Zwölf
Die nächsten drei Tage waren nicht einfach, auch nicht für die siegreiche Partei. Schließlich hatte man Bella auch noch des letzten Restes von Befehlsgewalt beraubt. Sie wurde in eine Schlafkapsel für die normale Besatzung gebracht und eingeschlossen, ohne Nahrung, Wasser oder Zugang zum Schiffsnetz. Erst einen Tag später kam jemand vorbei, um nachzusehen, ob sie noch lebte, und erst am übernächsten Tag durfte sie Fragen stellen. Trotzdem drangen Lärm und Erschütterungen durch die dünne Kunststofftür und versorgten sie mit elementaren Nachrichten aus dem Schiff. Sie war der Sporthalle nahe genug, um Geräusche mitzubekommen, und sie horchte wie eine Spitzmaus in ihrem Loch nach draußen.
Sie hörte Jim Chisholms angestrengte Stimme, wie er verzweifelt versuchte, die zwei Fraktionen an Bord miteinander zu versöhnen. Da alle ihm vertrauten, waren die Menschen bereit, ihn anzuhören, wenn er zum Frieden aufrief. Was geschehen war, war geschehen, sagte Chisholm. Ein Mensch hatte das Leben verloren. War damit nicht genug Blut in diesem Schiff geflossen?
Thom Crabtree sollte das letzte Opfer sein. Mit ihm sollten die Feindseligkeiten enden.
Sie hörte, wie Ryan Axford ähnliche Appelle vorbrachte. Er sagte, er würde sich weigern, jemanden zu behandeln, von dem er glaubte, dass er gegen ein anderes Besatzungsmitglied gewalttätig geworden war. Die Leute mochten und respektierten auch ihn, aber als Arzt war Axford zur Hilfe verpflichtet. Also fragten sie sich, wie ernst er es wirklich meinte.
Außerdem war er nicht der einzige Mediziner an Bord.
Es herrschten weiterhin große Zweifel, wie es tatsächlich um die Rockhopper stand. Die große Frage – ob man nach Hause fliegen oder Janus hinaus in die Sternennacht folgen sollte – konnte nicht befriedigend beantwortet werden. Einige aus Svetlanas Gruppe freundeten sich bereits mit der Idee an, dass Janus vielleicht doch ihre einzige langfristige Überlebenschance darstellte, dass es Selbstmord wäre, jetzt noch das Kielwasser zu verlassen.
Aber es gab immer noch andere, die dafür waren, den Rückflug zu wagen, ganz gleich, wie die Chancen standen. Sie glaubten, dass die Erde eine Möglichkeit zu ihrer Rettung finden würde, auch wenn sie sich immer weiter von der Sonne entfernten, wie ein Stein, der in einen Brunnen fiel. Mit jeder verstreichenden Stunde wurden ihre Argumente unhaltbarer, aber sie ließen sich dadurch nicht beirren, weiter für ihre Interessen zu streiten. Und es war ein heftiger Streit. Bella hörte immer wieder die gleichen wütenden Argumente, während sie stundenlang in ihrem Gefängnis ausharren musste. Die Stimmung kochte zwar nie über, aber es gab Momente, wo bestimmte Leute davon abgehalten werden mussten, sich gegenseitig an die Kehle zu gehen. Und die ganze Zeit beschleunigte Janus weiter und zog die Rockhopper mit sich.
Dann hielt Svetlana ihre Ansprache.
Sie wurde über die Schiffslautsprecher übertragen, damit jeder sie hören konnte. Pumpen und Generatoren wurden heruntergefahren. Die Menschen lauschten schweigend, niemand wagte es zu husten, um kein Wort zu verpassen.
»An alle Besatzungsmitglieder der Rockhopper«, begann sie. »Wir stehen vor einem Problem. Wir haben es nicht bewusst herbeigeführt, und niemand von uns hat gewollt, dass es so kommt. Das bedeutet nicht, dass keiner von uns es vorausgeahnt hätte, dass keiner von uns versucht hätte, etwas dagegen zu unternehmen. Ich habe versucht, Bella zu überzeugen, mit dem Schiff umzukehren, bevor wir Janus erreichen würden, und ich habe versucht, den Rückflug einzuleiten, nachdem wir Janus erreicht hatten.
Beide Male ist es mir nicht gelungen, und ihr müsst mir glauben, dass es mich am meisten von uns allen bestürzt. Ich weiß, dass manche von euch der Ansicht sind, wir sollten einen weiteren Versuch unternehmen umzukehren, das Kielwasser zu verlassen und unsere Geschwindigkeit so weit wie möglich zu verringern. Glaubt mir, ein Teil von mir sieht es genauso, dass wir es einfach nur versuchen sollten, um zu sehen, wie weit wir kommen.
Aber es wird uns nichts nützen.
DeepShaft hat uns betrogen. Die Firma wusste, dass wir nicht genug Treibstoff an Bord hatten, um den Flug zu Janus und zurück zu schaffen. Aber dadurch hat sich Powell Cagan nicht irritieren lassen. Sie haben sich in unsere Systeme gehackt und unsere Daten gefälscht, damit es so aussieht, als könnten wir es schaffen. Aber wir hatten von Anfang an keine Chance. Powell Cagan wusste von Anfang an, dass er uns auf ein Selbstmordkommando schickte, und er hat den Befehl erteilt, obwohl er genau wusste, was mit uns geschehen würde. Und nicht nur Powell, sondern jeder andere Mitarbeiter von DeepShaft, der an dieser Aktion beteiligt war. Er hat den Betrug nicht allein organisiert.
Ich möchte euch eine Frage stellen: Glaubt ihr, dass solche Leute Zeit und Geld in eine Rettungsaktion investieren würden? Denkt daran, dass es keine normale Rettungsaktion wäre, sondern die technisch aufwändigste Mission der bisherigen Weltraumfahrt. Dazu wäre ein Schiff nötig, das besser und schneller ist als alles, was die Konstrukteure bis heute entworfen haben – einschließlich der Chinesen. Und dieses Schiff müsste uns erreichen, bevor unsere letzten Energievorräte versiegen.
Eine solche Mission lässt sich nicht durchführen, Leute. Nicht einmal der beste Wille der Welt könnte uns jetzt noch retten.
Aber wir werden nicht sterben. Wie ich bereits sagte, hat niemand von uns gewollt, dass es so kommt. Aber jetzt stehen wir vor dem Problem, und wir sollten versuchen, das Beste daraus zu machen. Bella hat uns ein Angebot gemacht. Es ist ein ziemlich beschissenes Angebot, aber wir haben kein besseres.
Wir bleiben bei Janus. Wir werden keine weiteren Versuche unternehmen, das Kielwasser zu verlassen. Ich habe Maßnahmen ergriffen, die verhindern, dass sich der Fusionsreaktor für das Triebwerk verwenden lässt. Damit haben wir Energie für das Schiff, und wir können den Treibstoff für die Avenger und die Crusader verwenden, wenn wir sie brauchen. Aber mit der Rockhopper werden wir nie wieder Fahrt aufnehmen können. Das ist mein Angebot an euch. Es bedeutet, dass wir hier bleiben, ganz gleich, wie schwierig es für uns wird, ganz gleich, wie verlockend die Alternative klingen mag. Denn alle Alternativen würden uns töten.
Wir werden auf Janus landen. An der Heckseite klebt immer noch ein hübscher Brocken Wassereis, also brauchen wir uns über diesen Punkt keine Sorgen zu machen. Ganz gleich, wie schnell Janus wird, wir haben zweihundert Kilometer Abschirmung zwischen uns und dem Bug. Das dürfte ausreichen.
Wir können überleben. Für die nächste Zeit können wir uns mit Energie aus dem Reaktor versorgen, also werden wir es an Bord warm haben. Wir haben Licht und andere Annehmlichkeiten. Auf lange Sicht werden wir einen Weg finden, Janus zur Energiegewinnung zu nutzen, aber diese Brücke müssen wir noch nicht morgen überqueren.
Wir haben ein geschlossenes Abfallrecyclingsystem. Wir haben aeroponische Filter und Zeolithsiebe. Solange unsere Maschinen funktionieren, solange die Pflanzen wachsen, werden wir nicht hungern. Wir werden etwas Wasser aus dem Kreislauf verlieren, aber wir können uns auf Janus mit Eis versorgen, wenn es nötig wird. Wir haben genug Medikamente für die nächste Zeit, nicht genug, um Wunder zu bewirken, aber es sollte die meisten von uns am Leben erhalten. Wir haben Zentrifugen, um Schwerkraft zu erzeugen. Wir haben Landebeiboote, Traktoren und Oberflächenkuppeln. Wir haben Roboter.
Wir haben fünfzigtausend Tonnen Schiffsmasse, die DeepShaft nicht in einem Stück zurückbekommen wird.«
Damit löste sie gedämpften Jubel aus, der durchs ganze Schiff hallte.
»Wir werden die Rockhopper an Janus andocken, wie wir es mit den Massentreibern gemacht haben. Wir graben eine tiefe Grube und kleiden sie mit Sprühstein aus. Darin verankern wir das Schiff, mit dem Triebwerk voran, ganz einfach.
Und dann sollten wir uns mit Janus anfreunden, denn wir werden eine ganze Weile hier sein.«
Svetlanas Ansprache bewirkte keine Wunder, aber Bella musste einräumen, dass sich in den folgenden Stunden die Anspannung im Schiff veränderte. Aufflackernde Meinungsverschiedenheiten wurden schnell unterdrückt. Svetlana hatte in der Tat mit einem Schraubenzieher (oder eher einer ferngesteuerten Faust) auf ein empfindliches Teil des Fusionsreaktors eingeschlagen, sodass das Triebwerk keinen konstanten Schub mehr liefern konnte. Bella fragte sich, wie schwer ihr diese taktische Sabotage gefallen sein mochte.
Also war Svieta schließlich doch auf Bellas Linie eingeschwenkt. In einer vollkommenen Welt hätte das genügen müssen, um sich wieder in die Augen sehen zu können, aber Bella wusste es besser. Es wäre mehr als nur ein gemeinsames Ziel nötig, um die Kluft zwischen ihnen zu überwinden.
»Mit dir habe ich nicht gerechnet«, sagte Bella, als Parry die Tür des Quartiers zur Seite schob.
Parry nahm seine rote Mütze ab und kratzte sich am Kopf. Er war hundemüde, blass und unrasiert. Der Stress sickerte aus jeder Pore seiner Haut. »Craig wollte nicht mit dir reden«, sagte er, und sie nahm in seinen Worten etwas wahr, das unter der oberflächlichen Bedeutung der Aussage lag. Bella ließ sich alles, was sie über Craig Schrope wusste, durch den Kopf gehen, alles, was sie über Typen wie ihn wusste, und nickte.
»Craig will mit niemandem reden, nicht wahr?«
»Craig hat große Schwierigkeiten, sich mit der Situation abzufinden«, sagte Parry. »Was nicht heißt, dass es allen anderen besser geht, aber …«
»Für Craig dürfte es besonders schwierig sein. Erheblich schwieriger. Er hat sich mit Leib und Seele der Firma verschrieben. Aber die Firma existiert nicht mehr – zumindest nicht mehr für uns. Hier geht es nur noch um uns und die Rockhopper. Craig entfernt sich mit jeder Sekunde weiter von seiner kleinen Welt.«
»Wir arbeiten ohne ihn. Vielleicht überlegt er es sich irgendwann anders – vielleicht auch nicht.«
»Du hast ihn oder Leute wie ihn nie gemocht.«
»Ich versuche nur, das Schiff irgendwie am Laufen zu halten. Wenn Craig uns dabei helfen kann, ist er dabei. Wenn nicht, kommen wir auch ohne ihn zurecht.«
»Und wie steht Svetlana dazu? Oder die anderen Abteilungsleiter?«
»Du weißt, wer auf unserer Seite steht und wer nicht«, sagte Parry ohne erkennbare Verbitterung. »Zur Zeit schmeißen Svetlana und ich den Laden. Wir haben die Unterstützung von zwei Dritteln der Besatzung, mehr oder weniger.«
»Darunter auch zwei Mörder.«
»Um die werden wir uns noch kümmern.« Die Art, wie er es sagte, machte ihr mehr Angst als alles andere. »Du weißt, dass ich alles versucht habe, um zu verhindern, was geschehen ist.«
»Wenn du mich unterstützt hättest, hätte Thom Crabtree nicht tun müssen, was er getan hat.«
»Und wenn du auf Svieta gehört hättest, wären wir niemals dort gelandet, wo wir heute stehen. Wir sollten aufhören, uns gegenseitig Vorwürfe an den Kopf zu werfen.«
»Das sehe ich genauso«, sagte Bella. »Was schlägst du stattdessen vor?«
»Wir sollten versuchen, das Schiff zusammenzuhalten. Die Leute, die sich auf Craigs Seite geschlagen haben, können vorläufig den Laden schmeißen, aber wir brauchen die Hilfe von allen, wenn wir über die nächsten paar Wochen hinausschauen. Deshalb muss ich dafür sorgen, dass die Wunden verheilen.«
»Und bei mir willst du anfangen«, sagte Bella.
»Ich brauche etwas, um die Rückkehrer zu beschwichtigen, um sie wieder zu integrieren.«
»Meinen Kopf auf einem Tablett?«
»Nein«, sagte er, aber ohne die spontane Ablehnung, die sie erwartet hatte, als wäre ihre Exekution zumindest eine Möglichkeit gewesen. »Was wir brauchen …« Parry stockte und konnte ihr plötzlich nicht mehr in die Augen sehen. »Du musst hier unten bleiben, bis sich die Unruhen gelegt haben. Ich werde dafür sorgen, dass es dir an nichts fehlt, unter besseren Bedingungen, als man dir bis jetzt zugestanden hat.«
»Ich höre da ein ›aber‹ heraus.«
»Du darfst zu niemandem Kontakt haben. Die einzigen Menschen, die mit dir sprechen dürfen, sind ich und jemand aus der medizinischen Abteilung.«
»Ich muss mit Svieta reden«, sagte Bella eindringlich.
»Aber sie will nicht mit dir reden. Nie mehr.«
»Dieses Schiff braucht mich, Parry. Ich weiß, dass ich unsere Freundschaft zerstört habe, aber hier geht es um mehr. Ich werde mich Svietas Autorität unterwerfen, wenn ich sie damit glücklich mache, aber gebt mir die Möglichkeit, etwas zu bewirken. Gebt mir genug Freiheit, um helfen zu können.«
»Man hat dich abgesetzt, Bella. Svieta sieht es so, dass du wichtige Entscheidungen verpatzt hast, als noch genug Zeit war, etwas zu erreichen. Du hast uns immer tiefer in den Pannenstrudel hineingeritten, als wir uns noch daraus hätten befreien können. Immer tiefer, bis die Wände des Strudels viel zu steil waren.«
»Aber ich habe diese Besatzung vor einem langsamen Tod im Weltraum bewahrt, verdammt noch mal! Zählt das überhaupt nichts?«
»Das ist … Schnee von gestern.«
»Ich hätte mehr von dir erwartet, Parry.«
»Mehr kann ich dir nicht bieten. Es tut mir leid, Bella. Die Sache ist für keinen von uns ein Picknick. Es ist ja nicht so, dass wir lustige Parties feiern, während du eingesperrt bist. Wir werden überleben. Das ist alles. Du hast offen gesagt noch die leichteste Bürde zu tragen.«
»Schau mir in die Augen und wiederhole es noch einmal.«
Er schüttelte den Kopf, ohne in ihre Richtung zu blicken. »Wenn das Schiff verankert ist, wenn wir uns einigermaßen auf Janus eingerichtet haben, wird man dich an einen anderen Ort bringen. Svetlana will dich nicht mehr in der Nähe haben.«
Svetlana saß in Bellas ehemaligem Büro und fragte sich, was sie mit den Fischen machen sollte. Vorläufig fütterte sie sie, so gut es ging, und ignorierte ihre stummen Anklagen, ihre Mäuler, die ständig in Bewegung waren und verschwörerisch zu flüstern schienen.
Im Schiff war es stiller geworden als in den letzten Wochen, und größtenteils hatte die Besatzung ihre Autorität akzeptiert. Sie bezeichneten sie schon als Übergangskommandantin. Es hatte nichts mit DeepShaft, sondern allein mit ihrem Überleben zu tun. Sie machten in jedem Fall weiter, Atemzug um Atemzug, Zentimeter um Zentimeter.
Saul Regis klopfte an die offene Tür. Als Lind-Anhänger hatte Regis nie davon überzeugt werden müssen, dass Janus ihre einzige Überlebenschance darstellte. Doch Crabtrees Tod hatte ihn auf einer emotionalen Ebene berührt, die Svetlana nie zuvor an ihm bemerkt hatte.
»Sie werden dafür bezahlen, hat Parry mir gesagt.«
»Ja.« Es stimmte, die beiden Männer standen unter Arrest. Ganz gleich, was sonst geschah, sie würden die Erde nie wiedersehen.
Regis schob ihr einen Flextop zu. »Dann sollte es anständig gemacht werden.«
»Anständig?«
Durch den dünnen Stoff seines Sweatshirts kratzte er sich den Bauch. »Du kannst es nicht … einfach so tun. Jemand sollte etwas sagen. Es sollte eine Zeremonie geben.«
»Wir sind Bergleute, Saul. Niemand hat uns einen Vorschriftenkatalog für solche Fälle mitgegeben.«
»Dann müssen wir unseren eigenen Katalog ausarbeiten. Wir können nicht auf Anweisungen von der Erde warten. Es muss etwas sein, das von uns kommt. Gemeinschaften erlassen Gesetze. Wir brauchen Gesetze, irgendeine juristische Instanz.«
Etwas an seiner Präsenz ließ Svetlana erschaudern, und sie blickte mit einem unguten Gefühl auf den Flextop. Das Fenster wurde von einem Standbild ausgefüllt, auf dem sich eine Gruppe von Menschen um ein Lagerfeuer in einer Wüstenlandschaft drängte. Es herrschten unheimliche Lichtverhältnisse, und am rosafarbenen, leicht bewölkten Himmel standen zu viele Monde. Die Gestalten trugen enge Kostüme und exzentrische Stiefel, und an ihren Gürteln hingen zahlreiche Ausrüstungsgegenstände und Waffen von schlankem, mattsilbernem Design. Die Frisuren und das Make-up sollten futuristisch wirken, aber eigentlich sah alles zwanzig oder dreißig Jahre veraltet aus. Ein Mann kniete am Lagerfeuer, während ihm ein anderer eine Waffe an den Kopf hielt. Neben dem Mann mit der Waffe stand ein großer, in Schwarz gekleideter Alien, der etwas Priesterhaftes an sich hatte und aus einer Art Schriftrolle vorlas.
»Scheiße, Saul«, sagte sie, als ihr klar wurde, worum es sich handelte, »das ist aus …«
»Cosmic Avenger«, sagte er, bevor sie zu Ende sprechen konnte. »Vierte Staffel, fünfte Folge. Die Avenger fällt durch eine Raumfalte in die Unerkundete Zone, ohne Kommunikationsverbindung zur Terraflotte. Während das Schiff beschädigt ist, unternimmt Lieutenant Theobald den Versuch, Captain Underhill das Kommando abzunehmen …«
»Saul«, sagte sie leise, als würde sie mit einem Schlafwandler sprechen. »Saul … das ist nur eine Fernsehserie. Eine ziemlich schlechte Fernsehserie aus meiner Kindheit, die damals niemand ernst genommen hat.« Sie erschauderte angewidert und gab ihm den Flextop zurück. »Es ist kein … Vorbild für das Leben. Willst du wirklich vorschlagen, dass wir alle so tun, als würden wir diese Geschichten für real halten?«
»Die Hinrichtungsszene ist anerkanntermaßen ein Höhepunkt der Serie«, sagte Regis. »Die Drehbücher in diesem Teil der vierten Staffel … Underhills Ansprache während der Exekution … Natürlich weiß ich, dass viele Leute Star Crusader besser finden, aber das ist Unsinn. Das werden sie niemals verstehen.«
Sie wartete ab, ob Regis mit den Augen zwinkerte, irgendeinen Hinweis gab, dass das alles nur ein misslungener Scherz im ungeeigneten Moment sein sollte. Aber seine Fassade der Ernsthaftigkeit zeigte nicht den winzigsten Riss.
Sie versuchte es erneut. »Du glaubst wirklich, dass diese Rede …?«
»Ich sage nicht, dass wir sie wortgetreu kopieren sollten.« Er schüttelte den Kopf, als wäre so etwas völlig absurd. »Es geht eher darum, wie sie es gesagt hat – wie die Sache für die Besatzung aussieht, dass Underhill weiß, was sie zu tun hat, aber es gleichzeitig bedauert … der allgemeine Tenor …« Er verstummte und machte den Eindruck, als wäre er überzeugt, seinen Standpunkt überzeugend klar gemacht zu haben. »Es gibt viel schlechtere Möglichkeiten.«
»Die gibt es sicherlich«, sagte sie. »Danke für den Vorschlag, Saul. Und jetzt … verschwinde bitte aus meinem Büro.«
Er drückte den Flextop an die Brust, wo er weich wurde und sich um ihn legte. »Ich meine nur, dass wir es richtig machen sollten. Für Thom Crabtree.«
Sie schaute ihm hinterher, als er ging, entgeistert von diesem Gespräch, aber auch nicht völlig überrascht.
Für manche Besatzungsmitglieder war die Gewissheit, dass sie nun Gefangene von Janus waren, schon so etwas wie der Tod. Svetlana hatte die deutliche Vorahnung, dass es in den nächsten Jahren zu mehreren Selbstmorden kommen würde. Sie glaubte sogar, mit einiger Sicherheit vorhersagen zu können, wer sich für diesen Ausweg entscheiden würde.
Für eine sehr kleine Minderheit jedoch musste Janus eine Art Befreiung bedeuten. Die alte Welt mit ihren verwirrenden emotionalen und politischen Komplikationen fiel immer weiter zurück. Was vor ihnen lag, würde einfacher und symbolischer sein. Genauso wie manche Menschen nur eine Art Halbleben führten, bis ein Krieg ausbrach und sie zur Höchstform aufliefen, so mochte auch die Strenge und Einfachheit von Janus für jemanden wie Saul Regis sehr attraktiv sein. Hier wurde auf brutale Weise reiner Tisch gemacht.
Er war schon eine ganze Weile fort, als Svetlana ihren Flextop nahm und durch das Schiffsnetz navigierte, auf der Suche nach den uralten Mediendateien, die Regis offenbar bestens kannte. Sie hatte nicht die Absicht, die Worte der Ansprache zu kopieren – der bloße Gedanke daran widerte sie an –, aber es konnte nicht schaden, sich die Sache einfach mal anzuschauen.
Nicht wahr?
Die Vorbereitungen für die Vereinigung von Janus und der Rockhopper beanspruchten Tage. Svetlana träumte sich durch farbenprächtige Simulationen und wachte nach fieberhaften Stunden voller Belastungsanalysen auf, in denen Zahlen und Gleichungen wie die Krieger in einer epischen Schlacht gegeneinander antraten.
Sobald die Rockhopper unten war, würde es keine Möglichkeit mehr geben, sie von Janus starten zu lassen. Die Schwerkraft des ehemaligen Mondes war dreihundertfünfzigmal schwächer als die der Erde. Ein Mensch hatte hier praktisch kein Gewicht. Aber ein fünfzigtausend Tonnen schweres Raumfahrzeug benötigte einen Schub von einhundertfünfzig Tonnen, um abheben zu können, was deutlich mehr war, als die Steuerdüsen leisten konnten. Selbst wenn sie die Beiboote als Schlepper einsetzten, würde die Rockhopper mit ziemlicher Wucht in die Grube krachen, wie ein Rammbock im Wolkenkratzerformat. Nach den Belastungsanalysen würde das Schiff den Stoß aushalten, aber die Berechnungen waren schwindelerregend kompliziert, und schon ein winziger Fehler konnte den Untergang bedeuten.
Als der Wagen sie zum Habitat zurückbrachte, summte überraschend ihr Flextop. In ihrem Kopf wimmelte es vor technischen Daten, und sie hatte darum gebeten, nicht unnötig angerufen zu werden.
Sie zog den Flextop unter der Jacke hervor, schüttelte ihn wach und blickte in das Gesicht von Denise Nadis.
»Ich glaube, das musst du dir ansehen«, sagte Nadis.
»Was?«, fragte Svetlana.
»Wir haben die Eiskappe auf Janus untersucht, mit hochauflösenden Kameras, weil wir uns nach alternativen Stellen für die Grube umgesehen haben.«
»Ich dachte, wir hätten uns schon für eine Stelle entschieden. Haben wir nicht schon längst Maschinen runtergeschickt?«
Nadis blinzelte und schluckte. »Ich wollte mich nur vergewissern, ob wir uns wirklich die günstigste Stelle ausgesucht haben. Wenn wir erst einmal unten sind …«
»Ich weiß. Eine zweite Chance haben wir nicht. Worum geht es, Denise?«
»Wir haben … das hier gefunden.«
Ein Bildfenster erweiterte sich und verdrängte Nadis’ Gesicht fast vollständig. Zuerst konnte Svetlana nicht mehr erkennen als ein Gewirr aus Falschfarbenhexeln und numerischen Codes. »Damit kann ich nicht viel anfangen, Denise.«
»Tut mir leid – der Zoomfaktor ist zu klein. Das ist ein Teil der Eiskappe, etwa fünfzig Kilometer südlich der Stelle, wo wir graben wollen, genau an der Grenze unseres Suchbereichs. Es war Zufall, dass wir überhaupt darauf gestoßen sind.«
»Worauf?«
Nadis flüsterte einen Befehl in ihren Flextop. Das Bild wurde vergrößert, bis Svetlana eindeutig ein stumpfes, metallisches Objekt erkennen konnte, das im Eis steckte, als wäre es mit hoher Geschwindigkeit dort eingeschlagen.
»Es ist ein Raumschiff«, sagte Nadis. »Zumindest ein Teil davon.«
Ein Maßstab wurde in das Bild eingeblendet. Das abgestürzte Schiff war etwa zwanzig Meter lang.
»Da kann etwas nicht stimmen«, sagte Svetlana. »Wir haben das Eis bereits mit hoher Auflösung vermessen. So etwas können wir unmöglich übersehen …«
»Wir haben nichts übersehen«, wurde sie von Nadis unterbrochen, die sich wieder gefangen hatte. »Denn vorher war es noch gar nicht da. Es muss abgestürzt sein, nachdem wir die Vermessung abgeschlossen haben. Irgendwie muss es sich an uns vorbeigeschlichen haben.«
»Während wir anderweitig beschäftigt waren.« Nun begriff Svetlana. Die Form des Schiffes kam ihr bekannt vor, auch wenn es nur der Teil von etwas Größerem war. Sie hatte es auf den Fernsehbildern aus dem Erdorbit gesehen. Es war ein Teil der Shenzhou Fünf.
»Das ist unmöglich. Wir haben es zerstört. Wir haben es vom Himmel geschossen.«
»Es ist nur ein Teil«, sagte Nadis. »So etwas wie der Rest einer mehrstufigen Rakete. Sie scheinen geplant zu haben, mit großem Fusionstriebwerk und Treibstofftank rauszufliegen und mit einer viel kleineren Einheit zurückzufliegen, die ihren eigenen Antrieb hat.«
»Das Ding ist winzig.«
»Ich weiß. Vielleicht waren doch nicht so viele Personen an Bord, wie sie uns glauben machen wollten.« Nadis schien zu erschaudern, als würde das Wiederauftauchen des chinesischen Schiffs gegen ein fundamentales Gesetz ihres privaten Universum verstoßen. »Was, zum Teufel, ist überhaupt passiert? Bella hat es abgeschossen. Das steht fest.«
»Vielleicht wurde es nur schwer beschädigt«, sagte Svetlana. »Die DUE hat nur die Hauptstufe getroffen. Also mussten sie in die zweite Stufe umsteigen und sich in Sicherheit bringen.«
»Hierher?«
»Vielleicht hatten sie nicht allzu viele Alternativen.«
»Wenn das Ding dazu gedacht war, sie nach Hause zu bringen, warum haben sie es dann nicht getan?«
»Ich könnte mir denken, dass sie zu viel Tempo in der falschen Richtung draufhatten. Möglicherweise hätten sie die Hauptstufe zum Abbremsen benutzt, bevor sie die Heimreise angetreten hätten.«
»Doch dann hat Bella ihnen diese Möglichkeit genommen.«
»Sieht so aus. Wang muss erkannt haben, dass es für ihn nur eine Rettungschance gibt – und das sind wir.«
»Oh Gott! Du meinst, er hat versucht, die Rockhopper einzuholen?«
»Könnte sein.«
»Nachdem wir dem armen Jungen das Schiff unter dem Hintern weggeschossen haben?«
»Schiffbrüchige können nicht allzu wählerisch sein, Denise. Das Problem ist nur, dass er nichts vom Kielwasser wusste.«
»Er muss seinen gesamten Treibstoff aufgebraucht haben«, sagte Nadis. »Sodass er nichts mehr zum Abbremsen übrig hatte.«
Aber noch während Nadis ihre Überlegungen aussprach, wurde Svetlana klar, dass sie sich täuschte. Wenn sich die Shenzhou Fünf mit unkontrollierter Geschwindigkeit genähert hätte, würde man an der Stelle, wo das Schiff lag, jetzt nur noch einen Krater sehen. Wenn es sich nicht in Form einer Trümmerwolke über ganz Janus verteilt hatte, musste der Absturz einer geregelten Landung sehr nahe gekommen sein.
Und das bedeutete, dass die Besatzung überlebt haben könnte.
»In dem Ding könnte noch jemand am Leben sein«, sagte sie.
»Nein«, erwiderte Nadis. »Kein Transponder, kein SOS-Signal. Wir haben versucht, auf der chinesischen Frequenz Kontakt zu bekommen. Nichts.«
»Wang kann nicht tot sein. Er kann nicht den weiten Weg gekommen und einfach so gestorben sein.«
»Niemand hat dort überlebt, Svieta. Ich dachte mir, dass du es möglichst schnell erfahren solltest. Vielleicht gibt es da unten technische Bauteile, die wir gebrauchen können …«
»Gib mir ein Infrarotbild«, sagte sie.
»Das haben wir schon versucht. Das Schiff ist immer noch warm, aber damit ist zu rechnen, selbst wenn es schon letzte Woche oder so abgestürzt ist.«
»Trotzdem will ich es auf Infrarot sehen«, sagte Svetlana. »Und ich möchte kein drittes Mal darum bitten.«
Nadis stieß ein leises Schnaufen aus, von dem sie wahrscheinlich hoffte, dass Svetlana es nicht bemerkte. Nadis musste sich noch daran gewöhnen, Befehle von jemandem anzunehmen, der im alten Regime auf gleicher Stufe mit ihr gestanden hatte. Aber sie war gut. Sie würde es lernen.
Also richteten sie die Kameras auf die Shenzhou Fünf, auf sie sie zuvor die Kanonen gerichtet hatten, und diesmal schossen sie mehrere Aufnahmen im mittleren Infrarotbereich. Als sie auf Svetlanas Flextop erschienen, hatten sie die superreale Klarheit von Bildern, die durch ein vollkommenes Vakuum aufgenommen worden waren. Das Schiff strahlte immer noch Wärme ab, genauso wie Nadis gesagt hatte. Das Triebwerk glühte in kirschroter Falschfarbe, während es sich langsam auf die Umgebungstemperatur von Janus abkühlte. Aber es gab ein Muster in der Wärmeverteilung, bei dessen Anblick Svetlanas Herz einen Satz machte. Die Heizelemente zeichneten ein Neongitter über die freiliegende Oberfläche des Schiffs, aber nur dort. Die sichtbaren Seitenwände waren dunkel. Genauso wie die Unterseite, wo sich die Wärme anderweitig bemerkbar machen müsste.
»Er ist am Leben«, sagte sie aufgeregt. »Er hat die Heizelemente abgeschaltet, die Kontakt mit dem Eis haben. Wenn er es nicht getan hätte, würde sich das Schiff durch den Gletscher schmelzen. Maschinen hätten so etwas nicht getan. Dazu war ein menschlicher Eingriff nötig, nachdem das Schiff zur Ruhe gekommen war.«
»Warum hat er uns dann keine Nachricht geschickt?«, fragte Nadis.
»Er hat eine geschickt«, sagte Svetlana. »Das ist sie.«
Sie flogen mit der Cosmic Avenger hinunter und schwebten neben dem abgestürzten Wrack der Shenzhou Fünf. Dann schickten sie Roboter los, die es von mehreren Seiten beobachten sollten. Auf den ersten Blick sah es schlimm aus, aber das lag nur daran, dass bei der Bruchlandung jedes empfindliche Teil des Schiffs verbogen oder abgebrochen worden war. Die luftdichte Hülle hatte den Absturz mit ein paar leichten Dellen überstanden. Selbst mit bloßem Auge waren die Heizelemente als ziegelrote Schnörkel auf der Oberseite zu erkennen. Im blassgrünen Metall gab es keine Fenster. Niemand konnte sagen, ob die Besatzung noch am Leben war.
Die Avenger landete in der Nähe. Erneut brachen Roboter auf und suchten in der vereisten Hülle nach einem Eingang.
Die Chinesen benutzten genauso wie alle anderen eine vereinfachte Variante der Luftschleusentür, wie sie seit Anfang des Raketenzeitalters gebaut wurde. Aber von außen war nicht zu erkennen, ob eine bestimmte Tür wirklich in eine Luftschleuse führte oder direkt in einen Innenraum, der unter Luftdruck stand. Also mussten sie eine externe Notluftschleuse von der Avenger holen und mit schnell aushärtendem Vakuumepoxid ankleben. Sie versiegelten das Ganze mit einer Dichtung aus Sprühstein und pumpten es mit Trimix voll, dessen Druck und Mischungsverhältnis ungefähr dem entsprach, was nach ihrer Vermutung von den Chinesen bevorzugt wurde.
Selbst die beste Luftschleuse knackte, wenn der Druckunterschied auf beiden Seiten ausgeglichen wurde. Parry hatte den Helm an die Tür gelegt und hörte die Geräusche wie ferne Hammerschläge. Es klang danach, dass auf der anderen Seite tatsächlich Luft vorhanden war.
Er klopfte gegen die Tür. Er wartete und klopfte erneut, während ihm bewusst war, dass ein Überlebender einige Zeit brauchen würde, um in einen Anzug zu steigen und die Verriegelung zu öffnen. Selbst wenn er sich beeilte, konnte es fünf oder sechs Minuten dauern. Er klopfte wieder und wartete ab – fünf Minuten, zehn Minuten. Sicherheitshalber machte er fünfzehn daraus. Schließlich waren sie nicht in Eile, wenn er bedachte, wie lange sich die Chinesen schon hier aufhalten mussten.
Aber es kam immer noch niemand.
Parry griff nach der manuellen Verriegelung und zog die Tür auf. Mit dem Trimix hatten sie richtig gelegen, und obwohl es immer richtig war, vorsichtig zu sein, stellte sich heraus, dass es auf der anderen Seite eine Luftschleuse gab. Gute Vorzeichen. Vielleicht war sein Klopfen durch die vielen Schichten aus Metall und Isoliermasse gar nicht zu hören gewesen.
Er öffnete die innere Tür und trat hindurch. Es war stockdunkel – wieder ein Braille-Tauchgang. Doch als er seine Helmlampe einschaltete, wusste er Bescheid.
Das Schiff war nur noch ein Wrack. Ein Haufen aus allen möglichen Einrichtungsgegenständen war unter der Gewalt des Aufpralls zu einer kompakten Masse im Bug zusammengestaucht worden. Die Rumpfsparren waren wie gebrochene Rippen abrasiert. Jeder wusste, dass die Chinesen sehr gute Materialwissenschaftler hatten, aber dieses Schiff hatte einen kräftigeren Stoß einstecken müssen, als selbst die beste Ausstattung vertragen konnte.
Parry stocherte mit der Handlampe in den Trümmern und machte sich darauf gefasst, was er finden würde: einen tapferen Raumfahrer, an seinen Sitz geschnallt, zu etwas zermanscht, das ihm für den Rest seines Lebens Alpträume bereiten würde.
Aber da war niemand.
Er richtete seine Lampe auf die Rückseite des Schiffes und sah eine Tür, die auf beiden Seiten von chinesischen Schriftzeichen gesäumt wurde. Er suchte sich einen Weg durch die Trümmer und klopfte an die Tür. Er wartete, aber wieder keine Reaktion. Er konnte nicht sagen, ob es auf der anderen Seite Atemluft gab. Wenn sich dort Vakuum befand, würde ihm die Tür aus der Hand gerissen, sobald er die Verriegelung löste. Er sicherte sich, um gegen ein plötzliches Ausströmen der Luft gewappnet zu sein, dann machte er sich an die Arbeit. Doch die Tür schwang ohne Schwierigkeiten auf.
Er leuchtete in den Raum und sah sofort den Chinesen in leichter Kleidung. Er lag auf dem Rücken auf einer schwer gepolsterten Liege, die zur Heckseite des Schiffs zeigte. Er war wie ein Psychiatriepatient mit dicken Gurten festgeschnallt. Ein Arm war in einem seltsamen, anatomisch problematischen Winkel verbogen. Er hatte die Augen geschlossen, die Lider waren schwärzlich angelaufen. Er schien tot zu sein.
Parry näherte sich dem Mann und beugte sich über ihn, bis die Scheibe seines Helms nur noch eine Fingerbreite vom Mund des Mannes entfernt war. Ein winziger Atemhauch kondensierte auf dem Glas.
»Ryan«, sagte Parry. »Sie sollten sofort rüberkommen. Es gibt einen Überlebenden. Er scheint nicht in guter Verfassung zu sein.«
»Was ist mit den anderen?«, fragte Axford zurück.
»Es gibt keine anderen. Nur diesen einen. Diesen … Jungen.«
Der Mann öffnete die Augen. Sie schimmerten rot durch die schwarzen Lidschlitze. Unter starken Ge-Kräften war es zu inneren Blutungen in den Augen gekommen, als sie unter extremer Beschleunigung zusammengepresst worden waren. Er schien gehört zu haben, wie Parry im Helm gesprochen hatte. Er versuchte einen Arm zu heben und gab es kurz danach wieder auf. Schmerzen zeichneten sich auf seinem Gesicht ab.
»Bleiben Sie ruhig«, sagte Parry. Er nahm seinen Helm ab, ohne einen Gedanken an das mögliche Risiko zu verschwenden, und ließ ihn zu Boden schweben. »Sie sind Wang, nicht wahr?«
Die Lippen des Mannes bewegten sich. Sie waren ausgetrocknet und sehr spröde. Mit geisterhafter Stimme sagte er: »Kommandant Wang Zhanmin.«
»Parry Boyce«, sagte er. »Von der Rockhopper. Willkommen auf Janus.«
»Ich glaube, ich habe mir beim Absturz etwas gebrochen«, sagte Wang matt.
»Gleich kommt ein Arzt. Wir werden uns um Sie kümmern. Wir kriegen Sie schon wieder hin.«
»Wohin werden Sie mich bringen?«
»In die Rockhopper«, sagte Parry.
»Sie müssen noch etwas tun, bevor Sie die Shenzhou Fünf verlassen, bevor sie sich tiefer ins Eis schmilzt.« Wang hob einen Finger und richtete ihn auf das Heck des Schiffes. »Im hinteren Lagerraum befindet sich etwas, das ich Ihnen mitgebracht habe.«
»Sie etwas für uns mitgebracht?«
Wang nickte leicht. »Ich dachte, es könnte sich als nützlich erweisen. Ich habe es gerade noch geschafft, es mitzunehmen, bevor ich abkoppeln musste. Betrachten Sie es als Geschenk des chinesischen Volkes.«
Parry ließ die Avenger bei minimalem Schub aufsetzen und wirbelte nur eine kleine Wolke aus gekochtem Eis auf. In einem Hartschalen-Orlan stieg er aus dem Beiboot. Elias Feldman, Hank Dussen und Gillian Shimozu folgten ihm. Sie eskortierten zwei gefesselte Gefangene, die leichtere Raumanzüge älteren Modells trugen. Sie liefen in weitem Bogen über das Eis, bis sie sich etwa hundert Meter vom Beiboot entfernt und eine Stelle erreicht hatten, die auf zehn Metern Durchmesser von einem Kreis aus projiziertem Laserlicht erhellt wurde, das vom fernen Umriss der Rockhopper kam. Der Kreis grenzte sich scharf von der Umgebung ab, als wäre er mit Kreide gemalt. Ihre Schatten waren tiefschwarz, so dunkel wie die interstellare Nacht.
Parry ließ die kleine Gruppe im Zentrum des Kreises anhalten. Die gefesselten Gefangenen mussten sich nebeneinander auf dem Eis niederknien, während Feldman, Dussen und Shimozu hinter ihnen in Stellung gingen. Parry stand vor ihnen, die Beine leicht gespreizt, um das Gleichgewicht zu wahren. Er zog einen Flextop aus dem Brusttornister seines Anzugs, wo sich das Gerät mit Energie aufgetankt hatte. Mit einer Drehung des Handgelenks ließ er den Flextop erstarren, sodass er nun die Festigkeit einer Schiefertafel hatte. Er hielt ihn vor seinen Helm und probierte verschiedene Winkel aus, bis er die Bildfläche gut erkennen konnte. Die Worte, die er vorbereitet hatte, waren in fetten schwarzen Buchstaben dargestellt.
Seine Stimme kam von jeder Wand und jedem Flextop in der Rockhopper. Zuerst sprach er stockend, doch dann schien er eine Quelle der Selbstsicherheit gefunden zu haben.
»John Chanticler und Connor Herrick, ihr wurdet hierher gebracht, um dafür bestraft zu werden, dass ihr vor acht Tagen den Tod von Thomas Crabtree herbeigeführt habt. Ein Geschworenengericht aus Kollegen eurer Besatzung hat euch für schuldig befunden.« Parry wartete, bis der Flextop zum nächsten Textblock weiterscrollte. Die kurze Pause schien dem Vorgang noch mehr Ehrwürdigkeit zu verleihen. »Der Justizausschuss der Interimsverwaltung hat entschieden, dass Mord mit dem Tod bestraft wird. An Bord unseres Schiffes lebten einhundertvierundvierzig Menschen, bevor ihr Thom Crabtree getötet habt. Jetzt werden es nur noch einhunderteinundvierzig sein. Euer Tod soll das Ende der Auseinandersetzungen markieren. Euer Tod soll nicht umsonst sein. Nach dem heutigen Tag wird es keine weiteren Tötungsdelikte geben.« Wieder hielt er inne und blickte von der hell erleuchteten Eisfläche zum Schiff hinauf, das die meisten von ihnen wiedersehen würden. »Wir müssen unsere Differenzen beilegen, wenn wir nicht alle sterben wollen.«
Parry ließ den Flextop sinken. »Das Urteil soll vollstreckt werden.«
Hank Dussen und Elias Feldman bauten sich links und rechts von John Chanticler auf. Gillan Shimozu nahm ein klobiges Bergbauwerkzeug vom Gürtel, einen rückschlaglosen Bohrhammer. Eine Energieleitung führte vom Bohrer zu ihrem Rückentornister. Sie hielt das Werkzeug mit beiden Händen und drückte die funkelnde scharfe Spitze gegen die Rückseite von Chanticlers Helm.
Mit dem Daumen der rechten Hand lud sie die magnetischen Induktionsspulen des Bohrers. Rote Bereitschaftslämpchen leuchteten flackernd am Lauf des Geräts auf. Zu diesem Anlass hatte man es auf Hochglanz poliert.
Parry ging in die Knie, sodass sein Helm auf gleicher Höhe mit John Chanticlers Gesicht war. Niemand sonst wusste davon, aber die Luftmischung in den Anzügen der verurteilten Männer war verändert worden, bevor sie aus dem Beiboot ausgestiegen waren, sodass sie nun im Sauerstoffrausch waren. »Es wird schnell und schmerzlos gehen«, sagte Parry, obwohl er bezweifelte, dass die Männer ihn verstehen würden.
Dann blickte er über Chanticlers Helm zu Gillian Shimozu und nickte.
Sie löste den Bohrhammer aus. Er ruckte in ihrer Hand, aber die Gegengewichte glichen den Impuls aus, als die scharfe Spitze in Chanticlers Helm schlug. Die Versiegelungsschicht auf der Innenseite sorgte dafür, dass es nur zu einem geringen Luftverlust kam, bis das Leck im Helm automatisch geschlossen war. Zu diesem Zeitpunkt hatte der Bohrer seine Aufgabe längst erfüllt. Eine blutige Masse bedeckte die Scheibe vor Chanticlers Gesicht.
Shimozu zog den Bohrer heraus. Die Spitze war rot. Sie ging in die Hocke und rammte den Bohrer ins Eis, um sie durch die Reibung zu säubern. Chanticler blieb in kniender Haltung, da er von Hank Dussen gehalten wurde. Feldman ging zu Herrick und legte ihm eine Hand auf die rechte Schulter.
Dann wurde die Prozedur wiederholt.
Als Shimozu zum zweiten Mal den Bohrer herausgezogen und die Spitze gereinigt hatte, trat sie respektvoll einen Schritt von den zwei Männern zurück, die sie soeben exekutiert hatte. Parry nickte, darauf ließen Dussen und Feldman die knienden Gestalten los.
Mit grausamer, beinahe komischer Gleichzeitigkeit kippten Chanticler und Herrick in Zeitlupe vornüber, bis ihre Helmvisiere auf das Eis schlugen.