Form er auftreten mochte, und vor allem, wie sie damit umgehen würde. Sie hatte immer gehofft, dass ihre Reaktion zumindest angemessen sein würde.

Was sie sich nie vorgestellt hatte, waren die besonderen Begleitumstände dieses Augenblicks – an ihrem Schreibtisch sitzend, die Füße auf dem klitschnassen Teppich.

Aber das war typisch für die Wirklichkeit. Ausgerechnet in den epischen Momenten fiel man ins Wasser.

Der Flextop wackelte leicht. Ihre Hände zitterten. Die Flugdynamik besagte, dass eine Beschleunigung mit zwei Ge den größten Teil des Treibstoffdefizits ausgleichen würde. Damit kamen sie nicht nach Hause, aber sie würden im lokalen Bezugssystem zu einem Halt kommen – wobei »Halt« in diesem Fall bedeutete, dass ihre Restgeschwindigkeit in Relation zur Sonne nicht mehr als einige zehn Kilometer pro Sekunde betragen würde. Planetentempo.

Es war also zu schaffen.

Aber sie wären immer noch entsetzlich weit von zu Hause entfernt. Natürlich nur unter der Voraussetzung, dass das Schiff die Brennphase überstand. Bella hatte Svetlanas Gesicht gesehen, und es hatte nichts gezeigt, was auch nur entfernte Ähnlichkeit mit Optimismus hatte. Es war ein brutales Risiko, und im besten Fall würden sie damit erreichen, dass sie unaussprechlich fern von der Erde gestrandet waren, ohne Treibstoff, um die Systeme am Laufen zu halten. Sie wären tot, bevor sie ein Rettungsschiff oder eine Versorgungseinheit erreichen konnte.

Aber was war die Alternative?

Es gab tatsächlich eine.

Sie nahm ihren Flextop und schickte einen Anruf an ihren ehemaligen Stellvertreter ab. Jim Chisholm war nicht gerade hellwach, aber immerhin bei Bewusstsein. Falls er geschlafen hatte, mussten die heftigen Stöße des Wendemanövers ihn geweckt haben, selbst in der grünen Stille der Krankenstation.

»Hallo, Bella«, sagte er und gönnte ihr ein müdes Lächeln. »Also, was ist los?«

»Wir stecken ganz schön in der Scheiße.«

»Das hatte ich mir bereits gedacht.«

»Ich glaube, ich werde eine sehr schwere Entscheidung treffen müssen.« Sie versuchte ihm in die Augen zu blicken, so gut es das Bildübertragungssystem des Flextops erlaubte. Die blaugrüne Tönung der sterbenden Iridophoren ließ Chisholms Überlebenschancen noch schlechter erscheinen.

»Eine, die auch mich betreffen würde?«, fragte Chisholm mit einem Lachfältchen im rechten Augenwinkel.

»Eine, die uns alle betrifft«, sagte Bella und verzog das Gesicht. »Aber dich noch mehr als alle anderen.«

»Geht es dabei um das Wohl der Besatzung?«

»Wie immer.«

»Sag mir, was du deiner Ansicht nach tun musst.«

Sie informierte ihn über alles, was sie in der vergangenen Stunde erfahren hatten. Chisholm hörte ihr wie üblich ohne Unterbrechung zu. Nur eine winzige Hebung der Augenbrauen war ein Anzeichen für seine instinktive Skepsis. »Alles ist wahr«, flüsterte sie. »Wir sind in einen Sog hineingeraten, und wenn wir ihn nicht verlassen, wird er uns bis nach Spica tragen.«

»Aber selbst wenn wir herauskommen, wäre uns damit vielleicht gar nicht geholfen«, sagte Chisholm.

»Ich würde das Risiko eingehen, darauf zu hoffen, dass der Treibstoff für den Rückflug reicht. Ich würde auch das Risiko eingehen, das Triebwerk auf zwei Ge hochzufahren. Aber wenn ich mich in einem dieser zwei Punkte täusche, sind wir entweder ohne Energie gestrandet oder tot.«

»Ganz gleich, wie es ausgeht, meine Chancen, in den nächsten drei Wochen nach Hause zu kommen, sehen wohl nicht so blendend aus, nicht wahr?«

»Es tut mir leid«, sagte sie.

Er schüttelte den Kopf, als müsste sie sich darum keine Sorgen machen. »Es war ein kalkuliertes Risiko. Ich wusste genau, dass ich keine Garantien erwarten konnte.«

Er klang tapfer und schien sein Schicksal zu akzeptieren. Eine brillante Vorstellung, dachte Bella, aber Jim hatte einen Hoffnungsschimmer erhalten, und nun wurde ihm plötzlich jede Überlebenschance verweigert. Sie hatte ihm praktisch erklärt, dass er sterben würde.

»Möchtest du meinen Rat, für welche Möglichkeit du dich entscheiden solltest?«, fragte er ohne Gehässigkeit.

»Nein«, sagte sie. »Ich weiß, was ich tun muss. Ich bin immer noch meiner Besatzung verpflichtet, Jim. Ich dachte, es wäre meine Aufgabe, sie heil nach Hause zu bringen …« Sie sprach nicht weiter.

»Und jetzt?«

»Jetzt muss ich dafür sorgen, dass meine Leute am Leben bleiben. Sie nach Hause zu bringen wäre die Luxusvariante, und ich werde es tun, wenn ich es kann. Aber bevor ich mich darum kümmern kann, muss ich mich mit dem ersten Problem auseinandersetzen.«

»Du hast etwas Bestimmtes im Sinn?«

»Janus«, sagte Bella. Sie wartete, dass Chisholm etwas sagte, das seine Ungläubigkeit oder Verachtung zum Ausdruck brachte, aber die erschlaffte Maske seines Gesichts ließ keine Regung erkennen. Vielleicht hatte er sie falsch verstanden, oder er dachte, dass sie endgültig den Verstand verloren hatte. »Wir brauchen vor allem Energie«, sagte sie und stolperte über ihre eigenen Worte, während sie sich bemühte, ihn zufrieden zu stellen. »Energie ist wichtiger als Treibstoff. Die Rockhopper ist ein geschlossenes Recyclingsystem. Mit genug Energie können wir sehr lange durchhalten.«

»Aber nicht ewig«, warnte Chisholm.

»Nein, nicht ewig. Aber wenn wir mit leeren Tanks am Rande des Sonnensystems stranden, halten wir mit etwas Glück einen Monat durch. Wenn wir jedoch hier bleiben … auf jeden Fall haben wir noch jede Menge Treibstoff in den Tanks. Er wird sehr lange reichen, wenn wir ihn nur dazu verwenden, das Schiff mit Energie zu versorgen.«

»Trotzdem wird er eines Tages aufgebraucht sein.«

»Ich weiß«, sagte Bella, »aber wir haben mehr als nur den Treibstoff. Wir haben Janus. Wir haben Menschen und Maschinen. Wir haben unseren Verstand. Wenn wir keine Methode finden, Energie von diesem Ding abzuzapfen – nur genug, um uns am Leben zu erhalten –, dann haben wir es nicht verdient, am Leben zu bleiben.«

»Ist das dein Ernst? Glaubst du wirklich, wir hätten bessere Überlebenschancen, wenn wir hier bleiben, statt so schnell wie möglich kehrt zu machen?«

»Hier würde uns praktisch unbegrenzt Zeit zur Verfügung stehen.«

»Während wir immer tiefer in den interstellaren Raum hinausgetragen werden.«

»Aber wir würden leben. Wir können es schaffen, Jim. Ich weiß es. Da ist mehr als nur Energie. Schau dir das viele Wassereis an, das noch auf der Rückseite vorhanden ist. Wir können es abbauen, um unsere Reserven aufzustocken. Wir können organische Moleküle herausfiltern … wir können nach Möglichkeiten suchen.«

»Du hast schon länger darüber nachgedacht, nicht wahr?«

»Seit etwa zehn Minuten. Aber selbst wenn ich zehn Jahre zum Nachdenken hätte, glaube ich nicht, dass ich zu einer anderen Entscheidung gelangen würde.«

»Stimmt«, sagte er. »Wahrscheinlich hast du recht. So ist es immer mit den harten Typen.«

»Es ist meine Verantwortung, nicht wahr?«

»Ich glaube, meine persönliche Lage disqualifiziert mich, dazu eine Meinung zu haben«, sagte er und fuhr mit der Zunge über die ausgetrockneten Lippen. »Aber wie auch immer du dich entscheidest, du hast meine uneingeschränkte Rückendeckung. Du hast recht – sie nach Hause zu bringen ist nicht deine erste Pflicht.«

»Dann siehst du es genauso wie ich«, sagte sie.

»Das habe ich so nicht behauptet.« Seine Miene drückte Tadel aus, aber nicht ohne Sympathie. »Andererseits würde ich dir auch nicht widersprechen. Aber wie du gesagt hast: Es kann nur deine Verantwortung sein.«

»Ich bin mir nicht sicher, wie die anderen es aufnehmen werden.«

Chisholm wollte etwas darauf erwidern, als die Sirenen seine Worte übertönten. »Das Ende des Wendemanövers«, sagte Bella. »Der Bug zeigt nach Hause. Die Leute dürften jetzt von mir erwarten, dass ich den Befehl zum Zünden des Haupttriebwerks erteile.«

»Du hättest immer noch die Chance, ihnen zu geben, was sie wollen«, sagte Chisholm.

»Das könnte ich, aber ich glaube, unsere Chancen einer Rückkehr stehen etwa eins zu vier. Ich fürchte, das ist mir nicht genug.«

Das Schiff hielt auch diesmal, als die Düsen erneut feuerten, um die Drehbewegung zu stoppen. Wieder spritzte Wasser aus dem Aquarium, aber nicht so viel wie bei den anderen Malen.

»Bella, würdest du mir einen Gefallen tun?«, fragte Chisholm, als wäre ihm gerade eine Idee gekommen.

»Natürlich«, sagte sie, ohne nachzudenken.

»Ruf Ryan an. Bitte ihn, mich von diesen Apparaten loszumachen. Ich glaube, meine Anwesenheit könnte hilfreich sein, wenn du das der Besatzung erklären willst.«

»Nein«, sagte sie voller Mitgefühl. »Du bleibst in deinem Bett.«

»Ich bin schon längst tot«, sagte Chisholm. »Mich nützlich zu machen ist das Mindeste, was ich jetzt noch tun kann.«