Vierunddreißig
Bella nahm die Magnetbahn nach Neustadt. Inzwischen gab es viele Neustädte auf Janus, aber dies war die erste und mit Abstand die größte. Hier lebten einhundertzwanzig Menschen, eine Zahl, die nur ein wenig kleiner war als die ursprüngliche Besatzung der Rockhopper. Es war eine Ansammlung von unterschiedlich großen Kuppeln und Mikro-Arboreten, die an den Verteilerkasten angeklebt waren, wie ein Haufen Rankenfüßer am glatten Metallrumpf eines Seeschiffes. In den vergangenen Jahren hatten die Perückenköpfe den Menschen gezeigt, wie sie das Gravitationsfeld unter Crabtree, Underhole und den anderen Siedlungen auf der Eiskappe verstärken konnten, aber zu diesem Zeitpunkt hatten sich die Neustädte bereits etabliert.
Die Magnetbahn wechselte die Richtung vertikal um neunzig Grad und kam an einer riesigen Farm aus Perpetuum-Mühlen vorbei, die sich langsam und würdevoll drehten, ähnlich wie die großen grauen Windturbinen, an die sich Bella aus ihrer Kindheit erinnerte. Die Ränder der Flügel waren leicht in ein Gebiet mit höherer Feldstärke geneigt, wodurch Kraft auf die Masse ausgeübt wurde, die sich in elektrischen Strom verwandeln ließ.
Der Zug fuhr langsamer werdend in eine gläserne Bahnhofshalle ein. Bella stieg aus, gefolgt von Liz Shen und dem getarnten Schatten des Phantoms. Links von ihnen bestand Janus aus einer Wand, die sich in schwindelerregende Höhe erhob, bis das Gekrakel aus klaren Details – Symbolen und gewundenen Lavastraßen – in perspektivischer Flucht verwischt wurde. Diese Seite des Verteilerkastens kam einem wie ein flacher Sims an dieser Wand vor. Rechts von ihnen hörte der Sims in zwei- oder dreihundert Metern Entfernung abrupt auf. Dahinter lag nur die totale Finsternis des Eisernen Himmels. Die Wirkung war genauso beunruhigend, wie Bella befürchtet hatte. Sie sollte durch die Desorientierung benachteiligt werden. Kein Wunder, dass Svetlana ihre Einladung abgelehnt hatte, nach Crabtree zu kommen.
In Neustadt wurden Bella, Shen und das Phantom von Einheimischen zu einem Raum eskortiert, in dem Svetlana bereits auf sie wartete. Die luxuriöse Ausstattung bestand aus kontrastreich gemustertem Wangholz, in das lebensechte holografische Ansichten des Mars eingelassen waren. Wenn man davon absah, dass die Schauplätze über den ganzen Planeten verstreut waren, hätte man den Raum für einen Aussichtspunkt auf einem höheren marsianischen Gebirge halten können. Die Horizonte und Lichtverhältnisse waren sorgfältig aufeinander abgestimmt worden, um die Illusion eines zusammenhängenden Panoramas zu erzeugen. Als Bella Platz nahm, stürmten Staubteufel gegen die Wetterschilde einer namenlosen Oberflächenkolonie, deren hohe Wände Minarette und Moscheen einschlossen, die im Herbstlicht eines marsianischen Spätnachmittags in Bronze- und Goldtönen schimmerten.
Sowohl Svetlana als auch Bella waren nach ihren Maßstäben anständig gekleidet, Bella in eine schwarze Jacke über einem schlichten schwarzen T-Shirt und einer engen schwarzen Jeans, Svetlana in einen marineblauen Abendanzug mit hohem Kragen und schwarzen Handschuhen. Sie war mit ihren eigenen Beratern und einem Wachroboter gekommen. Es handelte sich nicht um ein Phantom, sondern um eine chromglänzende FI, die wie eine hässliche Lampe von der Decke hing, eine Masse aus Klingen und waffenstarrenden Armen. Die Gerüchte, dass Svetlana mindestens über einen funktionierenden Schmiedekessel verfügte, schienen also zu stimmen. Auf dem Tisch standen Gläser und eine Wasserkaraffe.
»Danke, dass du dich einverstanden erklärt hast, dich mit mir zu treffen«, sagte Bella.
Svetlana öffnete die Hände und schloss sie wieder. »Ich weiß nicht genau, was du von mir zu hören erwartest.«
»Dass ich mir keine Sorgen zu machen brauche, mehr nicht.«
»In diesem Fall hast du dir einen sehr unpassenden Moment ausgesucht.« Svetlana tippte auf den Flextop, der vor ihr stand. Genauso wie Bella hegte sie eine Vorliebe für altertümliche Technik. »Ich habe gerade die Gerichtsnachrichten gesehen. Das Urteil wurde gesprochen. Parry hat fünfzig Jahre bekommen, gefolgt von einer gerichtlich verfügten Verjüngung.«
Bella musste darum kämpfen, sich zu beherrschen. Der Prozess war nicht so günstig gelaufen, wie sie gehofft hatte, aber sie hatte nie damit gerechnet, dass die Strafe so hoch ausfallen würde. Das Urteil musste gesprochen worden sein, während sie mit dem Zug unterwegs gewesen war. Sie warf einen Seitenblick auf Liz Shen, die ihre unausgesprochene Frage mit einem mikroskopischen Nicken beantwortete.
»Das tut mir leid«, sagte Bella. »Das ist viel mehr, als ich erwartet hatte. Ich hatte empfohlen, mildernde Umstände …«
»Das ist mehr, als man normalerweise für einen Mord bekommt.« Svetlana strich mit einem Handschuh über den Flextop. »Es heißt, das Strafmaß wurde der längeren Lebensspanne angepasst, der wir uns erfreuen. Nachdem wir länger leben, hat ein Mord größere Bedeutung bekommen. Aber er hat niemanden ermordet, Bella.«
»Ich weiß. Ich kann nur wiederholen, dass es mir leidtut.« Sie war nervös und desorientiert. Die Nachricht hätte zu keinem ungünstigeren Zeitpunkt kommen können. »Ich werde das Gericht unter Druck setzen …«
»Das würde nichts nützen. Man hat beschlossen, an ihm ein Exempel zu statuieren. Das letzte der großen Verbrechen.«
»Wir alle wissen, dass er nur unser aller Wohl im Sinn hatte«, sagte Bella. »Könnte das vielleicht ein kleiner Trost für uns sein?«
»Ich verstehe nicht, wie du jetzt von Trost sprechen kannst. Er ist mein Ehemann, Bella. Man nimmt ihn mir für fünfzig Jahre weg. So lange sind wir noch nicht einmal hier.«
»Sie werden das Urteil revidieren. Das geschieht immer. Vielleicht noch nicht dieses Jahr, aber wenn die Stellen neu besetzt werden …«
»Dann werden sie es auf vierzig Jahre verringern, vielleicht dreißig, wenn er Glück hat. Bildest du dir ernsthaft ein, dass es dadurch besser wird? Irgendwann hast du mir einmal gesagt, dass er vielleicht ganz ohne Haftstrafe davonkommt.«
»Ich konnte dir keine Garantien geben.«
»Aber du musst doch eine vage Idee gehabt haben, wie unwahrscheinlich das war. Du kennst genug Leute im Justizausschuss. Ich kann mir nicht vorstellen, dass du völlig ahnungslos warst.«
Bella biss sich auf die Lippe und zwang sich, ruhig zu bleiben. »Halt dich bitte mit ungerechtfertigten Vorwürfen zurück, Svetlana. Du hast den Justizausschuss eingesetzt, nicht ich.«
»Ich dachte, ich hätte ihn in gute Hände übergeben.«
»Er ist in den besten Händen, die man sich vorstellen kann. Er ist eine Maschine, die Gerechtigkeit produziert, nicht mehr und nicht weniger.«
Svetlana hob die Stimme. Der Roboter an der Decke reagierte, indem er bedrohlich die Arme bewegte. »Du willst fünfzig Jahre als Gerechtigkeit bezeichnen?«
»Ich bezeichne sie als fünfzig Jahre. Ich streite nicht ab, dass es eine lange Zeit ist, aber danach wird Parry kaum älter sein als jetzt. Das ist der Sinn einer gerichtlich verfügten Verjüngung. Wenn dir diese Jahre so viel bedeuten, könntest du sie jederzeit überspringen.« Mit einer Gehässigkeit, die sie anschließend bereute, fügte Bella hinzu: »Ich werde dafür sorgen, dass der nötige Papierkram besonders schnell erledigt wird, Svieta.«
»Das würde dir wunderbar in den Kram passen, was? Wenn du ein halbes Jahrhundert lang Ruhe vor mir hättest.«
»Wenn du es so darstellst …« Neben ihr spannte das Phantom einen papierflachen Arm an. Der Roboter an der Decke rückte ein Stück vor. Bella erschauderte, als sie daran dachte, was geschehen mochte, wenn die Sicherheitssysteme unerwartet aktiv wurden. Das Phantom würde siegen, sagte sie sich, aber nicht schnell genug, um Blutvergießen zu verhindern.
»Ich gehe nirgendwohin«, sagte Svetlana. »Zumindest nicht, solange ich den Verdacht habe, ich könnte dir damit das Leben leichter machen.« Sie rieb die Handschuhe aneinander, dann blickte sie ernst auf. »Sag mir noch einmal, worüber du eigentlich mit mir reden wolltest.«
»Ach, ich bin mir sicher, dass du Bescheid weißt. Trotz allem, was zwischen uns geschehen ist, möchte ich meine Bitte persönlich vorbringen. Ich weiß, dass du deine … Qualitäten hast, Svetlana. Das habe ich dir immer wieder gesagt. Ich kann es dir nicht einmal zum Vorwurf machen, dass du mich jetzt hasst. Wenn Parry mein Mann wäre, wäre ich wahrscheinlich genauso wenig wie du zur Vergebung bereit.«
»Worauf willst du hinaus, Bella?«
»Ich könnte immer noch vernünftig denken. Ich würde keine gefährlichen und unratsamen Entscheidungen treffen. Zweifellos hast du die Sendung aus dem Schiff der Moschushunde gesehen.«
»Sie war kaum zu übersehen.«
»Richtig. Und es klingt sehr verlockend, was sie sagen. Vor langer Zeit hat McKinley mich davor gewarnt, dass die Moschushunde alles in ihrer Macht Stehende tun würden, um unser Vertrauen zu den Perückenköpfen zu untergraben. Jetzt haben wir beide den Beweis gesehen. McKinley hatte Recht.«
»Vielleicht. Aber bedeutet das zwangsläufig, dass man den Moschushunden nicht vertrauen kann?«
»McKinley hat mir gesagt, wie katastrophal ein Kontakt mit den Moschushunden wäre.«
»Aber was ist, wenn die Moschushunde die Wahrheit sagen? Würde er sich dann nicht alle Mühe geben, sie zu diskreditieren?«
Bella schüttelte den Kopf. »Wir müssen hier irgendjemandem vertrauen, Svieta. Nach fünfunddreißig Jahren sehe ich keinen Grund, warum ich McKinley nicht uneingeschränktes Vertrauen entgegenbringen sollte.«
»Nicht den geringsten Grund, Bella?«
»Keinen, der für mich eine Rolle spielen würde.«
»Dann verrate mir, welche Funktion die Struktur hat. Wer uns hierher gebracht hat. Warum es hier auch andere Zivilisationen gibt. Wie sie hierher gelangt sind. Wie viel von ihrem Wissen enthalten die Perückenköpfe uns vor?«
»Auf alle diese Fragen gibt es Antworten«, sagte Bella, »und McKinley wird sie uns geben, wenn die Zeit gekommen ist, wenn er findet, dass wir bereit sind, sie zu hören.«
»Vielleicht haben die Moschushunde Recht, und die Perückenköpfe sind wirklich nur ein Haufen Parasiten, die unterlegene Zivilisationen ausbeuten. Kein Wunder, dass McKinley nicht bereit ist, uns die Augen zu öffnen.«
»Sie haben uns wunderbare Dinge geschenkt«, sagte Bella.
»In letzter Zeit ist dieser Strom ein wenig versiegt.«
»Selbst wenn du McKinley nicht über den Weg traust«, sagte Bella, »solltest du wenigstens Jim Chisholm vertrauen. Zu ihm hast du doch Vertrauen, nicht wahr?«
Durch das nächste Fenster war zu sehen, wie sich eine Wand aus Staub durch eine Schlucht schob und eine spindeldürre Hängebrücke verschluckte.
»Ich habe Jim einmal vertraut«, sagte Svetlana. »Aber jetzt bin ich mir nicht mehr sicher, ob wir alles von ihm zurückbekommen haben.«
Chromis fand Bella in tiefer Sorge vor, als sie wieder erschien. In letzter Zeit hatte Bella festgestellt, dass die tote Politikerin ihre einzige Vertraute war, bei der sie keinen zwingenden Grund empfand, ihr zu misstrauen.
Wochen waren vergangen. Die Moschushunde waren immer geschickter und einfallsreicher geworden. Sie speisten weiterhin ihre Botschaften ins Schiffsnetz ein, aber der Tonfall war auf heimtückische Weise überzeugender geworden, die Versprechen konkreter. Als Gegenleistung für den Zugang zu Janus sollten die Menschen von den Moschushunden den Schlüssel erhalten, der die Tore in der Struktur öffnete, den sie wiederum von den Flüsterern bekommen hatten. Sie würden den Menschen die Frameshift-Technologie zum Geschenk machen, auf die Chromis bereits angespielt hatte.
»Erst die Perückenköpfe und nun die Moschushunde«, sinnierte Chromis. »Und die Flüsterer und die Ungebändigten, wo wir schon dabei sind. Zweifellos gibt es noch viele andere.«
Bella hatte sich entschieden, Chromis alles darzulegen, was sie über andere Zivilisationen in der Struktur erfahren hatte. »Fünfunddreißig, hat McKinley gesagt, uns eingeschlossen.«
Sie befanden sich im öffentlichen Aquarium, das bereits für die Allgemeinheit geschlossen war, und folgten einem gewundenen, von Geländern gesäumten Pfad, der zwischen riesigen Becken hindurchführte. Als die größeren Fische – genrekonstruierte Rochen und Haie – zu groß für die Aquarien in Bellas Büro geworden waren, hatte sie sie gerne für eine öffentliche Einrichtung gespendet, zu der man die ehemalige Tokamak-Kammer im unteren Teil der Rockhopper ausgebaut hatte. Die Fische schwammen zwischen den nutzlosen Magneten und Spiegeln der Plasmaeindämmung herum, die nun wie ein altes Schiffswrack von Rost und Korallen überwuchert war.
»Ihr wurdet auf Janus durch Raum und Zeit gezerrt«, sagte Chromis. »Es ist nicht unvorstellbar, dass die anderen Zivilisationen auf ähnliche Weise hierher gelockt wurden.«
»Auf anderen Versionen von Janus?«, fragte Bella.
Chromis hielt inne, um die Leuchtschrift unter einem Becken zu lesen, während sich ein schillernder blauer Aal durch einen Riss in einem Magnetgehäuse zwängte. »Warum nicht? Ein eisbedeckter Mond, der sich plötzlich aus eigener Kraft in Bewegung setzt? Das dürfte genügen, um die Aufmerksamkeit fast aller Spezies zu erregen, meinst du nicht auch?«
»Aber wozu?«
Chromis ging weiter. »Ich kann mir mehrere Gründe denken, von denen keiner besonders beruhigend klingt. Nehmen wir den einfachsten, der demzufolge die höchste Wahrscheinlichkeit besitzt. Gehen wir davon aus, dass die Spicaner – wir wollen sie der Einfachheit halber weiter so nennen – eine sehr frühe galaktische Zivilisation waren, vielleicht eine der frühesten. Ich meine damit, sehr lange vor dem Auftreten der Menschheit, womit sie mehr als nur ein paar Millionen Jahre alt wäre.«
»Ich schätze, irgendjemand muss zuerst da gewesen sein«, sagte Bella.
»Sie dürften genau dasselbe getan haben wie wir – sie blickten zum Nachthimmel auf und fragten sich, wo die anderen waren. Der Kongress des Lindblad-Rings – und die anderen politischen Gemeinwesen, die uns umgeben – haben Sonden in die Milchstraße hinausgeschickt, aber sie hatten erst zehn- oder elftausend Lichtjahre zurückgelegt, als ich codiert wurde. Innerhalb dieser Sphäre hat unsere Suche bislang keine anderen Intelligenzen ausfindig gemacht. Als wir weiter hinausschauten, als wir unsere Instrumente auf Sterne außerhalb der Datengrenze richteten, fanden wir auch dort keine Spur von lebenden Intelligenzen. Für uns war es, als würden wir uns in eine leere und tote Galaxis ausbreiten.«
»Du meinst, dass es für die Spicaner genauso war.«
»Wenn es da draußen andere Zivilisationen gab, hatten sie nicht bis in ihre Epoche überlebt. Die Spicaner könnten geschlussfolgert haben, dass Intelligenz in kosmischen Maßstäben nur sehr selten und nur für kurze Zeit auftritt. Ein Kontakt zwischen intelligenten Spezies war demnach sehr unwahrscheinlich. Falls es doch einmal dazu kam, wenn durch Zufall zwei raumfahrende Zivilisationen gleichzeitig die Milchstraße bewohnten, war es wiederum unwahrscheinlich, dass sie sich auf gleicher Augenhöhe begegnen würden. Eine von beiden Zivilisationen musste schon etwas länger existieren als die andere. Das technologische und intellektuelle Ungleichgewicht muss so groß gewesen sein, dass ein Dialog – ganz zu schweigen von so etwas Banalem wie friedliche Handelsbeziehungen – undenkbar wären. Was könnte dir ein Affe bieten, das du nicht längst besitzt, Bella? Oder eine Spitzmaus? Hier geht es um Unterschiede von solchen Ausmaßen.«
Bella nickte. Sie waren diese Überlegungen schon so oft durchgegangen, dass sie bereits die Vertrautheit eines Mantras hatten. »Es konnte einfach nichts geben, das Ähnlichkeit mit einer sinnvollen Kommunikation gehabt hätte.«
»Das wäre völlig ausgeschlossen gewesen. Aber die Spicaner wollten mehr als das. Sie sehnten sich so sehr nach Kontakt, dass sie bereit waren, die Regeln zu manipulieren.«
»Deshalb haben sie die Struktur gebaut«, sagte Bella.
Chromis nickte zustimmend. »Am Ende ihrer Zeit – oder zumindest nach sehr langer Zeit, lange nach ihrer eigenen Epoche. Ein Sammelpunkt für Proben anderer intelligenter Zivilisationen der Zukunft. Die Spicaner legten überall in der Galaxis Köder aus, Konstruktionen vom Janus-Typ, und warteten. Abgesehen von den Gesandten, die sie in die ferne Zukunft schickten, um die Struktur zu bauen, traten die Spicaner selbst von der galaktischen Bühne ab. Vielleicht starben sie aus, oder zogen sich an einen anderen Ort zurück. Doch nach ihrem Verschwinden entwickelten sich unvermeidlich andere Zivilisationen. Die zeitlichen Abstände zwischen ihnen könnten viele Jahrmillionen betragen haben, Bella, aber im Vergleich zum Alter der Galaxis ist das gar nichts.«
»Mir wird schwindlig, wenn ich mir achtzehntausend Jahre vorzustellen versuche, Chromis. Mit größeren Zeiträumen kommt mein Gehirn gar nicht mehr zurecht.«
»Ich weiß, wie es dir geht. Aber wenn meine Vermutungen zutreffen, die allerdings reine Spekulation sind, liegt der Sinn der Struktur darin, diese Zeitintervalle auf ein Minimum zu reduzieren, um diese Zivilisationen zur gleichen Zeit zusammenzubringen. Ein Zoo komprimiert den Raum und lässt Geschöpfe koexistieren, die nie am gleichen Ort leben können. Die Struktur tut dasselbe mit Zivilisationen, indem sie die Zeit komprimiert.«
»Und die Köder sollen sie hierher locken«, sagte Bella.
»Sie waren der Schlüssel. Früher oder später mussten Vertreter dieser Zivilisationen auf die Janus-Versionen stoßen. Wir hatten die Erde kaum verlassen. Andere Zivilisationen haben vielleicht Tausende oder gar Hunderttausende von Jahren gebraucht, bevor sie die Köder gefunden haben.« Chromis sah Bella mit einem mitfühlenden Lächeln an. »Mit Frameshift-Technik reichen ein paar hunderttausend Jahre aus, um die gesamte Milchstraße zu durchqueren. Es ist genug Zeit, um ein Imperium aus hundert Milliarden Welten zu errichten, etwas so Großes, dass man sich nicht vorstellen kann, es sei nicht für die Ewigkeit geschaffen. Aber selbst hunderttausend Jahre sind nur ein Lidschlag im Vergleich zur galaktischen Zeit, von der wir hier reden. Bezogen auf den Kontakt zwischen zwei Zivilisationen ist dieser Zeitraum ohne Relevanz.«
»Die Perückenköpfe sind uns sehr weit voraus.«
»Sie haben offenbar schon seit langer Zeit Raumfahrt betrieben, bevor sie mit ihrem Köder zur Struktur geflogen sind, falls sie auf diese Weise hierher gelangt sind. Vielleicht liegt es schon Jahrmillionen zurück, seit sie von ihrer Heimatwelt aufgebrochen sind. Aber es war gar nicht so sehr die Zeit, durch die sie eine so unbegreifliche Entwicklungsstufe erreicht haben. Ihre Psychologie ist offensichtlich sehr fremdartig, aber sie haben immer noch materielle Bedürfnisse. Ihr habt immerhin etwas, das sie gebrauchen können. Das ist es, was zählt.«
»Und die Moschushunde?«
»Eine weitere galaktische Zivilisation, die zu einem ganz anderen Zeitpunkt aufgelesen wurde. Das Gleiche gilt für alle anderen. Jene, die sich später entwickelten, könnten ein wenig über ihre Vorgänger wissen, wie die Perückenköpfe offenbar aus unseren Hinterlassenschaften etwas über uns erfahren haben.« Düster fügte Chromis hinzu: »Es könnte Entitäten in der Struktur geben, die auf Ruinen der Perückenköpfe gestoßen sind.«
»Aber warum tun sie das?«, fragte Bella. »Wenn die Spicaner so sehr an Kontaktaufnahme interessiert waren … wo sind sie?«
»Vielleicht waren sie weniger am Kontakt, sondern eher am gründlichen Studium von Kontakten interessiert. Wenn die Tore am Ende der Röhren geöffnet werden, erhalten verschiedene Zivilisationen die Gelegenheit, miteinander zu interagieren. Das kann nicht in allen Fällen gut gehen. Aber wenn es bereits fünfunddreißig Spezies in diesem Ding gibt, ergeben sich eine Menge möglicher Kombinationen.«
»Ich dachte, sie wären Zoowärter«, sagte Bella, »aber nun stellst du sie eher wie Spieler dar.«
»Vielleicht sind sie das.«
»Was passiert, wenn wir aus dem Spiel aussteigen wollen?«
Chromis schürzte die Lippen. »Vielleicht gibt es diese Möglichkeit gar nicht. Wenn die Struktur in der Lage ist, die Perückenköpfe gefangen zu halten, ganz zu schweigen von den dreiunddreißig anderen Alien-Zivilisationen, von denen manche nicht einmal aus baryonischer Materie bestehen, dann dürfte es keine einfache Aufgabe sein, hier auszubrechen.«
»Das sollte uns nicht daran hindern, es trotzdem zu versuchen«, sagte Bella.
»Das mag sein. Aber eins solltest du nicht vergessen. Du weißt nicht, ob es nicht wesentlich besser wäre, innerhalb dieses Dings zu bleiben.«
»Ich habe meinen Leuten versprochen, sie wieder nach Hause zu bringen.«
»Manche Versprechen sollte man nicht um jeden Preis halten. Ich weiß, wovon ich spreche. Ich bin Politikerin.«
Bella schreckte zusammen, als sie Schritte hörte. Das Phantom, das die ganze Zeit in ihrer Nähe gewesen war, löste sich aus den Schatten und nahm dann wieder eine entspannte Haltung ein.
»Hallo, Liz«, sagte Bella.
»Ist Chromis noch bei dir?«
Bella schüttelte den Kopf. Sie war in dem Moment verschwunden, als Liz Shen eingetroffen war. »Ist etwas passiert?«
»Das kann man wohl sagen«, antwortete Shen. »Svetlana ist auf dem Weg zu den Moschushunden.«