Achtunddreißig


 

 

Der Zug wurde brutal vor der senkrechten Wand des Verteilerkastens gestoppt. Vor ihnen war die Schiene verbogen und gebrochen. Sie hatten kurz zuvor die Grenze passiert, wo sich die Perpetuum-Mühlen noch drehten. Aber sie rotierten schneller als sonst, als hätten die Bremsen versagt.

Bella dämpfte die Kabinenbeleuchtung und starrte durch die Fenster auf die Stelle, wo sich bis vor kurzem eine Gemeinschaft von mehr als hundert Menschen befunden hatte. Es wäre leichter gewesen, wenn gar keine Spuren mehr zu sehen gewesen wären. Dann hätte sie für sich zumindest die entfernte Möglichkeit von Überlebenden ausschließen können. Aber es war immer noch etwas von Neustadt vorhanden, das von der grellen Klarheit der Scheinwerfer des Zuges aus der Dunkelheit gerissen wurde. Es war ein Saum von Ruinen am Rand eines schüsselförmigen Nichts. Viele der Gebäude waren zerfetzt oder eingeebnet, als hätte jemand mit brutaler Gewalt auf sie eingedroschen. Nur sehr weit von der Senke entfernt gab es noch welche, die einigermaßen unbeschädigt wirkten, obwohl auch dort die Beleuchtung oder die Energieversorgung ausgefallen zu sein schien.

»Es tut mir leid«, sagte Bella. Ihr war bewusst, dass Svetlana ihr über die Schulter schaute und die gleichen Szenen des Grauens sah. »Das sieht schlimm aus. Die Senke muss die Stelle sein, wo der Unfall mit der Femtotechnik passierte …«

»Der Kessel stand genau in der Mitte«, sagte Svetlana matt.

Bella stellte sich die brodelnde schwarze Explosion vor, die Chromis beschrieben hatte, im Epizentrum die illegale Maschine, mit der Svetlana den Schlüssel herzustellen versucht hatte. Von der Maschinerie des Würfels war nichts zu sehen, nur ein feiner schwarzer Staub, der alles bedeckte. Bella versuchte einen schwachen Trost aus der Tatsache zu ziehen, dass Chromis erfolgreich gewesen war.

Aber Janus würde trotzdem sterben.

Bevor sie den Zug verließen, rief Bella Wang an. Er meldete sich sofort und strich sich das schweißnasse weiße Haar aus der Stirn. »Ja, Bella?«

»Irgendwelche Fortschritte?«

»Wir sind immer noch hier. Irgendetwas bildet sich im Kessel, aber frag mich nicht, wie es funktioniert oder welche Voraussetzungen es benötigt. Es wird nutzlos sein, wenn wir nicht herauskriegen, wie man es einschaltet.«

»Ich hoffe, dass Jim in der Lage sein wird, uns in diesem Punkt zu helfen«, sagte Bella. »Er sagte, er würde nach Janus zurückkehren, sobald es aussieht, als würden die Dinge auf ihrer Seite nach Plan verlaufen.«

»Er will nach Janus zurückkehren?«

»Nur so lange, um sich mit uns zu treffen und dann so weit wie möglich von hier zu verschwinden. Wenn wir den Schlüssel in einem Beiboot installieren können, das ihn durch das Loch im Himmel bringt, haben wir zumindest die Chance, das Tor zu schließen.«

»Nachdem wir alle sicher auf der anderen Seite sind, hoffe ich.«

»Diesen Luxus können wir uns möglicherweise nicht erlauben. Das Tor braucht recht lange, bis es sich geschlossen hat. Wenn wir warten, bis wir die nächste Kammer erreicht haben, sind wir vielleicht gar nicht geschützt, wenn Janus explodiert.«

»Also müssen wir den Schließvorgang schon vor unserer Ankunft starten. Aus irgendeinem Grund erfüllt mich das nicht gerade mit überwältigender Begeisterung.« Er lächelte gepresst.

»Wenn wir die Aktion zeitlich abstimmen, können wir durch das Tor schlüpfen, bevor es sich vollständig geschlossen hat.«

»Und wenn Janus vorher hochgeht?«

»Niemand wird uns vorwerfen können, wir hätten es nicht versucht.«

»Ich schätze, das wird ein gewisser Trost sein.« Wang blickte geistesabwesend zur Seite. »Ich sollte mich wieder um den Kessel kümmern. Er rüttelt wie eine alte Waschmaschine.«

»Sei bereit für uns«, sagte Bella.

Sie überließ Wang seiner Arbeit und rief Nick Thale an, während Svetlana und die anderen durch die Einpersonenschleuse der Magnetbahn ausstiegen. Es dauerte einen Moment, bis der Anruf den Weg zu ihm gefunden hatte. Dann erkannte sie den Bahnhof von Underhole, wo mindestens einhundert Menschen in einen Aufzug geführt wurden, der sie zum Himmel bringen sollte.

»Lass mich ein paar gute Neuigkeiten hören, Nick.«

»Die gute Neuigkeit ist, dass wir uns wegen der Moschushunde keine Sorgen mehr machen müssen. Ihr Schiff ist vor eine Stunde gestartet – und auf dem Weg zum Schachttor.«

»Oh.«

»Wie es aussieht, haben sie es recht eilig, auf die andere Seite zu gelangen.«

Bella fiel ein gewaltiger Stein vom Herzen. »Also wissen sie, dass ihnen nicht mehr viel Zeit bleibt. Sie haben die Zündschnur angesteckt. Sie werden ihren eigenen Schlüssel benutzen, um das Tor zu schließen, und in der benachbarten Kammer warten, bis Janus ein Loch in die Wand gesprengt hat. Dann machen sie das Tor wieder auf und kehren zurück, zusammen mit ihren Freunden, den Ungebändigten.«

»Damit könntest du Recht haben.«

Bella blickte zur Schleuse. Bald wäre sie an der Reihe, nach draußen zu gehen, auf die spicanischen Maschinen zu treten. »Ich hatte gehofft, dass du etwas anderes sagen würdest. Ich hatte gehofft, dass du meine Theorie in der Luft zerreißt.«

»Es kommt noch schlimmer, Bella. Die Anzeigen, auf die ich dich vor kurzem hingewiesen habe … jetzt schießen sie durch die Decke. Janus wird auseinanderfliegen, und ich glaube nicht, dass der Zwischenfall in Neustadt hilfreich für uns war. Dadurch könnte ein ohnehin überlastetes System noch mehr unter Druck geraten sein.«

»Irgendeine Idee, wie viel Zeit wir noch haben?«

»Wenn ich die Daten an die Perückenköpfe schicken könnte, wären sie vielleicht in der Lage, uns einen Hinweis zu geben, aber wie es scheint, sind sie im Moment anderweitig beschäftigt.«

»Die Schlacht ist immer noch im Gange?«

»In der letzten halben Stunde ist es eher heftiger geworden. Wenigstens ist das Tor noch offen. Wir hätten noch mehr Schwierigkeiten, wenn es geschlossen wäre.«

»Wang macht Fortschritte mit dem Kessel«, sagte Bella. »Ich habe ihm gesagt, dass wir den Schlüssel in den Weltraum bringen müssen, sobald er fertig gestellt ist.«

»Wollen wir hoffen, dass er mit einer Gebrauchsanleitung ausgeliefert wird«, sagte Thale.

Bella meldete sich ab und ging durch die Luftschleuse. Die anderen waren ein Stück weitergegangen und warteten neben der Schiene, etwa dort, wo sie auf den Rand der Senke traf. Normalerweise wäre die Szene in das pastellfarbene Licht der spicanischen Symbole an den Maschinen getaucht gewesen, ergänzt durch die Beleuchtung von Neustadt. Nun waren viele spicanische Bauten völlig schwarz, und nur gelegentlich flackerte irgendwo ein Symbol. Der harte Boden, der die Wand des Verteilerkastens war, zitterte unter Bellas Füßen wie Metallplatten über einem Maschinenraum. Die Lavastraßen blitzten vor hektischer Aktivität, während Material mit hoher Geschwindigkeit von einem Teil des Mondes zum anderen transportiert wurde. Janus versuchte sich mit Notreparaturen zu retten.

Aber es konnte nicht funktionieren.

Um das zu erkennen, waren Nick Thaies Werte gar nicht mehr nötig. Die Tatsache, dass der Mond im Todeskampf lag, wurde mit jedem Schritt, mit jedem Blick offensichtlicher.

Bella holte die anderen ein. Das Gehen fiel ihr schwerer, als sie erwartet hatte. »Das fühlt sich wie mehr als ein G an«, sagte sie und musste nach Luft schnappen.

Svetlana wandte Bella die schlanke Gestalt ihres Chakri-5 zu. Ihre Stimme kam krächzend über den gemeinsamen Kanal. »Die Schwerkraft ist höher als vorher. Mein Helmdisplay zeigt eins Komma fünf an, und der Wert steigt weiter. Mit dem Neigungseffekt stimmt etwas nicht – deswegen drehen sich die Mühlen so verdammt schnell.«

Neustadt war genau hier errichtet worden, weil man die Wirkung des Schwerkraftgefälles ausnutzen wollte, aber nun verstärkte sich der Effekt und zog Materie zur Wand des Verteilerkastens. Bella vermutete, dass das nicht die letzte gute Idee war, die sie vor Ablauf dieses Tages noch bereuen würden.

»Ich habe gerade mit Nick gesprochen. Überall auf Janus wird es schlimmer. Ich glaube nicht, dass uns noch viel Zeit bleibt, Svieta.« Bella blickte auf die zerstörten und deformierten Bauten am Rand des Kraters. Ihre Umrisse waren von der schwarzen Asche der toten Femtomaschinen überzogen. Die erhöhte Gravitation hatte sie fest abgelagert. »Wir erkunden die nächsten Gebäude«, sagte sie und versuchte, optimistischer zu klingen, als sie sich fühlte. »Das dürfte uns einen Eindruck vermitteln, ob es Überlebende gibt. Nachdem wir wissen, womit wir rechnen müssen …«

»Du glaubst nicht, dass wir noch welche finden werden«, sagte Svetlana geradeheraus.

»Wenn es Überlebende gibt, finden wir sie. Einschließlich Emily.«

»Sie könnte sich im Epizentrum aufgehalten haben.«

»Oder sie könnte entkommen sein. Wir wissen, dass es nicht schlagartig passiert ist, Svieta. Chromis hat es eine Weile in Schach gehalten, bevor es die ganze Stadt vernichten konnte. Es gibt immer noch Hoffnung.«

Doch eine leise Stimme in ihr sagte: Es gibt Hoffnung – und es gibt Verzweiflung.

Sie liefen zum Rand der Senke und blickten hinunter. Es war eine völlig glatte schwarze Fläche ohne Spuren menschlicher Besiedlung. Selbst die Magnetbahnstrecke endete wie abgehackt unmittelbar am Kraterrand.

Bella ging in die Knie und wischte mit dem Handschuh etwas vom schwarzen Staub auf. Er rann wie Wasser durch ihre Finger. Sie hatte soeben einen Teil von dem auf der Hand gehabt, der einst Chromis gewesen war. Sie fragte sich mit einem unguten Gefühl, ob immer noch ein geisterhaftes Echo von Chromis in der Asche von Neustadt existierte.

»Hier ist die Schwerkraft noch höher«, sagte Svetlana. »Eins Komma sechs, fast sieben. Unsere Anzüge haben Servomechanismen, also werden wir zurechtkommen. Für dich wird es immer schwieriger, Bella.«

Bella spürte das zusätzliche Gewicht in ihren Hüftgelenken. Das lästige Gefühl würde sich bald in Schmerz verwandeln. Vorläufig konnte sie es noch ausblenden. »Also war es gut, dass ich mit Axfords Trainingsprogramm weitergemacht habe.«

»Auf dieser Seite der Senke gibt es nichts mehr«, sagte Parry, als sie an ein paar Ruinen vorbeikamen. Es war noch zu erkennen, dass es einmal Kuppeln mit Verbindungsröhren gewesen waren. »Wir gehen um den Krater herum und sehen uns im Verwaltungszentrum und den öffentlichen Nebengebäuden um. Der Komplex sieht verhältnismäßig unversehrt aus.«

Aber gleichzeitig ziemlich tot, dachte Bella. Tot, kalt und luftleer, als wäre er schon vor hundert Jahren aufgegeben worden.

Unter ihnen erzitterte wieder der Boden. Hektische Muster aus spicanischen Symbolen blitzten über ferne Bereiche der Maschinerie, wechselten so schnell Farbe und Form, dass sie wie Neonreklame in einem Zeitrafferfilm von einer längst vergangenen Stadt wirkten.

Sie folgten dem Rand der Senke, bis sie in der Nähe der Gebäude waren, die Parry ausgemacht hatte. Das Gehen fiel Bella immer schwerer. Mit jedem Schritt hatte sie das Gefühl, dass ihre Knochen bald unter der Last brechen würden.

»Wo liegt die Schwerkraft jetzt?«, fragte sie.

»Eins Komma acht«, sagte Svetlana.

»Eins Komma neun«, sagte Takahashi, der trotz der Servounterstützung seines Anzugs vor Anstrengung keuchte. »Fast zwei.«

»Ich habe hier einen Wert von eins Komma sechs«, sagte Parry, der links neben seiner Frau ging. »Das Feld ist ein buntes Muster. Ich schlage vor, dass du mir folgst, Bella. Gemeinsam müssten wir in der Lage sein, den optimalen Weg zu finden.«

»Verstanden.«

»Es verändert sich ständig«, sagte Parry. »Könnte sein, dass der Durchschnittswert weiter steigt.« Er blickte auf die Perpetuum-Mühlen. »Sie scheinen sich noch schneller zu drehen, seit wir eingetroffen sind.«

»Dann haben wir noch weniger Zeit, als wir dachten«, sagte Bella zwischen zwei keuchenden Atemzügen, während sie sich bemühte, Parry zu folgen.

Sie näherten sich einer gepanzerten Luftschleuse in der Wand des nächsten kuppelförmigen Gebäudes. Der Türrahmen war mit Leuchtstreifen in Wespenfarben markiert und hatte sich zur Seite verzogen, als hätte hier ein schwerer Gravitationssturm getobt. Svetlana erreichte die Schleuse als Erste, unterstützt von den Servomechanismen ihres Anzugs.

»Sieht ziemlich schief aus«, warnte Parry.

Das Gebäude und die Luftschleuse stammten aus den frühesten Tagen der Besiedlung, als man sie aus Teilen aus der Rockhopper zusammenmontiert hatte. Svetlana wischte schwarzen Staub von einer Schalttafel und drückte auf die dicken, farbigen Knöpfe. Nach quälend langer Zeit kündigten gelbe Blinklichter die Öffnung der Tür an. Sie schob sich mühsam und ruckend in die verbogene Wand, die ihr anscheinend einigen Widerstand leistete.

Endlich war sie offen. Die Luftschleusenkammer war groß genug, um zwei Personen in klobigen Anzügen aufzunehmen. Bella ließ Parry und Svetlana zuerst gehen und wartete draußen mit Takahashi. Die Außentür schloss sich, damit Luft in die Kammer gepumpt werden konnte, ohne Rücksicht auf die Frage, ob die Kuppel unter Druck stand oder nicht. Es kam Bella wie eine Ewigkeit vor, bis die Außentür wieder aufging. Sie fragte sich, wie viele Durchgänge der uralte Mechanismus noch überstehen würde, bis irgendwann gar nichts mehr ging.

Als Bella und Takahashi ins Innere traten, war es so finster, wie sie befürchtet hatte, aber wenigstens sagte ihr Anzug, dass es hier Atemluft gab.

»Die Kuppel hat gehalten«, sagte Parry. »Das ist gut. Also könnte es doch Überlebende geben.«

Automatisch aktivierten sich die Helmscheinwerfer der Chakri-5-Anzüge. Bella musste sich mit einer grün schimmernden Einblendung auf der Helmscheibe begnügen. Ihr Notanzug, der keinen eigenen Scheinwerfer hatte, tastete die Umgebung mit Radar ab und verstärkte das vorhandene Licht. Parry hatte das Gebäude als Verwaltungszentrum bezeichnet, und als Bella sich nun umsah, erkannte sie Trennwände zwischen Büros und spartanische Möbel. Die Stühle lagen am Boden, Pflanzen und andere Gegenstände waren umgekippt, ausgelaufene Kaffeebecher über den dunklen Teppichbelag verstreut.

»Irgendwo in der Kuppel muss es ein Leck gegeben haben«, sagte Takahashi. »Mindestens so lange, um hier drinnen einen kleinen Sturm zu erzeugen, bevor sich der Druck wieder normalisierte. Die Menschen, die hier gearbeitet haben, scheinen genug Zeit gehabt zu haben, sich in Sicherheit zu bringen.«

»Nicht alle«, sagte Parry leise.

Sie folgten dem Strahl seines Helmscheinwerfers, in dem zwei Beine sichtbar wurden. Sie ragten durch eine offene Tür, die in den nächsten größeren Raum des Verwaltungszentrums führte. Vielleicht ein Überlebender, dachte Bella. Diese Person mochte durch umherfliegende Trümmer verletzt worden sein, worauf sie das Bewusstsein verloren hatte. Vielleicht hatte man sie hier zurückgelassen, nachdem sich alle anderen in Sicherheit gebracht hatten. Doch als Bella um die Ecke kam und den Rest des Körpers sah, musste sie die Möglichkeit ausschließen, dass der Betreffende überlebt hatte.

»Das ist Malcolm Fox«, sagte Parry und ging in die Hocke, soweit sein Anzug es ihm erlaubte.

Etwas Unsichtbares hatte Fox’ Oberkörper zerquetscht. Er sah aus, als wäre er von einem Wolkenkratzer auf Beton gestürzt. Beide Arme waren gebrochen und klebten in unnatürlich verdrehter Haltung auf dem Teppichboden. Sein Kopf lag auf der Seite, und sein Gesicht war noch erkennbar. Trotzdem war die Seite auf dem Teppich mit brutaler Gewalt flachgedrückt worden. Blut war aus dem zertrümmerten Schädel geflossen und zu einer Masse erstarrt, die dick und schwarz wie Teer war.

»Armer Malcolm«, sagte Takahashi. »Vielleicht könnten wir …«

»Wir können nichts mehr für ihn tun«, schnitt Bella ihm traurig das Wort ab. »In diesem Zustand könnten ihn selbst die Perückenköpfe nicht mehr zurückholen.«

»Bella hat Recht«, sagte Parry. »Wir müssen Malcolm vorläufig hier liegen lassen.«

Erst jetzt richtete sich ihre Aufmerksamkeit auf den Rest des Raumes, in dem Fox gestorben war. Es handelte sich um eine andere Abteilung des Verwaltungszentrums, ein Großraumbüro mit Stühlen, Schreibtischen und Bildschirmen. Die Strahlen ihrer Lampen sondierten die Dunkelheit und fielen auf chaotische Details. Auch hier hatte ein Sturm gewütet, aber das war gar nicht das Schlimmste gewesen, das sich hier zugetragen hatte. Gegenüber der Leiche von Malcolm Fox saß ein Mitarbeiter auf einem Stuhl. Das stabile Material des Sitzmöbels hatte sich kaum verformt, doch der Mitarbeiter war von einer großen Kraft gegen die Sitzflächen gedrückt worden. Sein Kopf lag im Nacken und hatte den Hals um unnatürliche neunzig Grad durchgebogen. Bella starrte mit betroffenem Entsetzen auf die Leiche, dankbar, dass sie den Toten nicht wiedererkannte. Ein weiteres Opfer, eine Frau, hing über einer Trennwand zwischen zwei Büros. Sie hatte ihren Körper fast in zwei Hälften zerschnitten.

»Der Sturm muss mit voller Kraft durch diesen Raum gerast sein«, sagte Parry. »Und zwar ziemlich heftig … mit ein paar Dutzend Ge … vielleicht sogar ein paar Hundert. Es scheint schnell gegangen zu sein.«

»Aber nicht schnell genug«, sagte Svetlana und zeigte auf zwei weitere Leichen, die wie kaputte Spielzeugpuppen auf dem Teppich lagen. »Sie haben noch versucht, hier rauszukommen.«

»Hat Emily irgendwo in der Nähe dieser Abteilung gearbeitet?«, fragte Bella.

»Normalerweise nicht, aber bei einem Notfall …«

»Wir wollen nicht vom schlimmsten Fall ausgehen. Stellenweise gibt es noch Atemluft, und wir wissen, dass die Stürme durch Druckabfall örtlich sehr begrenzt sein können.«

Takahashi war bereits ein Stück vorausgegangen. Er trat vorsichtig auf, als würde er durch ein Minenfeld laufen. Bella begriff. In diesem Raum konnte es immer noch extreme Gravitationsgradienten geben. Wenn man in eine Zone mit hundert Ge geriet, war die Wirkung mindestens genauso verheerend wie eine Landmine. Ohne den Anzug hätte er die Luftströme spüren können, die durch die wechselnden Druckverhältnisse erzeugt wurden. Innerhalb des Anzugs konnte er sich nur darauf verlassen, dass von seinem Helmdisplay eine Warnung angezeigt wurde, doch dazu würde es erst kommen, wenn er bereits in ein verändertes Schwerkraftfeld hineingeraten war.

Er blickte sich um, nachdem er sich einen Kurs zum Ausgang zurechtgelegt hatte. »Es dürfte sicher für euch sein, wenn ihr mir folgt. Etwa einen Meter zurück liegt eine Spitze von ungefähr zwei Ge, aber wenn ihr schnell hindurchgeht …«

Sie folgten ihm in den nächsten Raum. Als Bella die Schwelle überschritt, fühlte sie sich, als hätte sie eine Bergbesteigung hinter sich. Ihre Muskeln protestierten gegen die Anstrengung, fast das Doppelte ihres gewohnten Körpergewichts tragen zu müssen.

Takahashi lief einmal im Kreis durch den Raum. »Fühlt sich gut an«, sagte er. »Im Schnitt eins Komma sechs.«

Bella erkannte den großen Tisch und die Bilderfenster des Konferenzraums wieder, in dem sie an Svetlana appelliert hatte, nicht mit den Moschushunden zu reden. An den Wänden fehlte ein Teil der Einrichtung. Hier musste der Druckverlust besonders schlimm gewütet haben, dachte sich Bella. Eine Person lag auf der anderen Seite des Raumes am Boden, von einer sich schließenden Drucktür zerquetscht. Zwischen Tür und Rahmen klaffte wegen des Hindernisses ein etwa fünfzehn Zentimeter breiter Spalt.

»Richard Fleig«, sagte Parry. »Carstens Sohn. Mann, das hätte nicht sein müssen, nachdem er Chieko verloren hat.«

Es war schwer zu sagen, ob er gestürzt und von der Tür erwischt worden war oder ob der Schwerkraftsturm ihn vorher an den Boden gefesselt hatte. Er hatte verhindert, dass sich die Tür ganz geschlossen hatte, aber es gab eine zweite redundante Tür, die ein Stück hinter seinen Schuhen fest in den Rahmen gefallen war.

»Schauen wir mal, ob wir sie aufkriegen«, sagte Parry.

Der Boden zitterte unter Bellas Füßen, als sie zur verklemmten Drucktür ging. Die Erschütterungen waren inzwischen so stark, dass sie das Dämpfungsfeld der Kuppel durchdrangen. Sie hörte, wie irgendwo im Raum, den sie soeben verlassen hatten, etwas krachend zusammenbrach.

»Die Zeit wird knapp«, drängte sie die anderen.

»Ich habe Kontakt mit Nick«, sagte Takahashi. »Wir können die Star Crusader in etwa zehn Minuten erwarten. Mit der Avenger werden die anderen abgelegenen Siedlungen evakuiert.«

Wieder bebte der Boden. Plötzlich klangen zehn Minuten wie eine Ewigkeit. Bella bediente den Öffnungsmechanismus, aber die Tür rührte sich nicht. »Festgeklemmt«, sagte sie und hoffte, den richtigen Tonfall bedauernder Endgültigkeit getroffen zu haben.

Parry drängte sie behutsam zur Seite und griff mit einer Hand nach der Tür, während er sich mit der anderen am Rahmen abstützte. Dann setzte er die maximale Servokraft des Chakri-5 ein.

»Nichts«, sagte er vor Anstrengung keuchend.

»Sie hat sich ein kleines Stück bewegt«, sagte Svetlana. »Lass es uns zusammen versuchen. Vielleicht können wir gemeinsam …«

Bella trat zur Seite, damit sich die beiden um die Tür kümmern konnten. Ihre Bemühungen schienen sinnlos zu sein, doch als sie gerade aufgeben wollten, sprang die Tür plötzlich auf. Nun war der Spalt doppelt so weit wie zuvor. Svetlana versuchte sofort, sich hindurchzuzwängen, doch selbst ihr schlanker Anzug war zu klobig.

»Fast. Wenn wir es noch einmal probieren … das Mistding noch ein paar Zentimeter weiter bewegen können …«

Sie strengten sich an, doch jetzt tat sich nichts mehr. Die Tür war unverrückbar festgeklemmt. Vermutlich hatte sie sich an einem kaputten oder ausgebrannten Mechanismus verhakt.

»Es geht nicht.« Parry atmete schwer. »Weiter kriegen wir sie nicht auf.«

»Dann müssen wir umkehren«, sagte Svetlana. »Wieder raus durch die Schleuse, durch die wir hereingekommen sind, dann zur Rückseite des öffentlichen Anbaus, wo wir die Frachtschleuse nehmen können.«

»Das sind zweihundertfünfzig bis dreihundert Meter, Baby, aber nur, wenn wir keine Probleme mit der Schwerkraft kriegen. Bis wir durch die Schleuse sind, dürften zehn oder fünfzehn Minuten vergangen sein. Danach bekommen wir es wahrscheinlich auch noch mit der internen Schleuse zur Kuppel zwei zu tun …«

»Wir machen es trotzdem.«

Wieder zitterte der Boden. Parry hielt sich am Türrahmen fest. »Wir schaffen es nicht, Baby. Wir sind gekommen, um nach Überlebenden zu suchen, aber uns war die ganze Zeit bewusst, dass es vielleicht gar keine gibt.«

»Rede nicht, als wäre sie bereits tot.«

»Das will ich gar nicht sagen …« Parry stockte. Man konnte ihm anhören, wie sehr es ihn anstrengte, sich zusammenzureißen. »Ich meine nur, dass … es hier schlimmer aussieht, als wir erwartet haben.«

»Ich empfange etwas«, sagte Takahashi. Er hielt sich eine Hand an den Helm, eine sinnlose, aber eingefleischte Geste der Konzentration. »Jemand sendet. Ein verdammt schwaches Signal …«

»Das ist nur das Hintergrundrauschen von Crabtree«, sagte Bella resigniert.

»Warum höre ich es dann erst, seit wir hier drinnen sind?«

»Jemand hat überlebt. Ich wusste es!«, rief Svetlana.

»Weiter kriegen wir die Tür nicht auf«, sagte Parry. »Wir können uns nicht hindurchzwängen, auch wenn wir uns noch so sehr bemühen.«

»Dann nehmen wir den Umweg. Jetzt wissen wir zumindest, dass es einen triftigen Grund gibt, es zu tun.«

Takahashis Hand lag immer noch an seinem Helm. »Sie können mich nicht hören«, sagte er, »aber ich glaube, jemand hat den Namen Batista erwähnt. Wie es klingt, sind es mehrere Überlebende.«

»Batista hat sich hier aufgehalten«, sagte Svetlana. Sie klang viel zu erschöpft zum Jubeln, aber Bella konnte sich vorstellen, wie sie hoffte und betete, dass Emily unter den Überlebenden war.

Bella sah Takahashi an. »Wie hören sie sich an, Mike?«

»Nicht gerade bestens gelaunt. Eher ängstlich, wenn man nach den Stimmen geht. Aber sie leben. Tote haben keine Angst mehr.«

»Die Wahrscheinlichkeit ist hoch, dass sie sich im Lagerraum an der Frachtschleuse befinden«, sagte Svetlana. »Von den anderen Kuppeln kommt man sehr gut zum Lagerraum. Offenbar konnten sie sich schnell dorthin retten.«

»Das heißt, zwischen ihnen und uns liegt nur noch ein Raum, wenn sie auf der anderen Seite des Verwaltungszentrums sind«, sagte Parry.

»Dann sollten wir uns anstrengen, einen Weg durch diese Schleuse zu finden«, sagte Svetlana. »Vielleicht können wir etwas aus dem Büro als Hebel benutzen, ein Möbelstück oder …«

»Dazu besteht kein Grund«, sagte Bella. »Mit einem Chakri-fünf kommt man nicht hindurch, aber ich trage einen anderen Anzug. Ich müsste mich jetzt ohne allzu große Schwierigkeiten durch den Spalt quetschen können.«

Parry legte ihr eine Hand auf die Schulter. »Der Vorschlag ehrt dich, Bella, aber dein Anzug ist nur für den Notfall gedacht und kaum stabiler als eine Seifenblase. Sobald du etwas Scharfes streifst, schnappst du im Vakuum nach Luft, wenn sich die zweite Tür zur Frachtschleuse öffnet.«

»Dann muss ich eben aufpassen, dass es nicht passiert.«

Der Boden ruckte heftig. Bella spürte, wie sich die Schwerkraft weiter erhöhte und dann auf dem neuen Niveau konstant blieb.

»Selbst wenn du Überlebende findest, haben wir ein Problem«, sagte Parry. »Wenn sie Anzüge hätten, wären sie längst rausgekommen.«

»Dann sollten wir dafür sorgen, dass sie Anzüge bekommen.« Bella sah ihn eindringlich an. »Was soll das, Parry? Glaubst du wirklich, ich hätte ein solches Detail übersehen?«

»Wie sieht also dein Plan aus?«, fragte Svetlana.

»Ich habe mir gedacht, dass ihr eine Versorgungskette bildet. Einer von euch – zum Beispiel Mike – kehrt zum Zug zurück und holt die Notanzüge aus den Fächern unter den Sitzen. Es muss dort mindestens dreißig geben. Sie sind klein, sodass ihr problemlos mehrere auf einmal tragen könnt. Hauptsache, ihr passt auf, dass ihr nicht auf die Aktivierungsknöpfe drückt.«

»Wir müssten sie durch die andere Luftschleuse bringen, und das würde eine Menge Zeit kosten, wenn wir mehr als einmal hindurchgehen müssen«, sagte Mike.

»Wir wissen, dass in diesem Raum niemand mehr am Leben ist, und im nächsten Raum herrscht ohnehin Vakuum«, sagte Bella. »Das bedeutet, dass hier niemand ohne Schutzanzug rauskommt. Ich werde diese Tür sowieso öffnen, also verlieren wir nichts, wenn wir auch die andere Schleuse öffnen.«

»Klingt sinnvoll«, sagte Takahashi. Wie alle Leute, die zum Außeneinsatzteam gehörten, hatte er eine tief verwurzelte Abneigung gegen das Ablassen von Luft. Er betrachtete das Vakuum als notwendiges Übel, das man nach Möglichkeit nicht auch noch künstlich herbeiführen sollte.

»Sucht euch lieber etwas, woran ihr euch festhalten könnt«, sagte Bella. »Es dürfte gleich etwas zugig werden.«

Bella zwängte sich vorsichtig durch den Spalt und suchte für sich selbst eine Stelle, an der sie sich festhalten konnte. In der Enge des Innenraums musste sie sich nach ihrer Einschätzung gut gegen die ausströmende Luft behaupten können, bis sie den angrenzenden Verwaltungsbereich ausgefüllt hatte oder völlig in den Weltraum entwichen war. Alles hing davon ab, wie der Druckabfall verlief, was wiederum vom Alter und der Konstruktion der Kuppel abhängig war.

»Ich werde auf dieser Seite der Tür warten«, sagte Svetlana. »Parry kann die Anzüge von der Schleuse hierher bringen, wenn Mike sie aus dem Zug geholt hat.«

»Verstanden. Aber passt auf die Gradienten auf, Leute! Mike, du wirst ein paarmal zwischen dem Anbau und dem Zug hin und her laufen. Also behalte deinen Sheng-Würfel im Auge.«

»Oh Mann! Glaubst du ernsthaft, ich müsste mir auch deswegen graue Haare wachsen lassen?«

»Ich bezweifle es, aber wir sollten keine unnötigen Risiken eingehen.«

»Also gut, dann werde ich noch einmal den Sheng-Tanz aufführen.«

Bella ließ den anderen eine Minute Zeit, um sich einen sicheren Standort zu suchen, dann aktivierte sie den Öffnungsmechanismus. Die Prozedur war so angelegt, dass sie im Notfall schnell genug ablief, aber gleichzeitig war sie nicht so einfach, dass sie versehentlich ausgelöst oder nicht mehr rechtzeitig abgebrochen werden konnte. Vier schwere Hebel mit Kindersicherung mussten nacheinander heruntergezogen werden, mit einer fünfsekündigen Pause, bis sich der nächste bewegen ließ. Alarmsirenen ertönten, und Warnlampen blinkten. Eine künstliche Stimme kündigte an, dass es durch die Öffnung der Tür zu einem abrupten Druckabfall kommen würde.

»Haltet euch fest!«, rief Bella.

Die Tür ging auf, diesmal ohne Schwierigkeiten, und der Sturm der entweichenden Luft packte Bella mit schockierender Gewalt. In der Anfangszeit ihrer Berufslaufbahn hatte sie das Verhalten in solchen Situationen trainiert, aber irgendwann musste sie vergessen haben, wie brutal Luft sein konnte, wenn sie sich wie ein wütendes Tier aus einem zu engen Gefängnis befreite.

Der Druck fiel bis auf null ab, und ihr papierdünner Anzug blies sich auf, als es keinen Gegendruck mehr gab. Draußen herrschte entweder Vakuum oder ein so geringer Druck, dass er praktisch keine Rolle spielte.

»Bist du noch bei uns, Bella?«, fragte Parry.

»Ich lebe und friere noch. Die Schwerkraft scheint hier nicht höher als im übrigen Verwaltungszentrum zu sein. Aber ich gehe die Sache langsam an.«

»Hier ist Mike«, meldete sich Takahashi. »Parry und ich sind an der Luftschleuse. Wir öffnen sie jetzt.«

»Gut. Haltet nach dem Beiboot Ausschau – es müsste jeden Moment eintreffen. Sorgt dafür, dass es sich von den Gradienten fernhält. Das Beste wäre, wenn es nicht näher als bis zum Zug herankommt.«

»Verstanden«, sagte Takahashi.

»Hörst du immer noch Stimmen, Mike?«

»Sie sind schwächer geworden, aber ich bin auch schon fast draußen.«

»Jetzt empfange ich auch etwas«, sagte Svetlana. »Aber auch nur schwach.«

»Wenn sie die Reservebatterien benutzen, können sie froh sein, dass sie überhaupt ein Signal senden«, sagte Parry.

Bella empfing nichts, aber dadurch ließ sie sich nicht irritierten. Der Notfallanzug war nur auf ein schmales Spektrum von Kommunikationsfrequenzen eingerichtet.

Sie blickte durch die Helmscheibe und versuchte die Ausmaße des düsteren Raumes im grünen Licht ihres Displays zu erkennen. Wenigstens keine Leichen. Falls hier drinnen jemand gefangen gewesen war, wäre er mit dem Luftstrom herausgeschleudert worden. Sie suchte nach Überlebenden und wollte nicht über Tote stolpern.

Auf der anderen Seite der Frachtschleuse zeigte sich in ihrem Helmdisplay eine weitere Schleusentür. Sie war fest verschlossen. Bella sah sich um. Es gab ein paar Türen, die in dunkle Räume führten, aber dies war die einzige sichtbare Schleuse. Dahinter musste sich der Lagerraum befinden, von dem Parry und Svetlana gesprochen hatten. Bella wünschte sich, sie hätte sich den Grundriss von Neustadt besser eingeprägt, aber jetzt war es zu spät, sich deswegen Vorwürfe zu machen.

Sie bewegte sich, als hätte sie Glasknochen, und erreichte schließlich die zweite Luftschleuse. Sie klappte die Abdeckung der Statusanzeige auf und versuchte dann, die blassen Zeichen zu lesen. Ohne zusätzliches Licht von den anderen Anzügen konnte sie kaum etwas erkennen. Außerdem überlagerte ihr Helmdisplay alles. Sie wusste nicht, ob sich hinter der Tür Luft oder Vakuum befand.

»Hier ist Bella«, sagte sie und nahm einen tiefen Atemzug, als wäre es ihr letzter. »Bin an der Tür. Sie ist luftdicht verschlossen, aber ich werde versuchen, sie von außen zu öffnen.«

»Dann wollen wir hoffen, dass die innere Tür geschlossen ist«, sagte Parry.

»Wenn sie es nicht ist, können wir nicht viel für die Überlebenden tun.« Bella bediente die Schaltungen und blendete mental alle Möglichkeiten bis auf die eine aus, die diesen Menschen erlaubte, am Leben zu bleiben. Sie legte die vier schweren Hebel um. Jeder schien sie mehr Kraft als der vorherige zu kosten, und die fünfsekündige Wartezeit schien sich bis zu einer halben Ewigkeit auszudehnen. Diesmal geschah alles in Totenstille – keine Alarmsirene, keine Ansage.

Dann öffnete sich die Tür.

Im letzten Moment fiel Bella wieder ein, dass sie sich gegen die ausströmende Luft sichern musste … doch es kam keine. Die innere Tür war verschlossen, und innerhalb der Schleuse hatte Vakuum geherrscht.

»Ich bin jetzt halb durch«, sagte sie. »Wie kommst du mit den Notanzügen voran, Mike?«

Seine Stimme klang dünn. »Ich bin am Zug und schleuse mich gerade ein. Die Crusader ist noch nicht da, aber Nick hat mir mitgeteilt, dass sie sich im Landeanflug befinden. Die größeren Schwerkraftschwankungen rund um den Verteilerkasten sind in den letzten Minuten gefährlicher geworden …«

»Wie sieht es bei den Ungebändigten aus?«

»Wir sehen immer noch ein nettes Feuerwerk am Schachttor. Ich vermute, das bedeutet, dass die Guten noch nicht ganz mit den Aufräumarbeiten fertig sind.«

Oder dass die Guten eine gehörige Tracht Prügel bezogen, dachte Bella. »Und Wang?«

»Nichts Neues, fürchte ich. Ich wollte Nick nicht zu sehr auf die Nerven gehen. Sie haben im Moment alle Hände voll zu tun, wie es klingt.«

»Gut.« Sie erkannte verdrossen, dass sie nicht daran gedacht hatte, wie schwierig es sein mochte, mit dem Beiboot zu landen. Es war Jahre her, seit irgendjemand mit einem so großen Schiff zum Verteilerkasten geflogen war. Der Anflug wäre auch dann nicht einfach gewesen, wenn sich die Schwerkraftfelder nicht wie ein Nest wütender Vipern winden würden. »Hörst du immer noch die Stimmen?« Sie wagte es kaum, diese Frage nachzuschieben.

»Ab und zu. In den letzten paar Minuten scheinen sie etwas leiser geworden zu sein.«

»Horch mal, ob sich gleich etwas ändert.« Dann schlug sie gegen die Tür.

»Nichts«, sagte Takahashi.

Bella versuchte es erneut. Sie hämmerte so kräftig und regelmäßig, wie es ging. Im Vakuum hörte sie nichts davon. Es war, als würde sie auf eine Matratze einschlagen. »Und jetzt?«

»Mach es noch einmal.«

Bella schlug weiter, bis sie befürchtete, dass sie sich den Handschuh aufriss. »Rede mit mir, Mike.«

»Jemand hat dich gehört, Bella. Die Stimmen sind wieder lauter geworden!«

Sie hämmerte, bis sie das Gefühl hatte, blutige Fäuste zu haben. »Und jetzt?«

»Sie haben dich gehört. Kein Zweifel. Das kann nur bedeuten, dass sie auf der anderen Seite sind!«

»Ich werde durch die Schleuse gehen. Der Empfang könnte schlechter werden, wenn sich die Tür hinter mir schließt.«

»Wir warten auf dich.«

»Gut, aber nicht zu lange. Diese Leute könnten sich vielleicht ganz woanders in Neustadt befinden, wo wir nicht an sie rankommen. Oder es ist doch nur Hintergrundrauschen von Crabtree.«

»Sie haben dich gehört, Bella.«

»Sie haben etwas gehört. Auf jeden Fall soll das Beiboot keine Minute länger als unbedingt nötig da draußen warten.«

Bella aktivierte den Einschleusungsvorgang. Als sich die Außentür geschlossen hatte, strömte Luft durch die Ventile im Boden herein. Sie hatte versucht, mit Takahashi zu reden, aber jetzt empfing sie nur noch Rauschen. Vielleicht hatte er sie gehört, aber sie konnte seine Antwort nicht empfangen. Sie beruhigte sich damit, dass es im Moment ohnehin keine Rolle spielte. Bella lehnte sich gegen die Wand der Luftschleuse, bis der Druck auf den Normalwert angestiegen war. Normalerweise hätte sich die Innentür automatisch geöffnet, wenn der Druckausgleich hergestellt war, aber die Schleuse arbeitete im Energiesparmodus. Das Licht war nicht angegangen, und sie musste die innere Versiegelung manuell öffnen. Sie bediente die Hebel und spürte, wie ihre Armmuskeln unter dem zusätzlichen Gewicht schmerzten.

Die Tür ging auf, dann klemmte sie auf halbem Wege.

Licht stach ihr in die Augen. Menschen drängten sich in einem düsteren Raum. Einige hielten Lampen auf sie gerichtet. Bella hob die Hand und hoffte, dass sie sie durch den Helm hören konnten, wenn sie sprach. »Wer ist da?«

»Wer, zum Teufel, bist du?«, fragte jemand in mattem Tonfall.

»Jemand, der gekommen ist, um euch zu retten. Ihr könntet wenigstens versuchen, erleichtert zu klingen.«

Ein Gesicht schälte sich aus der Dunkelheit, als jemand seine Lampe sinken ließ. Bella erkannte etwas in den Zügen, auch wenn sie das Gesicht selbst nicht wiedererkannte.

»Verdammt. Tut mir leid. Ich bin Andrew Dussen.«

»Der Sohn von Hank Dussen«, sagte Bella.

»Wir sind völlig am Ende. Als wir das Klopfen hörten … Scheiße, du bist es, nicht wahr?« Dussen drehte sich zu den anderen um, die sich im Raum drängten. »Es ist Bella! Bella Lind!«

»Was, zum Teufel, macht Bella hier?«, fragte jemand anderer. »Nicht dass wir undankbar für die Rettung wären …«

»Aber ihr hattet eine etwas größere Person erwartet.« Bella sah sich alle Gesichter an. Einige der Männer und Frauen erkannte sie, andere nicht. Keiner von ihnen trug einen Anzug, und die meisten schienen vor Angst und Kälte zu zitterten. »Wir wissen, dass hier etwas Schlimmes passiert ist. Wahrscheinlich sind wir besser darüber informiert als ihr. Ich muss euch etwas fragen. Hat Emily Barseghian es geschafft?«

»Ich bin Emily«, sagte eine Stimme im Hintergrund.

»Deine Eltern sind hier. Sie werden sehr erfreut sein, wenn sie hören, dass du überlebt hast.«

»Sie sind hier?«

»Draußen«, sagte Bella. »Und wir werden euch alle nach draußen bringen, sobald es geht. Es gibt allerdings eine kleine Komplikation. Ihr habt keine Schutzanzüge, und wir kommen mit dem Beiboot nicht nahe genug heran, um einen provisorischen Andockschlauch zu installieren.«

»Wir werden alle sterben«, sagte jemand mit panischem Unterton in der Stimme.

»Nein, das werdet ihr nicht«, erwiderte Bella eilig. »Ihr bekommt Anzüge von uns – solche wie den, den ich trage. Sie genügen, um euch zum Beiboot zu bringen. Ich muss in die Schleuse zurückgehen, um sie zu holen.«

»Wie viele Anzüge?«, fragte Emily.

Bella blickte ins Gesicht von Svetlanas Tochter und erkannte darin sehr viele Ähnlichkeiten und genauso viele Unterschiede. Svetlanas rotes Haar, aber Parrys Augen und Nase, und etwas um die Mundpartie, das allein Emily gehörte.

»Wie viele seid ihr?«

»Siebenundzwanzig«, sagte Emily. Sie hatten zweifellos die Köpfe gezählt, um sich auszurechnen, wie viel Luft und Energie sie rationieren mussten.

»Gibt es anderswo noch welche?«

»Nein. Wir alle sind aus unterschiedlichen Teilen von Neustadt hierher gekommen. Keiner von uns hat unterwegs andere Überlebende gesehen.«

Bella nickte traurig. »Dann wird es kein Problem mit den Anzügen geben.«

Sie verschloss wieder die Innentür, wartete den Ausschleusungsvorgang ab und ging dann schnell zur zweiten Schleuse, wo Svetlana auf der anderen Seite der verklemmten Tür wartete. Sie reichte Bella den ersten Stapel aus orangefarbenen Rechtecken. Es waren acht Stück, die sie wie Bücher trug, die sie sich aus der Bibliothek ausgeliehen hatte. »Parry ist mit den nächsten acht unterwegs«, sagte sie und reichte sie vorsichtig durch den Spalt.

Bella konnte nur vier Anzüge auf einmal bewältigen. Sie waren mit Nanotechnik vollgestopft und in der herrschenden Gravitation schwer wie Pflastersteine. Sie legte die anderen auf den Boden, um sie später zu holen.

»Sag Parry, dass wir schon fast die Hälfte geschafft haben. Es gibt nur siebenundzwanzig Überlebende.«

»Du hast sie gefunden?«

»Alle, einschließlich Emily. Sie wird rauskommen, Svieta.«

Svetlana sah Bella einen Moment lang an und stieß dann ein freudiges und erleichtertes Keuchen aus, als die Last dieser Sorge von ihren Schultern genommen wurde. Bella erinnerte sich, wie sie sich gefühlt hatte, als sie von der Haarlocke in Garrisons Hand erfahren hatte. Zum ersten Mal seit vielen Jahren verspürte sie wieder Mitgefühl für Svetlana.

»Danke«, sagte Svetlana schließlich.

»Ich bin froh, dass sie es geschafft hat. Ich freue mich über jeden Überlebenden, aber ganz besonders über Emily. Sie ist ein gutes Kind.«

»Sie ist älter als ich zu Rockhopper-Zeiten, Bella.«

»Damals waren wir alle noch Kinder. Auch ich.«

Der Boden schüttelte sich mit einer Heftigkeit, die sie beinahe umgeworfen hätte. »Mike sagt, dass das Beiboot da ist«, erklärte Svetlana. »Ich denke, wir sollten uns lieber beeilen.«

»Lass Nick wissen, dass wir Überlebende gefunden haben und sie in den Anzügen rausholen.«

»Mach ich.«

»Dann sag ihm, er soll Wang benachrichtigen, dass wir demnächst nach Crabtree zurückkehren. Wenn er den Schlüssel bis dahin nicht fertig hat, werden wir ihn trotzdem evakuieren, zusammen mit den letzten Nachzüglern.«

»Und wenn er ihn hat?«

»Dann hoffe ich, dass Jim uns zeigen kann, wie er funktioniert.«

Bella wandte sich zum Gehen. Svetlana griff durch den Spalt und berührte den Ärmel ihres Anzugs. »Bella …«

»Ich sollte mich auf den Weg machen.«

»Alles, was zwischen uns geschehen ist …«

»Dafür ist jetzt nicht der günstigste Zeitpunkt, Svieta.«

»Ich muss es dir sagen. Ich will dir nur sagen, dass … ich nicht glaube, die Dinge hätten sich anders entwickeln können.«

Bella dachte darüber nach, dann nickte sie ernst. »Wenn ich bedenke, was ich über dich und über mich weiß … hast du vermutlich Recht.«

»Aber das bedeutet nicht, dass ich gut finden muss, was geschehen ist. Es hat mir viel besser gefallen, dich zur Freundin als zur Feindin zu haben.«

Bella trat von der Schleusentür zurück. »Ich weiß, wie es dir geht.«

Svetlana hatte offenbar noch etwas auf dem Herzen. »Glaubst du …?«

»Hol die anderen Anzüge, Svieta. Wir müssen Leben retten.«

Svetlana nickte und ging Parry entgegen, der mit dem nächsten Stapel Anzüge eingetroffen war. Bella stellte sich auf die schwere Last in ihren Armen ein und lief mit vorsichtigen Schritten zu den Überlebenden zurück.

Als sie die Schleuse erreicht hatte, brachte sie die Anzüge hinein und wartete, bis der Druckausgleich hergestellt war. Emily Barseghian nahm ihr die ersten vier Anzüge ab, sobald sich die Tür geöffnet hatte.

»Hört mir bitte genau zu«, sagte Bella. »Weitere dreiundzwanzig Anzüge sind zu euch unterwegs. Sie sind alle gleich konstruiert und reichen aus, um euch am Leben zu erhalten, bis ihr das Beiboot erreicht habt. Und so werden sie aktiviert.« Sie zog den Knopf an einem Anzug, worauf die Nanotechnik das komprimierte orangefarbene Rechteck zu einem Schutzanzug entfaltete, der genauso wie der war, den sie selbst trug. Sie zeigte ihnen, wie man ihn anlegte und die primitiven Systeme bediente. »Diese Dinger verfügen über ausreichend Luft und Energie, also braucht ihr euch deswegen keine Sorgen machen. Achtet nur auf Hindernisse, wenn ihr hinausgeht. Es gibt dort überall scharfe Gravitationsgefälle, also passt auf, wohin ihr tretet.«

»Dann sollten wir jetzt entscheiden, wer zuerst geht«, sagte Emily.

»Nein«, widersprach Bella mit Entschiedenheit. »Das wäre zu umständlich. Macht für alle Fälle schon mal vier Leute bereit, aber wenn wir euch einzeln oder zu zweit durch die Schleuse bringen, würde es viel zu lange dauern. Wir warten, bis ich alle siebenundzwanzig Anzüge geholt habe, und wenn jeder von euch einen trägt, werden wir die Luft aus dieser Sektion ablassen. Dann geht ihr alle auf einmal.«

»Was ist mit den anderen Schleusen?«, fragte Emily.

»Es gibt keine mehr. Von hier bis zum Schiff herrscht nur Vakuum.« Sie hielt kurz inne. »An einer Stelle wird es allerdings etwas eng, aber ihr müsstet alle hindurchpassen.«

»Danke, Bella«, sagte Emily. Sie klang nicht begeistert, aber sie schien verstanden zu haben, warum sie noch einen Moment warten sollten.

»Legt die Anzüge an«, sagte Bella. »Ich werde so schnell wie möglich mit der nächsten Lieferung kommen. Ich werde zurückgehen, wenn ich die letzten in der Schleuse deponiert habe. Also werden wir uns wahrscheinlich erst wiedersehen, wenn ihr das Beiboot bestiegen habt.«

»Wohin bringt ihr uns?«, fragte Emily.

»Nach Crabtree«, sagte Bella. »Aber rechnet nicht damit, dass ihr dort die Beine ausstrecken könnt.«