Eins


 

 

Parry Boyce blickte von der gewellten roten Oberfläche des Kometen auf. Er klappte sein Helmfernglas herunter, schaltete es auf mittlere Vergrößerung und wartete, bis sich das Bild stabilisiert hatte.

Nur ein winziger Hauch Schubkraft hielt die fünfzigtausend Tonnen des Schiffs über Parrys Kopf. Der kostbare Massentreiber war jetzt zu voller Länge ausgestreckt, aber immer noch längsseits an die Rockhopper angekoppelt. Ein Schwarm aus flackernden blauen Lichtern am Kopf des Treibers zeigte, dass sich rund um die blockierte Einsatzausrüstung immer noch etwas tat. Die Reparaturen wurden von chromgelben Robotern übernommen, über denen eine winzige Gestalt im Raumanzug schwebte. Er wusste, dass es Svetlana war, bevor sein Helm ein Symbol neben ihr einblenden konnte.

Sie waren nicht im Guten auseinander gegangen. Er hatte ihr wegen der Reparaturarbeiten Ärger gemacht, aber nur, weil Bella ihm Ärger gemacht hatte. Es machte ihnen allen schwer zu schaffen, hier festzusitzen und nichts tun zu können.

Parry stand am hell ausgeleuchteten Rand des Lochs, das er in die Haut des Kometen geschnitten hatte. Der zylindrische Schacht war geometrisch perfekt, ein Element der Ordnung in der ansonsten chaotischen Landschaft der Kruste. Die hundert Meter tiefe und fünfzig Meter durchmessende Wandung war bereits mit einer sauberen, laserglatten Schicht aus gehärtetem blaugrauem Sprühstein verkleidet.

Er rief ein Musikstück aus den Dateien des Orlan-19 ab und verlor sich im erhebenden Quawwali von Nusrat Fateh Ali Khan. Nach einiger Zeit – es mochten Minuten oder auch Stunden gewesen sein – zeichnete sich im Flutlicht der Schatten einer weiteren sich bewegenden Gestalt im Raumanzug ab. Sie musste soeben aus einem der kuppelförmigen Oberflächenzelte gekommen sein, die zwanzig Meter vom Rand des Schachts entfernt aufgebaut waren. Hinter den Zelten standen die gespreizten Beine der kantigen Cosmic Avenger, der schweren Landeeinheit, die sie von der Rockhopper hergebracht hatte.

Parry versuchte die Person am Gang zu erkennen, bevor seine Ausrüstung sie identifizieren konnte. Feldman und Shimozu bewegten sich mit der Vorsicht und Sparsamkeit von Unterwasserarbeitern – sie waren vorher in der Meeresabteilung von DeepShaft auf der Erde tätig gewesen. Mike Takahashi jedoch war durch und durch Raumfahrer. Selbst wenn er einen dreißig Jahre alten ausgemusterten russischen Orlan-19 mit dem Ballast von fast einer Tonne abgereichertem Uran trug, bewegte er sich mit weiten anmutigen Sprüngen, ohne Angst, für längere Zeit den Kontakt zur Oberfläche zu verlieren.

Das Helmdisplay markierte Takahashis Anzug und hängte seinen Namen in pulsierenden blauen Buchstaben an, begleitet von einem Gesichtssymbol im Manga-Stil.

»Hübsches Loch.«

»Danke«, sagte Parry.

»Aber es wird nicht hübscher, wenn du es die ganze Zeit nur anstarrst.«

»Ich überlege, ob man die Beschichtung verstärken sollte«, sagte er, die Hände in die Hüften gestemmt. »Vielleicht mit einem kleinen Klecks da drüben.«

Takahashi stand neben ihm, sodass ihre klobigen Schatten in den Abgrund fielen. Er spielte am liebsten estnische Choräle. Parry hörte die Musik über die Sprechverbindung.

»Wir brauchen dich drinnen«, sagte Takahashi.

Parry fragte sich, was los sein mochte. Takahashi hätte ihn problemlos rufen können, ohne sich persönlich zu ihm zu begeben.

»Worum geht es?«, fragte er, während sie zum Zelt zurückgingen.

»Keine Ahnung. Irgendwas geht kaputt. Hast du das Schiff in letzter Zeit überprüft?«

»Vor einer Weile.«

»Vielleicht solltest du es dir noch einmal ansehen.«

Parry klappte erneut das Fernglas herunter. Die Rockhopper sprang ihm entgegen, als sich die Linsen justiert hatten. Alles sah genauso wie vorher aus, nur dass die flackernden Schweißfackeln am Kopf des Treibers verschwunden waren. Auch von Svetlanas schwebendem Anzug war nichts mehr zu sehen.

»Interessant«, sagte er.

»Gut oder schlecht?«

Parry ließ das Fernglas wieder einfahren. »Lässt sich so noch nicht sagen.« Er griff nach der Zelttür und zog sie weit genug auf, damit die beiden Männer eintreten konnten.

Im Zelt gab es keinen Atmosphärendruck. Es war eine verfestigte kuppelförmige Unterkunft. Das Material war von einem supraleitenden Geflecht durchzogen, um einen minimalen Schutz gegen geladene Partikel zu bieten. Gillian Shimozu und Elias Feldman saßen zu beiden Seiten einer Plastikkiste und spielten Karten auf dem Deckel. Die Karten, zum Teil verblasst und mit Magic Marker nachgezeichnet, waren auf dickem, geriffeltem Kunststoff gedruckt. So ließen sie sich besser mit den Handschuhen eines Raumanzugs greifen.

Die vier Anzüge tauschten zwitschernd Protokolle aus.

»Noch ist Zeit, um ins Spiel einzusteigen«, sagte Shimozu. Sie blickte zu Parry auf, als dieser die Zelttür hinter sich verschloss.

»Ich passe.« Hinter Shimozu balancierte auf einer hellroten Sauerstoffpumpe ein Flextop, der ein Bild des Saturn mit dem blauen Logo von China Daily in der oberen linken Ecke zeigte.

»Spielverderber«, sagte Shimozu und nahm eine Karte vom Tisch.

»Gibt es etwas Neues von Batista oder Fletterick? Es sieht danach aus, als ob wir vielleicht gebraucht würden«, sagte Parry.

Feldman legte sein Blatt ab, eine Serie von Assen. »Am Treiber?«

»Es scheint, dass die Arbeiten eingestellt wurden. Falls es Saul nicht gelungen ist, Freizeitschichten für seine Roboter durchzusetzen, kann das nur bedeuten, dass wir wieder über ein funktionierendes Einsatzsystem verfügen.«

»Juhu«, sagte Shimozu. Sie hatte ihren Blendfilter über die Helmscheibe gezogen. Die mattschwarze Beschichtung verhinderte, dass sich darin die Karten spiegelten, die sie in der Hand hielt.

»Du solltest deinen Enthusiasmus lieber etwas dämpfen«, sagte Parry. »Noch einmal: Gibt es etwas Neues?«

Takahashi deutete auf den Bildschirm. »Vielleicht hat es gar nichts mit dem Treiber zu tun. Eben kam das Bild vom Saturn rein.«

»Deshalb habt ihr mich hergeholt?«, fragte Parry.

»Ich fand es seltsam. Warum zeigen sie den Saturn?«

»Batista und Fletterick«, sagte Parry ungeduldig.

»Vielleicht gab es einen Unfall«, spekulierte Takahashi. Die anderen beiden teilten nun auch für ihn Karten aus, aber er schien viel mehr am Bildschirm hinter Shimozu interessiert zu sein. »Kann mir jemand sagen, wie ich diese Sendung in meinen Helm kriege?«

»Benutz dein Drop-down-Menü«, sagte Feldman gereizt, als hätte er es ihm schon hundertmal erklärt. »Geh auf Einstellungen, dann auf die Optionen für das audiovisuelle Helmdisplay, dann …«

Parry ging am Spieltisch vorbei zur Sauerstoffpumpe und hob den Flextop auf. Er drückte sehr vorsichtig zu, um das quasi-lebendige Ding nicht zu verletzen. Das Hauptbild zeigte immer noch den Saturn, aber nun sprach ein Experte in einem eingeblendeten Fenster. Er kannte den Mann nicht. Text in chinesischer Schrift tickerte über die Fußzeile des Bildschirms.

Vielleicht hatte Takahashi recht. Vielleicht tat sich etwas in der Nähe des Saturn. Aber was für ein Ereignis konnte bedeutend genug sein, dass China Daily ihm so viel Aufmerksamkeit widmete? Im Vergleich zu den Hauptnachrichtensendungen wirkten Bella Linds Fische wie Meister der anhaltenden Konzentration.

In diesem Moment aktivierte sich sein Helmdisplay von selbst, und ein Prioritätsfenster klappte auf, in dem Bellas Gesicht erschien.

»Parry«, sagte sie. »Gott sei Dank. Ich habe schon gedacht, wir müssten die Crusader losschicken, um dich abzuholen. Wie es scheint, hat der Reparaturtrupp die Energieleitung für die Außenkommunikation durchtrennt.«

»Ich hoffe, du machst ihnen deswegen die Hölle heiß.«

»Unter normalen Umständen würde ich es tun, aber … jetzt ist nicht der richtige Zeitpunkt.«

Niemand sagte etwas. Die anderen warteten darauf, dass Parry für sie sprach. Die Karten lagen auf dem Tisch.

»Was ist los, Bella?«

»Etwas Großes«, antwortete sie. »So groß, dass ich dich im Schiff brauche, und zwar sofort. Aber bevor du aufbrichst, möchte ich, dass der Treiberschacht bereit gemacht wird, eine DUE aufzunehmen.«

»Von diesem Baby müssen wir nichts absprengen, Bella. Es wird sicher und sauber nach Hause zurückfallen.«

»Ich rede nicht davon, den Kometen umzugestalten«, sagte sie. »Ich rede davon, ihn in die Luft zu jagen.«

 

Svetlana Barseghian tupfte hellgrünes Desinfektionsmittel auf die Druckstellen in ihrer Leistengegend, dann riss sie das Armband mit dem Dosimeter von ihrem Handgelenk und vergewisserte sich, dass die Missionsdosis immer noch unter vierhundert Millisievert lag. Sie zog sich eine Jogginghose und ein schwarzes T-Shirt von Lockheed-Krunichev Fusion Systems an, stieg in fleckige graue Turnschuhe und kämmte mit einer Hand durch ihr Haar, das nach dem Weltraumspaziergang platt war und juckte. Sie drückte sich zwei rosafarbene Ohrschützer in die Gehörgänge, um den Hintergrundlärm zu dämpfen. Außer in den zwei Stunden, wenn die meisten Maschinen abgeschaltet wurden, war es in der Rockhopper lauter als im Orlan-18.

Ein Labyrinth aus Verbindungskorridoren brachte sie zur Zentrifuge Nummer zwei. Als sie Bellas Büro erreichte, sah sie, dass Craig Schrope bereits da war. Sie erinnerte sich daran, dass sie sich diesmal benehmen wollte.

Bella forderte sie mit einem Wink zum Eintreten auf, drückte ihre Zigarette im Aschenbecher aus und sagte etwas zu Svetlana. Ihre Lippen bewegten sich, aber kein Laut war zu hören. Svetlana wurde klar, dass sie immer noch die Ohrschützer trug. Sie zog sie heraus und legte sie in den kleinen Plastikbehälter zurück, den sie am Klettband ihrer Jogginghose befestigte.

»’tschuldigung.«

»Ich hatte den Vorschlag gemacht, dass du dich setzt«, sagte Bella liebenswürdig. Sie wartete geduldig, bis Svetlana auf einem leichten Klappstuhl Platz genommen hatte.

Bellas schallgedämpftes und mit Teppichen ausgelegtes Büro war der größte private Raum im Schiff. Gleichzeitig diente er ihr als Schlafquartier. Die Wände waren pastellgrau und stellenweise mit seismischen Karten in Falschfarben tapeziert, die körnige Bilder von Schiffswracks und Korallenriffen zeigten, die bei Tauchexpeditionen aufgenommen worden waren. Der einzige Einrichtungsgegenstand, der sich nie veränderte, war Bellas Aquarium mit fünfhundert Litern Wasser.

Svetlana wusste, dass Schrope das Aquarium nicht ausstehen konnte. Das Ding war eine Konzession am äußersten Rand der Regelwidrigkeit, genau das, womit er sich in Big Red so viele Feinde gemacht hatte. Dort hatte man ihn als Bluthund bezeichnet. Es hieß, dass Schrope von DeepShaft zur Rockhopper versetzt worden war, damit er so weit wie irgend möglich vom Mars entfernt war.

Nun saß er neben Bella hinter dem Schreibtisch, hinter dem eigentlich Jim Chisholm hätte sitzen sollen. Er spielte mit einem Firmenkugelschreiber und wirkte rundum zufrieden mit sich selbst.

»Tut mir leid, dass du so überstürzt antanzen musstest«, sagte Schrope mit tiefer, schnurrender Stimme.

Svetlana rückte sich auf dem Klappstuhl zurecht, ohne etwas zu erwidern.

»Wie war die Schicht?«, fragte Bella. Sie trug eine Halskette aus Haifischzähnen und eine verblasste rote Holzfällerjacke. Darunter war eine schwarze Weste zu erkennen, auf die ein Bild aus Goldfolie mit dem Schriftzug Titanic Bar & Grill geprägt war.

»Lief schon besser. Ich bin nicht gerade ein Fan von Blackouts während eines Außeneinsatzes.«

Bella zog wissend eine Augenbraue hoch. »Schon wieder die Achtzehner?«

»Dasselbe alte Trimix-Problem.«

»Vergiss nicht, es im Logbuch zu erwähnen. Auch wenn die Zentrale uns zwingt, diesen rekonditionierten Schrott zu benutzen, heißt das nicht, dass wir ihn toll finden müssen.«

»Alles ist nach industriellen Weltraumstandards zertifiziert«, sagte Schrope und zupfte eine Staubflocke von seinem tadellosen blauen DeepShaft-Overall. »Auf der Hammerhead kommen die Leute mit Sachen zurecht, die noch viel älter als die Achtzehner-Modelle sind, ohne ständig zu jammern und zu stöhnen.«

»Das ist das Problem der Hammerhead«, sagte Svetlana.

»Der Unterschied ist der, dass sie nicht ständig darauf herumreiten«, sagte Schrope gleichmütig. »Aber da es hier ein großes Problem zu sein scheint, habe ich für die nächste Rotation die Umrüstung auf Zweiundzwanziger bewilligt.«

Als wäre das Kreuzchen im Bestellungsformular die größte Gefälligkeit des Jahrhunderts! »Und wann wäre das, Craig?«, fragte Svetlana freundlich. »Bevor oder nachdem Jim sein Rückflugticket bekommt?«

Schrope tat ihre Frage ab, indem er mit dem Kugelschreiber durch die Luft schnitt. »Bella, vielleicht solltest du Svetlana über die neueste Entwicklung in Kenntnis setzen. Da diese Angelegenheit indirekt auch Jim betrifft …«

»Was für eine Entwicklung?«, fiel Svetlana ihm ins Wort.

»Wir haben einen neuen Auftrag erhalten«, sagte Bella. »Wir sollen den Treiber abkoppeln und hier zurücklassen.«

»Und der Komet?«

»Da draußen gibt es noch jede Menge davon.«

Svetlana schüttelte fassungslos den Kopf. »Wir können ihn nicht einfach aufgeben, nachdem wir so viel Arbeit investiert haben. Der Treiberschacht ist angelegt, der Sonnenkollektor ist installiert und für die Beschleunigungsphase bereit …«

»Vielleicht müssen wir uns um einen größeren Fisch kümmern. Ich brauche ein paar technische Daten.«

Schrope übernahm die Gesprächsführung. »Könnten wir schnell von hier wegkommen, wenn es nötig wäre?«

»Wir sind jederzeit bereit, uns auf sichere Entfernung zurückzuziehen«, sagte Svetlana.

»Ich meine, ob wir sofort auf Vollschub gehen können, für eine längere Reise.«

Svetlana ging eine mentale Checkliste durch. »Ja«, sagte sie vorsichtig. »Normalerweise würden wir noch ein paar Tests machen, vor allem nach einer längeren Abschaltung wie in diesem Fall …«

»Verstanden«, sagte Bella. »Aber es gibt keinen zwingenden Grund, warum wir den Antrieb nicht hochfahren sollten?«

»Nein. Aber Parry und die anderen …«

»Die Avenger ist bereits auf dem Rückweg. Sie werden in Kürze an Bord gehen. Noch etwas, Svieta: Im Handbuch steht, dass wir das Triebwerk auf ein halbes Ge hochjagen können, wenn wir es ganz lieb streicheln …« Sie redete nicht weiter, aber Svetlana wusste auch so, worauf sie hinauswollte.

»Theoretisch.«

Bella kniff die Augen zu schmalen Schlitzen zusammen. »Ja oder nein?«

»Also gut, ja. Aber man sollte es nicht länger als ein paar Stunden machen. Danach bekommen wir es mit zunehmendem Verschleiß bei kostspieligen, nicht ersetzbaren Komponenten zu tun. Es droht ein erhöhtes Risiko von Ausfällen, die die Mission gefährden. Ganz zu schweigen von der strukturellen Belastung des kompletten Schiffs.«

Bella tippte mit einem Finger auf den Ausdruck einer E-Mail im Klartext. »Lockheed-Krunichev versichert mir, dass die Belastung unterhalb der konstruktionsbedingten Grenzwerte liegt. Wenn du mir sagst, dass das Triebwerk durchhält, bin ich glücklich und zufrieden.«

Das Dokument lag von Svetlana aus gesehen auf dem Kopf, aber sie konnte trotzdem erkennen, dass es in der Betreffzeile um Janus ging. Römische Mythologie. Der Gott mit den zwei Gesichtern. Wofür stand er noch gleich?

Außerdem war es der Name eines Saturnmondes.

»Es ist machbar«, sagte sie.

»Gut«, schloss Bella die Diskussion ab. Aber Svetlana entging nicht, dass sie das Wort mit einem Seufzer aussprach. Als hätte sie insgeheim gehofft, eine andere Antwort zu erhalten.