Dreizehn


 

 

Svetlana bemühte sich, ihr ungutes Gefühl in der Magengegend zu ignorieren, während sie die rechte Hand fest um Parrys Arm geklammert hatte, sodass sich ihre Finger in den Stoff seines Ärmels gruben. Es war typisch für Parry, dass er sofort nach dem Start der Cosmic Avenger eingeschlafen war.

Sie überflogen immer noch Eis. Nur das Triebwerk des Beiboots warf einen schwachen Widerschein über die Umgebung. Ansonsten war es zu dunkel, um allzu viel zu erkennen. Doch auf dem Bildschirm war zu sehen, dass sie sich über den letzten Ausläufern der Eiskappe am Heck befanden, wo sie über hoch aufragenden Spitzen und tiefen Schluchten spicanischer Maschinerie ausdünnte und zerfaserte. Die Gravitationswirbel wurden hier stärker, was einer der Gründe war, warum sich das Eis hier nicht mehr gehalten hatte. Das Beiboot schlingerte wie ein Flugzeug in schweren Turbulenzen, bei denen man aufhörte, Getränke zu servieren.

Es war möglich, dass es einen ruhigeren Kurs gab, aber so etwas galt als zu kostspielig, was den Treibstoffverbrauch betraf. Treibstoff war immer noch ein Problem, selbst jetzt, und jedes Gramm, das verbrannt wurde, musste mit bürokratischer Pingeligkeit gerechtfertigt werden. Piloten wurden getadelt, wenn sie auf ihren Flügen auch nur einen Bruchteil mehr Treibstoff verbrauchten, als die Software vorhergesagt hatte.

Ein weiterer Ruck, und dann hatten sie das Eis hinter sich gelassen. Svetlana schaute gerade noch rechtzeitig zurück, um zu sehen, wie die zerklüftete blaugraue Klippe hinter dem Beiboot zurückfiel. Eisberggroße Brocken lagen am Fuß der Bruchkante und drängten sich zwischen gewaltigen rechteckigen Formen. Das Beiboot überflog nun eine irreale Traumlandschaft aus Maschinen, die groß wie Berge waren, und sie schienen sich plötzlich langsamer zu bewegen, als der Boden in ferne, undeutliche komplexe Formen abfiel. Einen Moment lang machte es den Eindruck, als würden sie reglos auf der Stelle schweben.

Der Anblick war atemberaubend. So war es jedes Mal für Svetlana.

Es war wie ein Nachtflug über einer Metropole, nur dass ihre Ausmaße hundertfach vergrößert waren. Dennoch stellte sich seltsamerweise kein Schwindelgefühl ein. Svetlana hatte dasselbe empfunden, wenn sie über gewaltige Korallenriffe hinweggeschwommen war oder als sie einmal die Steilkante eines Kontinentalschelfs überquert hatte.

Die Bilder, die von Janus kurz nach dem Aufbruch aus der Saturnumlaufbahn geschossen worden waren, hatten darauf hingedeutet, dass die spicanischen Maschinen eine blass schimmernde, durchscheinende Struktur aufwiesen. Die Wahrheit war jedoch viel komplexer. Aus der Nähe wirkten die Maschinen im größten Teil des elektromagnetischen Spektrums schwarz, doch viele Oberflächen waren tatsächlich mit Texturen überzogen, die Licht abstrahlten. Es waren farbig leuchtende fensterartige Flächen, die nahtlos in den schwarzen Hintergrund übergingen.

Die vorläufige Deutung besagte, dass die Fenster eine Art Symbolsprache bildeten. Frühe Untersuchungen hatten ergeben, dass es einhundertfünfundfünfzig verschiedene Fensterformen gab, von denen jede aus fünf oder sechs rechteckigen Unterelementen bestand, die wie Dominosteine aneinander gelegt waren. Die meisten dieser Fensterformen wiederholten sich tausendfach auf den sichtbaren Oberflächen, doch es gab ein paar, die deutlich seltener vorkamen. Eine recht einfache Form, die dem Buchstaben ›T‹ ähnelte, war erst ein einziges Mal beobachtet worden.

Jake Gomberg, der Sprachenfreak der Rockhopper, war damit beauftragt worden, den Sinn der spicanischen Zeichen zu entschlüsseln. In Anbetracht ihres sehr unterschiedlichen Temperaments war es erstaunlich, dass der geschwätzige Gomberg und die stille, unscheinbare Christine Ofria bei dieser Aufgabe ausgezeichnet zusammenarbeiteten. Inzwischen waren sie ein Paar, nachdem die Interimsverwaltung ihre Heirat abgesegnet hatte. Ihre Tochter Hannah war das erste Kind, das ein knappes Jahr nach der Landung an Bord der Rockhopper zur Welt gekommen war. Jetzt war sie ein Jahr alt und legte ein unglaubliches frühreifes Sprachtalent an den Tag.

Doch in den fast zwei Jahren hatten ihre Eltern erschütternd wenige Fortschritte erzielt. Sie wussten immer noch nicht, was sie davon halten sollten, dass manche Symbole gelegentlich die Farbe wechselten oder ganz erloschen. Vielleicht waren diese Veränderungen der Schlüssel zum Verständnis der spicanischen Sprache, aber es konnte auch sein, dass sie genauso bedeutungslos wie das Flackern einer Neonröhre waren, die bald den Geist aufgeben würde.

Insgeheim war Svetlana froh, dass es keinen frühen Durchbruch bei der Spracherforschung gegeben hatte. Sie machte sich Sorgen, dass sich die Botschaft – im unwahrscheinlichen Fall, dass es ihnen jemals gelingen sollte, sie zu entziffern – als entmutigend erweisen mochte. Die Moral ihrer kleinen Gemeinschaft war auch ohne einen solchen Rückschlag recht labil.

Die Cosmic Avenger ging tiefer und folgte einem Kurs, der sie zwischen den Spitzen der höchsten Strukturen hindurchführte. Sie überquerten etwas, das wie ein gewundener Strom aus erstarrter Lava aussah, der sich zwischen den gigantischen Klötzen spicanischer Maschinerie hindurchschlängelte. Svetlana wartete, weil sie wusste, dass früher oder später ein Transporter auftauchen würde.

Schon bald darauf entdeckte sie die schnell dahinrasende außerirdische Maschine, die wie eine Schwellung im Strom die Lava entlangglitt.

Janus wurde von Pol zu Pol von solchen Lavaströmen durchzogen. Es waren mehrere tausend, jeweils mehrere zehn oder hundert Kilometer lang, die sich an komplizierten Kleeblattkreuzungen miteinander verbanden. Die Enden verschwanden in den glatten Seitenwänden von Maschinen, die sich nur eine Mikrosekunde vor und nach dem Eintreffen eines Transporters öffneten.

Nick Thale und seine Leute hatten viel Zeit mit dem Studium der Lavaströme verbracht. Genaue Beobachtungen hatten ergeben, dass die Transporter aus fünf verschiedenen »Fabriken« kamen, die über ganz Janus verteilt waren. In ihren Suspensionsfeldern transportierten sie Material, das nach einem zweckmäßigen Bauplan gestaltet schien. Transporter, die sich in die entgegengesetzte Richtung bewegten, führten meistens so etwas wie Abfall mit sich, Haufen aus unregelmäßigen Stücken, die vielleicht einmal intakte Bauteile gewesen waren.

Zu Anfang des ersten Jahres hatten die seismischen Überwachungsinstrumente eine schwere Erschütterung im Innern von Janus registriert. Das Beben hatte die verankerte Rockhopper heftig durchgeschüttelt und beinahe umstürzen lassen. Daten von den Flugrobotern, die sich immer noch draußen im Kielwasser befanden, zeigten, dass die Beschleunigungsrate des Mondes während der folgenden Woche von fünf auf drei Ge fiel. Im gleichen Zeitraum erhöhten sich die Transporteraktivitäten in einem Ausmaß, das vorher noch nie beobachtet worden war. Gewaltige Mengen Schrott kamen aus drei dicht beisammen stehenden Strukturen in der Nähe eines Gebildes, das die Bezeichnung Verteilerkasten erhalten hatte. Die Fabriken reagierten, indem sie große Mengen neuer Bauteile ausstießen. Es kam zu »Verkehrsstaus«, als der endlose Strom von Transportern die Lavastraßen verstopfte, wodurch die Fahrzeuge zum ersten Mal aus der Nähe studiert werden konnten. Außerdem wurden geringfügige Veränderungen am Straßensystem beobachtet.

Am Ende der Woche nahm Janus die frühere Beschleunigungsrate wieder auf, als wäre nichts geschehen. Doch die Bedeutung dieses Vorfalls war klar: Irgendwo im Herzen des Mondes hatte ein System versagt, vielleicht sogar auf katastrophale Weise. Daraufhin hatte der Mond sein Tempo gedrosselt, sich ganz auf die Reparaturarbeiten konzentriert und sich selbst wieder in Ordnung gebracht.

Das war einerseits gut und andererseits schlecht.

Es bedeutete, dass Janus zwar nicht unfehlbar war, dass es zu Pannen kommen konnte, dass er aber durchaus imstande war, Schäden aus eigener Kraft zu beheben. Gleichzeitig war die Hektik, mit der die Reparaturen durchgeführt wurden, geradezu unheimlich. Vorher war darüber diskutiert worden, den Mond zu sabotieren, einen Schraubenschlüssel in das Herz des fremdartigen Antriebssystems zu werfen, zum Beispiel eine DUE, die auf maximale Wirkung eingestellt war. Doch solche Pläne erschienen plötzlich hoffnungslos naiv, als würde man versuchen, einen Bulldozer mit einer Feder aufzuhalten.

Der Transporter raste dem Beiboot voraus und verschwand dann in der glatten Wand einer pyramidenförmigen Struktur. Danach folgte das Beiboot einer breiten Lavaspur über fünf oder sechs Kilometer und versuchte eine Zone mit hoher Gravitationsfluktuation zu umfliegen. Sie kamen unter einer erleuchteten Brücke oder Überführung hindurch und rasten dann mit halsbrecherischer Fahrt zwischen den mit Sprache übersäten Wänden einer gekrümmten Schlucht dahin.

Genau vor ihnen lag der Schlund.

Lavastraßen führten aus allen Richtungen zum Schlund und stürzten sich über seine gewölbte Lippe in das glutrote Herz von Janus. Obwohl der »Boden«, auf dem die spicanischen Maschinen standen, stellenweise bis zu zwanzig Kilometer unter die durchschnittliche Oberfläche abfiel, war der Schlund die einzige bekannte Öffnung, die tiefer hinein führte. Da sie nur knapp zweihundert Meter groß war und von anderen Oberflächenstrukturen verdeckt wurde, war sie erst nach der Ankunft der Rockhopper entdeckt worden.

Robert Ungless ließ die Cosmic Avenger mit einem kurzen Gegenschub über dem Schlund anhalten.

Parry stöhnte, öffnete die Augen und drückte die Fingerspitzen in die Augenwinkel. »Sind wir schon da?«

»Geduld«, sagte Svetlana. »Wir sind noch im Anflug.«

Das Beiboot senkte sich in den Schlund und wurde von einer Röhre umschlossen, die mit glänzend leuchtenden Lavastraßen geädert war. Als das Schiff weitere dreihundert Meter tiefer gesunken war, erweiterte sich der Raum zwischen den Wänden, die sich in die Horizontale bogen.

Svetlana hatte mit der gewaltigen Höhle gerechnet, aber sie war nicht auf das klaustrophobische Gefühl vorbereitet gewesen, durch eine enge Öffnung in einen riesigen leeren Raum einzudringen. Als das Beiboot sich immer weiter von der Öffnung entfernte, erschien sie mit einem Mal täuschend winzig. Die ganze Reise hatte für sie viel zu viel Ähnlichkeit mit Höhlentauchen. Sie kam damit zurecht, in großer Wassertiefe zu schwimmen, aber nicht, wenn sich zwischen ihr und der Oberfläche noch etwas anderes befand.

»Macht Spaß, was?«, sagte Parry und sah sie mit einem verschmitzten Grinsen an.

Sie erwiderte den Blick mit gerunzelter Stirn. »Das sagst du nur, um dich über mich lustig zu machen. Es ist ein erschreckendes Erlebnis. Jedes menschliche Wesen mit einem Funken Verstand würde mir zustimmen.«

Das Beiboot legte sich in die Kurve und ließ einen größeren Teil der beinahe kugelförmigen Kammer erkennen. An der weitesten Stelle durchmaß sie zehn Kilometer. Die meisten Maschinen bedeckten die Wände in einer höchstens einen Kilometer dicken Schicht, und nur ein paar nadeldünne Spitzen ragten tiefer in den Innenraum hinein. Genauso wie an der Oberfläche überzogen spicanische Symbole die Maschinerie wie Graffiti, die neurotisch penibel ausgeführt waren. Das Licht, das von diesen Symbolen kam, tauchte die Kammer in einen sanften roten Schein. Hier waren rote Symbole klar in der Überzahl gegenüber anderen Farben.

Auf einer Bodenfläche, die frei von Maschinen oder Lavaströmen war, markierten gelbe Blinklichter einen Landeplatz. Neben der Fläche war eine Gruppe von Druckzelten aufgebaut. Eine Gestalt im Raumanzug beobachtete ihren Anflug, die Hand an die Helmscheibe gelegt, um sich vor dem grellen Licht des Beiboottriebwerks zu schützen.

Sie sanken schnell tiefer. Man sparte Treibstoff, wenn man bei der Landung die Stoßdämpfer benutzte, statt Gegenschub zu geben. Die Cosmic Avenger schaukelte ein paarmal auf und ab, während das Triebwerk erstarb, dann stand sie still. Durch die Tür zum Cockpit konnte Svetlana sehen, wie Ungless auf seinem Flextop einen Logbucheintrag vornahm.

»Vielen Dank, dass Sie mit Kotz Airlines geflogen sind«, sagte Parry.

Sie setzten die Helme auf und zwängten sich in die Luftschleuse. Ungless blieb an Bord, machte aber keinen Hehl daraus, dass er am liebsten sofort wieder abgeflogen wäre. Allerdings hatte Svetlana ohnehin nicht die Absicht, für längere Zeit zu bleiben.

Sie traten aus dem Beiboot auf den schwarzen Boden aus spicanischer Produktion. Die Oberfläche widerstand jeder chemischen oder spektroskopischen Analyse, aber sie war griffig genug, um darauf mit Geckoflex Halt zu finden, und sie duldete auch dauerhaftere Verbindungen. Die kleine Ansiedlung aus Zelten und Ausrüstungsmodulen war angeklebt worden, damit sie nicht während der leichten Schwerkraftböen davontrieben, die sich gelegentlich in der Kammer bemerkbar machten.

Die wartende Gestalt hob grüßend die Hand. Svetlanas Anzug stellte eine Kommunikationsverbindung her und teilte ihr auf der Helmscheibe mit, dass es sich bei der Person um Gabriela Ramos handelte.

»Schön, dass ihr hier seid«, sagte Ramos über die Sprechfunkverbindung. »Wir haben uns schon nach etwas Gesellschaft gesehnt.«

»Es wird leider nur eine Stippvisite«, sagte Svetlana. Sie ging auf Gabriela zu und umarmte sie, so gut es mit den klobigen Anzügen möglich war. »Es scheint eine Ewigkeit her zu sein, seit wir uns zuletzt gesehen haben. Wie lange bist du schon hier unten?«

»Mit dieser Rotation?« Sie tippte nachdenklich mit einem Finger gegen das Kinnstück ihres Helms. »Das ist meine fünfte … nein, meine sechste Woche. Der Plan sieht vor, dass ich in zehn Tagen wieder nach oben gehe. Zumindest stand es so im Plan, bevor uns das hier dazwischengekommen ist.«

Svetlana löste die Vorratskisten von den Seiten des Beiboots. »Ich wünschte, wir könnten kürzere Schichten fahren, aber du weißt ja, wie es um unseren Treibstoffvorrat steht.«

»Klar doch. Ich will mich auch gar nicht beklagen. Wenigstens kommen wir so ganz gut mit der Arbeit voran. Und vielleicht könnte sich das, was wir gefunden haben, als hilfreich erweisen.«

»Das wäre großartig«, sagte Parry.

»Das klang nicht sehr überzeugt«, stellte Ramos fest.

»Ich würde vielleicht begeisterter klingen, wenn es nicht schon so viele Rückschläge gegeben hätte. Aber lass dich durch meinen naturgegebenen Pessimismus nicht irritieren.«

Sie trugen die Vorratskisten in ein Lagermodul und verbrachten die nächsten zehn Minuten damit, leere Treibstoffzellen gegen aufgeladene auszutauschen. Als sie fertig waren und die leeren Batterien wieder am Beiboot verstaut hatten, führte Ramos sie in eins der Zelte. Es stand unter Druck, also mussten sie eine weitere Luftschleuse durchschreiten, bevor sie die Helme und Handschuhe abnehmen konnten. Das Innere war mit Stoffwänden in einen Gemeinschaftsraum, eine Küche und drei Schlafzimmer aufgeteilt worden. Die gegenwärtigen und bisherigen Bewohner hatten sich alle Mühe gegeben, eine gemütliche Atmosphäre zu erzeugen, aber nur mit geringem Erfolg. Ohne Helm bemerkte Svetlana, dass es ungemütlich kalt war. Sie fragte sich, ob Ramos jemals ihren Raumanzug ablegte.

»Axford sagt, ich soll mir mal dein Armband ansehen«, sagte sie.

Ramos hantierte mit der Manschette ihres Anzugs, bis sie das Armband hervorgeholt hatte. »Du weißt, dass wir hier unten weniger Strahlung abkriegen als ihr da oben.«

»Ich möchte nur ganz sicher gehen – vor allem jetzt, da sich hier etwas tut.« Svetlana notierte sich den Wert der Dosis – der keinen Anlass zur Sorge gab – und reichte Ramos das Armband zurück.

»Was ist mit den anderen?«, fragte Ramos.

»Wir gehen davon aus, dass ihr alle der gleichen Belastung ausgesetzt seid. Eure Knochendichte können wir erst prüfen, wenn ihr wieder oben seid, aber ich werde euch einfach mal glauben, dass ihr alle euer Trainingspensum erfüllt.«

Ramos machte Kaffee, den sie mit präzise abgemessenen Löffeln rationierte. Svetlana trank ihn mit dem Wissen, dass es sich um eine seltene und immer seltener werdende Delikatesse handelte. Axford konnte aus den Pflanzen des Arboretums einen passablen Tee zubereiten, aber bei Kaffee musste er passen. Vielleicht würde Wang ihnen eines Tages helfen können, aber vorläufig beschränkte sich ihr Vorrat auf weniger als zweihundert Kilo für die gesamte Siedlung.

Ramos quetschte sie gnadenlos nach dem neuesten Tratsch von oben aus. Ihre Stimmung schien gut zu sein. Svetlana hatte sie schon immer gemocht, seit dem Augenblick, als die junge Frau zur Rockhopper rotiert war, und sie hatte sich vorbildlich an das Leben auf Janus angepasst. Als sich Svetlana ihre biografischen Daten angesehen hatte, war ihr alles klar gewesen. Ramos’ Leben vor DeepShaft war ein langwieriger Aufstieg aus den überfluteten Slums des alten Buenos Aires gewesen. Svetlana wusste, dass sie immer noch Familie in La Boca hatte, aber nach ihrer Versetzung auf das Schiff war sie zu einem beliebten und gut integrierten Mitglied der Besatzung geworden. Umso traumatischer musste die Meuterei für sie gewesen sein, wie eine entwürdigende Scheidung.

In letzter Zeit hatte sich die Lage verbessert. Es war zu einer Art Tauwetterperiode in den angespannten Beziehungen zwischen den zwei Fraktionen gekommen. Ramos war mit Mike Sheng eine lockere Bindung eingegangen, jemandem, der sich auf die Seite des alten Regimes geschlagen hatte. Noch vor achtzehn Monaten wäre so etwas undenkbar gewesen – zu diesem Zeitpunkt waren die Wunden noch lange nicht verheilt –, aber nun wurden solche Beziehungen immer mehr zum Normalfall. Ryan Axfords Versicherung, jeden zu behandeln, ungeachtet der Parteizugehörigkeit, hatte durchaus eine gewisse Rolle für die neue Versöhnungsphase gespielt.

Natürlich gab es Differenzen, die sich nicht ohne weiteres überspielen ließen. Und die allgemeine positive Stimmung in der Besatzung war zum Teil darauf zurückzuführen, dass die meisten nicht ahnten, wie ernst das Problem mit der Treibstoffknappheit wirklich war. Svetlana wusste es genau, und zeitweise war es für sie sehr schwierig, die Fassade des Optimismus aufrechtzuerhalten.

Als sie mit dem Kaffee fertig waren – dem letzten in dieser Woche –, half Svetlana Ramos beim Abwasch. Dann setzten sie alle wieder die Helme auf, zogen die Handschuhe an und stapften zurück in die Luftschleuse.

»Ich bin schon ganz aufgeregt«, sagte Parry.

»Dann sollte ich dich vorwarnen«, sagte Ramos. »So beeindruckend ist es nämlich gar nicht.«

 

Erst als sie aus dem Zelt trat, bekam Svetlana einen Eindruck von der wahren Größe der Kammer. Sie beugte sich schwerfällig zurück, blickte auf und sah das Loch, das in den Schlund mündete. Es war eher am Zusammenfluss der Lavastraßen zu erkennen als am schwarzen Epizentrum. Es schien hoffnungslos weit entfernt zu sein, ein Nadelöhr am Himmel, in das sie sich würden einfädeln müssen, wenn sie zurückfliegen wollten.

»Hier entlang«, sagte Ramos. »Wir werden Geckoflex benutzen, also hoffe ich, dass ihr noch gut in Form seid.«

Sie führte sie vom gelandeten Beiboot fort, über den Landeplatz hinaus auf einen Weg, der mit Leuchtfarbe markiert war. Sie schlängelten sich zwei oder drei Kilometer weit durch enge Hohlwege zwischen hohen Klötzen aus spicanischer Maschinerie. Svetlana bemerkte, dass der Boden langsam anstieg, als sie sich der gekrümmten Seite der Höhle näherten. Die Anstrengung war kaum der Rede wert, aber sie musste sich zwingen, in aufrechter Haltung zu gehen. Es wäre ein Leichtes gewesen, sich einfach zurückzulehnen, bis die Gefahr drohte, dass sie verträumt das Gleichgewicht verlor und rückwärts umkippte.

»Das Verrückte ist, dass wir schon so lange hier sind und es die ganze Zeit nicht bemerkt haben«, sagte Ramos.

»Was hat euch darauf aufmerksam gemacht, dass sich etwas bewegt?«, fragte Parry. Svetlana hörte Musik über die Sprechverbindung, aber sie konnte nicht erkennen, was Parry aufgerufen hatte. Wahrscheinlich nicht Turandot, dachte sie. In letzter Zeit spielte er Puccini nicht mehr allzu oft.

»Das haben wir Jake und Chris zu verdanken«, sagte Ramos. »Wenn sie nicht so wild darauf gewesen wären, all diese Symbole zu fotografieren und zu dokumentieren, hätten wir es wahrscheinlich nie gesehen.«

»Ich werde dafür sorgen, dass sie davon erfahren. Wenigstens sind ihre Forschungen keine völlige Verschwendung von Zeit und Flextopenergie gewesen.«

Der Anstieg wurde allmählich anstrengender. Svetlana nahm immer häufiger Geckoflex zu Hilfe. Sie atmete schwerer und sprach seltener. Die Neigung der Wand betrug inzwischen fünfundvierzig Grad, während die größeren spicanischen Konstruktionen in unwahrscheinlichen Winkeln aus der Wand ragten. Ramos trieb sie ohne Pause weiter, sodass Svetlana inzwischen ihre Bemerkung über die Fitness des Außenteams bereute.

Sie schoben sich vorsichtig durch ein Dickicht aus schwarzen klingenförmigen Strukturen. Ramos warnte sie, dass sie scharf genug waren, um den Stoff eines Anzugs aufzureißen. Dann lag das Ziel ihres Marsches direkt vor ihnen – die größere der zwei auffälligsten Spitzen, die in die Kammer ragten.

Es war ein schlanker Kegel, der eine Länge von drei Kilometern erreichte. Wo er mit der Wand verschmolz, hatte die Basis einen Durchmesser von etwa hundert Metern, schätzte Svetlana. Auf jeden Fall war das Gebilde riesig und von den inzwischen vertrauten spicanischen Symbolen umringt. Die Zeichen zogen sich den Kegel hinauf, bis sie zu einem funkelnden rötlichen Schimmer verschmolzen. An der Spitze befand sich ein spindeldürres Kreuz, das wie eine Wetterfahne aufgesetzt war.

Zwei weitere Gestalten in Raumanzügen, die hinter der Krümmung der Basis kaum noch zu erkennen waren, hantierten mit Geräten auf Stativen. Sie winkten der eingetroffenen Gruppe zu und setzten ihre Arbeit fort.

Ramos führte sie zur Basis und wurde dort langsamer. »Ich habe euch gesagt, dass es nicht sehr beeindruckend wirkt.«

So war es. Und erst recht im Vergleich zu den Oberflächenstrukturen, von denen manche fünf- bis sechsmal größer als diese Spitze waren. Aber dieses Gebilde hatte etwas Atemberaubendes, etwas völlig Andersartiges an sich: Es bewegte sich. Nicht sehr schnell. Die Rotation des Kegels verlief quälend langsam und war selbst an der Basis mit dem unbewaffneten Auge nur schwer wahrzunehmen. Deshalb hatte es so lange gedauert, bis es jemandem aufgefallen war. Nur wenn man die Symbole sehr genau beobachtete, wurde die Drehung offensichtlich. Für einen flüchtigen Beobachter sah die Spitze jeden Tag gleich aus.

Svetlana ging an der Stelle in die Knie, wo die Basis in die Wand überging. Die Symbole zogen sich bis zur Nahtstelle hinunter. Sie legte einen Finger auf eins der Zeichen und wartete ab.

»Ich kann die Bewegung spüren«, sagte sie.

»Bei diesem Umfang ist es nur ein halber Zentimeter pro Sekunde«, sagte Ramos. »Wenn man es weiß, merkt man es sofort. Andernfalls ist es sehr leicht zu übersehen.«

Die Rotation des Kegels war in der Tat wahrnehmbar, aber keineswegs völlig offensichtlich. Im strukturlosen Boden gab es kaum einen Bezugspunkt, an dem man die Bewegung beurteilen konnte.

»Und du glaubst, dass wir das nutzen können?«, fragte Parry.

»Mit einem geeigneten Mechanismus können wir es zumindest versuchen«, sagte Ramos resolut.

»Für diese Rotation muss es einen Grund geben«, sagte Svetlana. »Vielleicht passt es Janus nicht, wenn wir daran herummanipulieren.«

»Nach meiner Theorie würde Janus es nicht einmal bemerken. Und wenn doch … wir würden ja nur einen winzigen Bruchteil der Energie abzapfen, die in diesem Ding gespeichert ist.« Ramos zeigte auf die zwei Gestalten in Raumanzügen. »Sie haben Metallplatten an die Basis geklebt und mit Hebeln das Drehmoment gemessen. Unsere Versuche hatten keinen spürbaren Einfluss auf die Rotationsrate. Nach unseren Erkenntnissen könnte die Kraft einen unendlichen Betrag haben.«

»Und das Verbindungsstück – du glaubst, dass wir es zum Funktionieren bringen können?«

»Ich behaupte nicht, dass es einfach sein wird, aber am Ende wird es Energie liefern.«

»Wie lange werdet ihr brauchen?«

»Zwei Jahre, mehr oder weniger. Es müsste eine Menge Fracht mit den Beibooten transportiert werden, und wir brauchen hier unten mehr Leute.«

»Zwei Jahre ist zu lang«, sagte Svetlana. »Könnten wir die Zeit halbieren?«

»Halbieren?«, wiederholte Ramos ungläubig. »Das würde ein richtiger Kraftakt werden.«

»Ich möchte, dass ihr einen Plan ausarbeitet, wie sich das Ding in zwölf Monaten zusammenbauen lässt. Ich gebe euch so viel Treibstoff, wie ihr braucht, alle Roboter und zwölf Leute. Das ist das Maximum, das wir erübrigen können.«

»Hmm …« Ramos zögerte und schien wenig Neigung zu verspüren, sich auf etwas festzulegen, das sie nicht garantieren konnte. »Ich bin mir nicht einmal sicher, ob wir genügend supraleitendes Kabel haben, um eine Leitung bis hierher zu verlegen.«

»In sechs Monaten haben wir den Schmiedekessel wieder zum Laufen gebracht. Dann wird die Produktion von Kabeln absolute Priorität haben.«

»Nachdem du all die anderen Dinge auf der langen Liste abgearbeitet hast«, konterte Ramos.

»Wir brauchen Energie«, sagte Svetlana nachdrücklich. »Und zwar so schnell wie möglich.«

»Aber das Treibstoffproblem … die Vorräte werden doch noch eine Weile reichen, oder?«

»Ja«, sagte Svetlana schnell. Sie versuchte, den richtigen Tonfall der Beschwichtigung zu treffen. »Trotzdem sollten wir auf Nummer sicher gehen.«

»Wir werden unser Bestes geben«, sagte Ramos.