Sechsundzwanzig


 

 

Bella und Shen liefen die steile Rampe zur wartenden Aufzugskabine hinauf, wo eine kleine Sicherheitseskorte wartete. Obwohl Bellas Muskeln und Kniegelenke gealtert waren, kam sie recht gut voran. Noch herrschte hier Janus-Schwerkraft, doch wenn der Bau fertiggestellt war, würde man die darunter liegenden Maschinen dazu bringen, an dieser Stelle die Hälfte der Erdgravitation zu erzeugen. Die Perückenköpfe hatten den Menschen diesen einfachen Trick beigebracht. Es war eins der wenigen Geschenke gewesen, der nicht mit dem Transfer bereits vorhandenen menschlichen Wissens verbunden war.

In Crabtree hatten sie die Schwerkraft bereits erhöht. Die letzte Zentrifuge war vor drei Jahren außer Betrieb genommen und demontiert worden. Die Leute hatten gestöhnt und gemurrt, aber die medizinischen Vorteile einer permanent höheren Schwerkraft waren zu offensichtlich, um sie ignorieren zu können, und nachdem die Geburtenrate in die Höhe schoss, hätten die Zentrifugen ohnehin bald nicht mehr ausgereicht.

Bella und Shen betraten die Aufzugskabine zusammen mit einem Wachmann und setzten sich. Bald stiegen sie nach oben, begleitet von den klimpernden Tönen einer Aufnahme von »The Girl von Ipanema«. Die Kabine gelangte durch eine Luftschleuse in den Weltraum, und Bella blickte auf die weit verstreuten Gebäude von Underhole hinab. Sie stellte sich die Fundamente vor, die kilometertief durchs Eis bis zum Urgestein aus spicanischer Maschinerie führten. Wenn es nach den Befürwortern von Ebene Zwei ging, würde sich Underhole in einen pulsierenden Verbindungsknoten zwischen dem Innenraum und den neuen Territorien verwandeln, die sich auf der anderen Seite des Himmels ausbreiten sollten.

Die vorhandenen äußeren Gebäude waren längst nicht so beeindruckend. Ein Kran hatte die Kabine über die restlichen zwanzig Kilometer emporgezogen, und nun schwenkte er zur Seite, um die kleine Passagierzelle neben einer Ansammlung von Kuppeln abzusetzen. Insgesamt waren es kaum mehr als in der Anfangsphase von Underhole. Bella und Shen gelangten durch eine Luftschleuse in einen Empfangsbereich. Möbel wölbten sich auf, als sie ihre Ankunft registrierten. Ein Stuhl tippte mit hündischer Diensteifrigkeit gegen Bellas Kniekehlen. Sie stieß ihn mit einem verärgerten Fußtritt weg.

Nick Thale erwartete sie bereits. Mit seinen weißen Haaren sah er wie ein alter Patriarch oder ein mächtiger Zauberer aus. Er war inzwischen Mitte fünfzig und hatte jedes Angebot abgelehnt, sich verjüngen zu lassen. Er wollte damit noch zwanzig Jahre warten, falls es zu überraschenden Komplikationen kam.

»Wir haben uns lange nicht gesehen, Bella«, sagte er. »Du hättest uns viel häufiger besuchen müssen.«

»Du ahnst nicht, wie schwierig es ist, sie auch nur aus ihrem Büro zu zerren – geschweige denn, sie zu bewegen, Crabtree zu verlassen«, sagte Shen.

Bella warf der Frau einen strengen Seitenblick zu. Sollte das der Versuch eines Scherzes sein oder eine nüchterne Tatsachenfeststellung? Vielleicht sollte sie ihre Ansichten über Shen einer gründlichen Revision unterziehen.

»Ich habe auch so genug zu tun, Nick. Ich vermute, du hast auf dieser Seite des Himmels alles gut im Griff.«

»Wir tun unser Bestes. Wie läuft es denn so in Crabtree?«

»Du solltest bei Gelegenheit mal vorbeischauen und durch die Biokuppeln spazieren. Wir haben dort jetzt richtige Bäume – echte Bäume! Wacholder … Eichen. Ich hätte nicht gedacht, dass ich in meinem Leben noch einmal einen Baum sehen würde.«

»Durch Genveränderung aus dem aeroponischen Pflanzenmaterial gewonnen?«

»Nein«, sagte Bella. »Das hat nie funktioniert. Wie sich herausstellte, waren die Pflanzen, die wir dabei haben, von DeepShaft manipuliert, um die Firmenpatente zu sichern. Ganze Chromosomenabschnitte sind gelöscht und genetische Schwächen eingebaut worden. Das war kein geeignetes Material, um etwas daraus zu machen.«

»Und woher stammen die Bäume nun?«

»Wir haben sie direkt aus den Daten der Perückenköpfe kultiviert. Sie waren in der letzten Lieferung versteckt, die sie uns geschickt haben. Als hätten sie es beiläufig dazugepackt, obwohl sie sich dachten, dass wir es wohl nicht besonders interessant finden würden.«

»Ich würde gerne wieder einen Baum sehen«, sagte Thale wehmütig.

»Dann komm nach Crabtree. Ich werde dir alles zeigen. Dort pulsiert das Leben. Es fühlt sich jetzt wie eine richtige Stadt an.«

Thale verzog das Gesicht. »Vielleicht wie eine Stadt an einem Sonntag, wenn alle ausgeflogen sind – selbst die Eisverkäufer.«

»Jedes Jahr kommt mehr dazu. Die Kinder machen sich bemerkbar. Und die Enkelkinder. Irgendwann drehen wir uns um und sehen unsere Urenkel. Kinder, für die selbst das Jahr des Eisernen Himmels graue Vorgeschichte ist. Die Erde wird für sie sein wie … ich weiß nicht, Sparta oder Mesopotamien, etwas, das sie sich lächelnd in einem Bilderbuch ansehen, bevor sie zur nächsten Seite weiterblättern, wo es aufregendere Dinge zu bewundern gibt.«

»Manchmal machst du mir Angst, Bella.«

»Ich habe es genauso empfunden, als ich erstmals die Rockhopper bestiegen habe. Es war, als würde mir die Welt entgleiten. Jetzt ist es nur extremer geworden, das ist alles.«

Thale führte sie durch den gläsernen Verbindungsgang zur Botschaft der Perückenköpfe, während Liz Shen in der Empfangskuppel zurückblieb. Bella hoffte, dass ihre Nervosität nicht zu offensichtlich war, aber mit jedem Schritt, den sie den Aliens näher kam, spürte sie, wie ihre Entschlossenheit schwand. Sie hatte diesen Besuch lange genug hinausgezögert und hätte es auch weiterhin getan, wenn Jim Chisholm nicht darauf gepocht hätte, dass ihr sofortiges Erscheinen unabdingbar war. Chisholm war zwar faktisch immer noch ihr Untergebener, aber sie hatte schon vor langer Zeit erkannt, dass es sich manchmal lohnte, ihm zu gehorchen.

Die Botschaft nahm den Landeplatz des ursprünglichen Schiffs der Perückenköpfe ein. In mancher Hinsicht handelte es sich immer noch um das ursprüngliche Schiff, aber durch die irreale Verwandlungsfähigkeit der Alien-Technik war es schwierig (und vermutlich auch sinnlos), ein definitives Urteil zu fällen. Auf jeden Fall war die Botschaft wesentlich größer. Sie hatte sich bis zur Hälfte der Strecke zum Loch ausgedehnt und war zusätzlich in die Höhe gewachsen. Aber sie hatte immer noch den Architekturstil mit gläsernen Schichten und vielen kerzenleuchterartigen Armen, die sich zu Spitzen emporreckten, sodass sich ein Dickicht aus lichtbrechenden Strukturen rund um einen gurkenförmigen Zentralturm ergab. Gelegentlich trafen Untereinheiten ein und flogen wieder ab, manche davon so groß wie das ursprüngliche Schiff. Ihre Antriebsmethode deutete genauso wie alles andere, das mit den Perückenköpfen zu tun, auf Techniken hin, die den wissenschaftlichen Stand der Menschheit zum Zeitpunkt der Zäsur weit überstiegen.

Die gläserne Röhre führte in eine Kuppel am Fuß der Botschaft. Sie war von mehreren transparenten Schichten umgeben, die sanft in einem beruhigenden Violett schimmerten. Während sie über den Boden schritten, wuchsen zwei Zylinder aus der glatten Oberfläche. Thale und Bella traten durch türähnliche Öffnungen an den Seiten. Bella blieb stehen und wartete, dass sich ihr Zylinder um sie schloss. Kurz darauf zog sich das Gebilde zusammen, bis die Innenwände nur noch wenige Zentimeter von ihrem Körper entfernt waren. Durch das optisch perfekte Glas sah sie, wie Thaies Zylinder ebenfalls auf etwas zusammengeschrumpft war, das an eine dicke Flasche erinnerte.

Sie setzten sich in Bewegung, und Bellas Umhüllung passte sich an. Sie beulte sich aus, indem sie den Bewegungen ihrer Arme und Beine folgte. Es geschah so schnell, dass Bella es niemals schaffte, das Glas zu berühren. Thale ging voraus und verließ die Kuppel, worauf er eine sanft ansteigende helixförmige Rampe hinaufschritt, die in ein höheres Stockwerk der Botschaft führte. Bella wusste, dass unterwegs die Atmosphäre wechselte und gegen das dichte und giftige chemische Gebräu ausgetauscht wurde, das die Perückenköpfe zum Überleben benötigten. Die Schwerkraft erhöhte sich ebenfalls, aber davon spürte sie innerhalb der schützenden Hülle nichts.

Über die Helix gelangten sie in das, was Bella für sich immer als diplomatischen Empfangsbereich bezeichnet hatte. Es war ein riesiger Raum, der bestimmt ein Drittel des Zentralturms der Botschaft einnahm und wie ein ausgeschlachteter Wolkenkratzer wirkte. Leuchtende Pastellmotive umgaben den Raum und wirkten – zumindest für Bella – wie große Buntglasfenster von kunstvoller abstrakter Gestaltung. Kantige, stachelige Strukturen stürzten sich von der fernen Decke herab und waren von illuminierten Fäden durchsetzt. Es hatte keinen Sinn, sich über die Gravitationskräfte Gedanken zu machen, die sich bemühten, sie niederzureißen. Noch war hier kein Perückenkopf eingetroffen, aber – wie sie erwartet hatte – wurden sie von Jim Chisholm begrüßt.

Er sah immer noch menschlich aus, doch sie fragte sich, wie weit diese Ähnlichkeit tatsächlich ging. In der Umwelt der Perückenköpfe benötigte Chisholm keinen sichtbaren Schutz. Wenn er, was immer seltener geschah, nach Crabtree zurückkehrte, gelang es Axford manchmal, ihn medizinisch zu untersuchen. Doch der Arzt fand nie etwas Ungewöhnliches, das darauf hingedeutet hätte, dass der Mann bis hinunter zur Biochemie seiner Körperzellen nicht menschlich war (und Axfords Instrumente waren inzwischen wesentlich leistungsfähiger geworden). Doch das war Chisholm in Crabtree, und nun hatten sie es mit Chisholm in der Botschaft der Perückenköpfe zu tun, und diese zwei Erscheinungen mussten nicht notwendigerweise identisch sein.

Er lächelte, breitete zum Gruß die Hände aus und forderte sie auf, weiter in den Raum zu treten. »Es freut mich, dass wir dich endlich dazu überreden konnten, Bella«, sagte er. Seine Stimme klang so klar und normal, als würden sie zusammen an einem Tisch sitzen, als wären sie nicht durch mehrere Meter toxischer Atmosphäre voneinander getrennt.

»Du hast schon immer über große Überzeugungskraft verfügt«, sagte Bella.

»Du hast nichts zu befürchten«, erwiderte er. »Nicht das Geringste. Seit damals haben sie große Fortschritte gemacht. Damals haben sie drei Tage gebraucht – kannst du dir so etwas vorstellen?«

»Ich kann mir vorstellen, dass man durch Übung viel erreicht.«

»Wahrscheinlich hast du recht.« Er trug ein weites Gewand in Beigetönen, das – zumindest auf Bella – den Eindruck eines untergeordneten Würdenträgers einer Theokratie machte. Sein Haar war länger als je zuvor und in Wellen nach hinten gekämmt. Nach zwanzig Jahren wies er kaum sichtbare Alterungsspuren auf, nur ein paar Fältchen am Mund und auf der Stirn, aber das war auch schon alles. Das war typisch für alle, die sich einer Verjüngung unterzogen. Die wenigen Anzeichen des Alterns traten viel langsamer als zuvor auf. Die Lesebrille mit den halben Linsen, die er weiterhin trug, konnte nur eine Marotte sein. »Bella«, sagte er, »wenn wir es hinter uns haben … wenn sie dich wieder jung gemacht haben …«

Sie erkannte an seinem Tonfall, worauf er hinauswollte. »Jim …«

»Du weißt, dass es nicht verboten ist, weiterzumachen.«

»Ich weiß, dass du es nur gut meinst.«

Er sprach zu ihr, als wäre Nick Thale gar nicht anwesend. »Niemand hat erwartet, dass du dich nach dreizehn Jahren im Exil über Nacht änderst, aber wie lange liegt meine Rückkehr schon zurück?« Er hob die Hände und lächelte. »Das ist natürlich nur eine rhetorische Frage.«

»Natürlich.«

»Es gibt kein Gesetz, das dir vorschreibt, den Rest deines Lebens allein zu verbringen.«

»Das hat auch niemand behauptet.«

»Aber manchmal tust du so.«

Da sie schon häufiger über dieses Thema gesprochen hatten, wusste Bella genau, dass Jim Chisholm nicht von einer Beziehung zwischen ihnen beiden sprach. Er meinte, dass sie sich einen anderen Mann unter all denen suchen sollte, die verfügbar waren. Als wäre das so einfach! Als wäre es ein Kinderspiel, das Messer herauszuziehen, das man ihr in den Bauch gestoßen hatte. Ein Messer, das so tief in ihr steckte, dass es sich sehr vertraut und gelegentlich sogar tröstlich anfühlte.

Seit seiner Rückkehr von den Aliens zeichnete er sich durch eine außergewöhnliche Weisheit aus, durch Wissen über Dinge, die er kaum anzusprechen wagte. Andererseits gab es Zeiten, in denen er viel weniger als vor seinem Tod über menschliche Beziehungen zu wissen schien.

Offenbar hatte er etwas in ihrem Mienenspiel gesehen. »Verzeih mir. Ich wollte dir nicht zu nahe treten.«

»Ich bin, wie ich bin, Jim. Ich war schon lange vor unserer Reise nach Janus so. Was hier geschehen ist, hat daran nichts geändert.«

»Das tut mir leid.«

»Dazu besteht kein Anlass. Vielleicht zu einer anderen Zeit … die noch in ferner Zukunft liegt.«

»Niemand von uns weiß, wie viel Zukunft noch vor uns liegt«, sagte er. »Dinge verändern sich. Dinge, von denen wir dachten, sie wären ewig, sind plötzlich doch dem Lauf der Zeit unterworfen. Aber es gibt Zeiten – wie diese –, in denen wir die Gelegenheit des Augenblicks ergreifen sollten. Es war unverzeihlich von mir, dass ich dir Ratschläge zu deinem Privatleben erteilen wollte, Bella. Aber ich hoffe, du verstehst, warum ich so sehr um dich besorgt bin.«

»Also ist etwas geschehen? Etwas, das in dir den Wunsch erweckt, dass ich meine Fähigkeiten so gut wie möglich nutze?«

»Etwas ist am Horizont aufgetaucht.«

»Ist es gut oder schlecht?«, wollte Nick Thale wissen.

»Jedenfalls nicht gut«, antwortete Chisholm und warf Thale einen kurzen Blick zu, bevor er sich wieder Bella zuwandte. »Aber es ist nichts, was uns schon jetzt übermäßig beunruhigen sollte.«

Bella hätte sich bessere Neuigkeiten gewünscht, aber sie war zumindest froh, dass sie nicht mehr über ihr verkümmertes Liebesleben reden musste. Im Vergleich zu diesem Gesprächsthema war alles eine Verbesserung. »Irgendwie klingt das nicht so angenehm beruhigend, wie du es wahrscheinlich gemeint hast«, sagte sie.

»Was ist es?«, fragte Thale.

»Etwas hat ihnen einen Schock versetzt. Ich weiß selber nicht, was genau es ist. Ich konnte nur so viel in Erfahrung bringen, dass es etwas ist, das sie tief in der Röhre entdeckt haben. Etwas, das noch nicht da war, als sie das letzte Mal nachgesehen haben.«

»Was für ein Etwas?«, fragte Thale.

»Es ist besser, wenn sie es euch persönlich sagen«, erwiderte Chisholm. »Sie sind bereits auf dem Weg hierher.«

Eine Deckenstruktur schob sich dem Boden entgegen. Drei Perückenköpfe traten aus einer birnenförmigen Öffnung in der Spitze. Als sie sich näherten und wie Gespenster dahinglitten, gaben ihre zahllosen Fäden flüsternde Geräusche von sich.

Sie waren drei Meter hoch und verjüngten sich nach oben. Unter normalen Umständen war von ihnen nur der äußere Vorhang aus blauen Strähnen sichtbar, die vom »Scheitel« ausgingen, sich nach unten krümmten und den Boden berührten. Diese Strähnen, die verhältnismäßig dick waren, trugen den größten Teil des Gewichts eines Perückenkopfes. Damit konnten sie sich fortbewegen und ihre Umgebung handhaben. Dass sie auch im Ruhezustand ständig in raschelnder Bewegung waren, hatte einer Theorie zufolge etwas mit Wärmeregulierung, Atmung und dem Abtransport mikroskopisch kleiner Abfallstoffe aus den inneren Schichten zu tun.

Die nächste Lage bestand aus feineren Fäden, die nur einen Millimeter dick waren. Sie waren durchsichtig wie Glasfasern und nur gelegentlich zu sehen. Die roten und grünen Blitze hingen angeblich mit emotionalen Zuständen zusammen. Außerdem fungierten diese dünneren Strähnen als feinere Greifwerkzeuge für Arbeiten, die ein höheres Maß an Präzision erforderten. Und sie wiesen einen höheren Grad der Spezialisierung auf. Manche waren mit feinen Härchen unterschiedlicher Länge besetzt, die es den Perückenköpfen vermutlich ermöglichten, zu hören und Frequenzen zu unterscheiden. Einige endeten in kleinen berührungsempfindlichen Knospen, die mutmaßlich ein weites Spektrum chemischer Geschmacksnoten wahrnehmen konnten. An anderen Strähnen führte eine dunkle Linie entlang, die möglicherweise das funktionale Äquivalent eines Auges darstellte. Obwohl eine einzige solche Linie nur einen eindimensionalen Schnitt der Umgebung erfassen konnte, wären die Perückenköpfe durch die ständige, sich überlappende Bewegung der zahlreichen Augensträhnen in der Lage, daraus eine komplexe visuelle Landschaft zu synthetisieren, ähnlich der Radarabtastung einer Oberfläche durch ein Raumfahrzeug im Orbit. Gelegentlich konzentrierten sie ihre Aufmerksamkeit auf ein bestimmtes Objekt, wobei sie mehrere Augensträhnen zu einem Gewebe verflochten, das etwa dreißig Zentimeter durchmaß. Dadurch schienen sie imstande zu sein, im »hochauflösenden Modus« zu sehen, wie Bellas Experten es ausgedrückt hatten.

Innerhalb des Vorhangs aus sensorischen Strähnen gab es weitere, die der Bewegung dienten, aber nur selten zu sehen waren und möglicherweise auch eine Rolle beim Austausch von genetischem Material spielten. Genau in der Mitte des Wesens schließlich befand sich ein rübenförmiger Zentralkörper, an dem sämtliche Strähnen befestigt waren und der von ihnen in zehn oder fünfzehn Zentimetern Höhe gehalten wurde. Man vermutete, dass dieser Rumpf das Zentralnervensystem der Aliens enthielt. Ein fransenbesetzter Mund am unteren Ende diente dazu, die Wesen auf den hügelförmigen Sitzgelegenheiten zu verankern, die die Perückenköpfe benutzten, um ihre Strähnen zu entspannen. Außerdem wurde spekuliert, dass der Mund zur Nahrungsaufnahme diente (vorausgesetzt, sie nahmen ihre Nährstoffe nicht direkt durch spezialisierte Strähnen auf), außerdem zur Abgabe von Exkrementen und möglicherweise, um Nachkommen zur Welt zu bringen oder Eier zu legen.

Das meiste davon waren jedoch nur Mutmaßungen. Bellas Experten kannten nicht einmal die genaue Zusammensetzung der Atmosphäre, in der die Perückenköpfe existierten, geschweige denn die biologischen Anpassungen, die es ihnen ermöglichten, darin zu existieren. Es gab keine Daten über die Position oder die physikalischen Bedingungen ihrer Heimatwelt. Genauso unbekannt war, wie viel Zeit vergangen war, seit sie sie verlassen hatten. Jeder Versuch, die Aliens zu diesen Themen zu befragen, wurde mit höflichem Schweigen oder kryptischen Aussagen beantwortet.

Vielleicht wussten es die Perückenköpfe selber nicht.

Einer von ihnen ging vor seinen zwei Artgenossen. Die entschiedene Art, mit der er auftrat, und der leicht erhöhte Rotanteil in der sensorischen Schicht ließ Bella vermuten, dass es sich um McKinley handelte. Diesen Namen hatte das Wesen selbst gewählt. Die anderen beiden waren mit hoher Wahrscheinlichkeit Kangchenjunga und Dhaulagiri, auch wenn Bella sie nicht unterscheiden konnte. Sie war sich nicht einmal sicher, was sie davon halten sollte, dass sich die Aliens irdische Berge als Namen ausgesucht hatten. War es eine ironische Anspielung auf Craig Schropes vermeintliche »Bergrücken«, oder hatte es einen völlig banalen Hintergrund? Niemand wusste es.

McKinleys Berührungssträhnen teilten sich wie ein Bühnenvorhang. Die innere Schicht strukturierte sich zu einer hochauflösenden Anordnung, die es kurz auf Bella und wenig später auf Thale richtete.

»Hallo, Bella«, sagte das Alien. »Es ist gut, dass du gekommen bist. Wir freuen uns jedes Mal über deinen Besuch. Auch über deinen, Nick.«

Die Perückenköpfe erzeugten menschliche Phoneme, indem sie Strähnen aneinander rieben und im Vorhang akustische Kammern öffneten und schlossen. Es war ein Unterfangen, das einen geisterhaften Eindruck vermittelte, wie Wind, der durch Bäume fuhr.

Bella konnte nie den Abgrund einer zutiefst fremdartigen Denkweise vergessen, die hinter der Bemühung um eine menschliche Maske lauerte.

»Vielen Dank, McKinley«, sagte sie. »Wenn Jim hier oben nicht in so guten Händen wäre, würde ich ständig hier vorbeischauen und mich nach seinem Wohlergehen erkundigen.«

McKinley löste das Geflecht auf und zog seine Sinnessträhnen hinter den äußeren Vorhang zurück. »Von uns wirst du keine Klagen hören. Wir sind sehr glücklich, Jim bei uns zu haben. Trotzdem wurde es höchste Zeit, dass du uns einen Besuch abstattest. Du möchtest doch nicht, dass du für uns zu einer zu großen Herausforderung wirst, nicht wahr?«

»Auf gar keinen Fall«, sagte Bella, »obwohl ich keinen Moment an euren Fähigkeiten zweifle.«

»Ich hoffe, ihr leistet gute Arbeit«, sagte Thale. »Ihre Freunde haben sehr lange gebraucht, sie zu diesem Schritt zu überreden, und die meisten von uns würden nicht mehr die Kraft für einen weiteren Versuch aufbringen.«

»Wir werden uns Mühe geben.« Das Alien vollführte eine seltsam vertraut wirkende Geste. Es streckte zwei Strähnen aus und legte sie zusammen wie ein Mensch, der sich die Hände rieb, bevor er zum Geschäftlichen kam. »Allerdings ist die Prozedur selbst nichts, weswegen ihr euch Sorgen machen müsstet.«

»Das erleichtert mich«, sagte sie, obwohl es nicht ganz die Wahrheit war.

»Doch es gibt noch etwas anderes, worüber wir diskutieren müssen. Ich glaube, Jim hat bereits angedeutet, worum es geht.« McKinley drehte den gesamten Körper und erweckte den Eindruck, als würde er sich Chisholm zuwenden. »Stimmt’s, Jim?«

»Ich habe Bella erzählt, was ihr mir erzählt habt. Ich möchte nicht respektlos erscheinen, aber es waren kaum harte Fakten dabei. Ich habe ihr gesagt, dass ihr etwas entdeckt habt …«

»So ist es. Es handelt sich sogar um mehrere Objekte.«

Thale warf Bella einen kurzen Blick zu und fragte: »Wo genau?«

»In einer benachbarten Röhre«, sagte McKinley. »Nicht mehr als vier Lichtminuten von hier entfernt.«

»Das ist doppelt so weit wie der Bereich, den wir bisher erkundet haben«, sagte Bella und fragte sich, ob der Perückenkopf die leichte Verärgerung in ihrem Tonfall bemerkte. Die Aliens hatten den Menschen nahegelegt, sich nicht zu weit in die spicanische Struktur hinauszuwagen, und unbestimmte Warnungen über die Gefahren ausgesprochen, die dort den Unachtsamen drohten.

»Es gibt gute Gründe für die Vorsicht, zu der wir anraten«, erwiderte McKinley mit einer Spur von Tadel. »In den vergangenen zwanzig Jahren seid ihr gut zurechtgekommen, doch eure Technik ist immer noch sehr eingeschränkt, verglichen mit den meisten Wesenheiten, denen ihr in den Tiefen der Struktur begegnen könntet. Tore öffnen und schließen sich ohne Vorwarnung. Wir bewohnen hier eine relativ stabile Region, aber in anderen Bereichen werden Konflikte ausgetragen, die gelegentlich in benachbarte Röhren übergreifen. Ihr solltet es tunlichst vermeiden, in so etwas hineingezogen zu werden.«

»Aber ihr habt damit kein Problem.«

»Selbst wir müssen Vorsicht walten lassen. Natürlich steht es euch frei, zu tun, was ihr wollt. Wir haben nie versucht, eure Erkundungen zu behindern.«

Bella musste sich gerechterweise eingestehen, dass das stimmte, obwohl die Aliens wahre Meister im Abraten waren und diese Kunst schon häufig erfolgreich angewendet hatten. Bis auf ein oder zwei isolierte Ereignisse, die von der Verwaltung schnell bestraft worden waren, hatte kein menschlicher Gesandter aus Crabtree jemals gegen die Richtlinien der Perückenköpfe verstoßen.

»Was habt ihr also gefunden?«, fragte sie.

»Technischen Abfall«, sagte McKinley, »Dinge, die wir mit einer anderen Zivilisation in Verbindung bringen können, die die Struktur bewohnt.« Er bewegte seine Strähnen, als wollte er eine Fliege verscheuchen. »Sie sind sehr unordentlich. Überall, wo sie sich aufhalten, hinterlassen sie eine Spur aus weggeworfenem Müll.«

»Wer sind sie?«

»Ihre Bezeichnung lässt sich in menschlichen Begriffen noch am besten mit ›Moschushunde‹ wiedergeben.«

»Sind sie gefährlich?«

»Die Moschushunde sind an und für sich gar nicht besonders aggressiv oder kampflustig. Und sie sind nach den Maßstäben innerhalb der Struktur auch nicht sehr weit fortgeschritten. Aber sie … machen Ärger. Wenn sie mit weniger fortgeschrittenen Zivilisationen zu tun haben, verhalten sie sich rücksichtslos und ungeschickt. Sie haben bereits schwere Schäden verursacht. Manche Zivilisationen erwiesen sich als widerstandsfähig genug, um den Kontakt mit den Moschushunden zu überleben, aber die meisten trugen schwere Verletzungen davon oder wurden gar ausgerottet.«

»Glaubt ihr, dass die Moschushunde auf dem Weg hierher sind?«

»Die Entdeckung ihrer Abfälle gibt auf jeden Fall Anlass zur Sorge. Es ist ein Zeichen, dass sie Erkundungsmissionen in diesen Teil der Struktur geschickt haben. Es könnte sein, dass sie in die Flucht geschlagen wurden … aus einer anderen Region verbannt wurden. Nachdem die Ungebändigten wieder frei sind, verschiebt sich das Kräfteverhältnis über große Bereiche der Struktur.«

Er hatte die Ungebändigten nie zuvor erwähnt. »Jetzt machst du mir wirklich Angst, McKinley.«

»Und mir«, sagte Thale. »Wann genau dürfen wir mit ihrem Erscheinen rechnen?«

Die Strähnen des Aliens bewegten sich träge. »Das ist leider unmöglich vorherzusagen. Die betreffenden Tore sind zur Zeit geschlossen, aber niemand weiß, wann sie sich wieder öffnen werden. Die Flüsterer – eine weitere Zivilisation – besitzt Schlüssel, die ihnen den Zugang zu bestimmten Toren ermöglichen. Wenn die Moschushunde mit den Flüsterern reden oder einfach nur lange genug warten, bis sich bestimmte Tore öffnen … Es könnte schon morgen geschehen. Oder in fünfzig Jahren. Aber wenn sich die Tore öffnen, werden die Moschushunde hier sein. Darauf müsst ihr vorbereitet sein.«

»Wie?«

»Ihr solltet eine gesellschaftliche Einstellung entwickeln, die eine Kontaktaufnahme ausschließt. Widersteht ihren Verlockungen. Die historischen Fakten legen nahe, dass es keine sichere Interaktion mit den Moschushunden gibt.«

Thale sah den Perückenkopf entgeistert an. »Was ist, wenn sie trotzdem kommen? Wenn sie sich uns aufdrängen?«

»Das werden sie nur dann tun, wenn ihr auf ihre Annäherungsversuche antwortet.«

»Was soll sie daran hindern?«, fragte Bella.

»Wir«, sagte McKinley. »Wir werden euch schützen, wenn die Moschushunde so dumm sind, euch einen Kontakt aufzwingen zu wollen. Aber dazu wird es nicht kommen. In diesem Fall würden sie schlauer vorgehen. Sie wissen um ihre beschränkten Möglichkeiten. Sie werden versuchen, sich euer Vertrauen zu erschleichen. Sie werden sich abfällig über uns äußern. Sie werden uns unlautere Motive unterstellen, damit ihr an uns zweifelt.«

»Ihr hasst sie«, sagte sie erstaunt.

»Wir verabscheuen, was sie getan haben. Das ist nicht dasselbe. Es sind einfach nur unkontrollierbare Geschöpfe, denen es irgendwie gelungen ist, interstellare Raumfahrttechnik zu entwickeln. Wenn sie sich auf ihre Nische beschränken würden, wären sie kein Problem.«

»Ich glaube, wir sollten McKinleys Sorgen ernst nehmen«, sagte Chisholm, der die Arme unter seinen weiten Ärmeln verschränkt hatte. »Wir hatten zwanzig Jahre, um uns an die Idee zu gewöhnen, dass die Perückenköpfe uns nicht fressen oder versklaven wollen. Am Tag, als ich aus ihrem Schiff getreten bin, habe ich gesagt, dass sie friedlich sind, und seitdem ist nichts geschehen, das uns daran hat zweifeln lassen.«

»Ich weiß«, sagte Bella und nickte allen drei Aliens zu. »Und ich sage es noch einmal: Wir alle sind euch außerordentlich dankbar. Mit hoher Wahrscheinlichkeit wären wir tot, wenn ihr nicht gekommen wärt. Ich danke euch, dass ihr uns vor den Moschushunden gewarnt habt. Aber ich möchte euch bitten, die Dinge auch einmal von unserer Seite zu betrachten.«

»Ich gebe mir stets große Mühe, genau das zu tun«, sagte McKinley und bewegte seine Strähnen auf eine Weise, die beinahe eingeschnappt wirkte.

»Es ist nur so … ihr habt uns sehr viel gegeben, aber ihr habt uns fast nichts gesagt.« In ihrem Kokon spürte Bella, wie sich nervöser Schweiß auf ihrer Stirn sammelte. »Mir ist durchaus bewusst, dass ihr gute Gründe habt, uns gewisse Informationen vorzuenthalten. Ihr kennt unsere Geschichte. Ihr habt gesehen, dass wir manchmal großes Unheil anrichten können.«

»Wo du es erwähnst …«, sagte McKinley.

»Aber wir haben unsere Geschichte hinter uns gelassen, als wir unser Sonnensystem verließen. Die alten Regeln müssen nicht mehr gültig sein. Wir haben es geschafft, dreizehn Jahre lang auf Janus zu überleben, bevor ihr eintraft und unsere Existenz nicht ausgelöscht habt. Wir haben gelernt, miteinander zu leben.«

»Zu einem gewissen Grad«, räumte der Perückenkopf ein. »Dennoch neigt ihr weiterhin in einem besorgniserregenden Ausmaß zur Bildung zerstrittener Fraktionen. Ihr gebt euch große Mühe, es vor uns zu verbergen, aber wir sehen es trotzdem. Die Moschushunde werden es ebenfalls sehen und für ihre Zwecke ausnutzen. Darin sind sie sehr gut. Auch sie sind recht streitsüchtige Tiere.«

Das »auch« ließ Bella zusammenzucken, aber sie zwang sich, nicht unsicher zu werden. »Ich räume ein, dass es noch vieles zu verbessern gibt, aber das bedeutet nicht, dass wir über alles im Unklaren gelassen werden sollten. Es ist doch denkbar, dass mehr Wissen uns helfen könnte, klügere Entscheidungen zu treffen.«

»Aber es könnte euch auch auseinanderreißen.«

»Bitte gebt uns mehr Informationen«, sagte Bella. »Ihr seid viel tiefer in die Struktur vorgedrungen als wir. Ihr seid anderen Zivilisationen begegnet. So viel habt ihr uns bereits verraten.«

»Das haben wir«, sagte McKinley.

»Dann sagt uns, warum wir hier sind. Sagt uns, warum Janus uns zweihundertsechzig Lichtjahre weit bis hierher transportiert hat. Sagt uns, was das für euch bedeutet. Ihr müsst doch irgendeine Vorstellung haben.«

»Wir haben Daten … eine Theorie. Aber dazu seid ihr noch nicht bereit.«

»Wann werden wir bereit sein?«

»Wenn die Zeit gekommen ist. Im Augenblick seid ihr vollauf damit beschäftigt, eure verlorene Geschichte nachzuholen. Neues Wissen – vor allem solches, wie du es verlangst – könnte sich auf katastrophale Weise als destabilisierend erweisen.«

»Von welchen Zeiträumen sprechen wir hier, McKinley?«, erkundigte sich Thale.

»Mehreren Jahrzehnten. Vielleicht fünfzig Jahre. Vielleicht länger.«

»Und wenn die Moschushunde früher kommen – was würde sich dadurch für uns verändern?«, fragte Bella.

McKinley erschauderte. Eine intensive Wellenbewegung lief durch seinen Strähnenvorhang und legte das rötlich gestreifte Muster der inneren sensorischen Strähnen frei. Es war die einzige wahrhaft exotische Geste, die Bella an ihnen beobachtet hatte. Was alle anderen betraf, war sie überzeugt, dass sie bewusste Nachahmungen menschlicher Gestik darstellten und nichts über den wirklichen emotionalen Zustand der Aliens verrieten. Doch diese Art des Erschauderns deutete auf eine tiefe Gefühlsregung hin.

»Sie werden euch die ganze Welt anbieten«, sagte McKinley. »Und wenn ihr sie annehmt, werdet ihr alles verlieren.«

 

Sie machten sie wieder jung. Oder zumindest jünger. Sie hatte darum gebeten, die Behandlung nicht in vollem Ausmaß durchzuführen, sondern lediglich die Uhr auf das ungefähre biologische Alter zurückzudrehen, das sie bei der ersten Begegnung zwischen der Rockhopper und Janus gehabt hatte. Einige mochten ihre Entscheidung für recht exzentrisch halten, da auch die vollständige Verjüngung im Angebot war. Aber Bella hatte sich während ihrer »besten Jahre« viel wohler gefühlt als zu ihrer Jugendzeit. Sie hatte es genossen, fünfundfünfzig zu sein, und sie genoss es, wieder wie fünfundfünfzig zu sein, auch wenn sie nun die Erinnerungslast von dreißig zusätzlichen Jahren mit sich herumschleppte – etwas, das wie eine Migräne gegen die zu engen Wände ihres Schädels drückte.

An die Prozedur selbst konnte sie sich kaum erinnern. Niemand erinnerte sich daran. Sie hatte sich von Nick Thale und Jim Chisholm verabschiedet, und die Perückenköpfe hatten sie in eine der Spitzen geführt, die sich von der Decke herabsenkten. Das Gebilde zog sich zurück und beförderte sie tiefer ins Innere der Botschaft. Schließlich brachten die Aliens sie in eine Art Garten, der von Glas umschlossen war. Hier gab es Felsen und fließendes Wasser, Windglöckchen und einfache Pflanzen in zartem blaugrünem Farbton. Die Perückenköpfe blieben hinter dem Glas und drückten vorsichtig ihre ständig bewegten Strähnen dagegen. Unwillkürlich wurde sie an etwas erinnert, das sie seit vierzig oder fünfzig Jahren nicht mehr gesehen hatte – die rotierenden Bürsten einer Autowaschanlage, die über die Windschutzscheibe wischten.

Der Kokon öffnete sich und ließ sie heraustreten. Die Luft war atembar und roch angenehm. Irgendwie verlockte sie sie dazu, tief durchzuatmen. Das Murmeln des Wassers und das Klingeln der Glöckchen löste in ihr das überwältigende Gefühl der Entspannung und des Wohlergehens aus. Sie vermutete, die Aliens hatten die menschliche Psyche erforscht und die optimalen Parameter einer Umwelt ermittelt, die als angenehm empfunden wurde. Doch selbst das Wissen, dass es das Produkt einer bewussten und möglicherweise rücksichtslos pragmatischen Einstellung war, verringerte die entspannende Wirkung nicht.

Irgendein chemischer Einfluss in der Umgebung versetzte sie in einen Zustand zufriedener Akzeptanz, in dem sich die letzten Reste von Bangigkeit verflüchtigten. Die Aliens forderten sie auf, sich zu entkleiden und in einen der größeren Wasserteiche zu legen. Der Felsboden fühlte sich unter ihrer Berührung glatt wie Seife an, und das Wasser sprudelte sanft um ihre Schultern. Die Kühle gab ihr ein belebendes Gefühl und regte die Durchblutung ihrer Haut an, aber es war nicht so kühl, dass sie sich hätte vorstellen können, den ganzen Tag im Wasser zu verbringen. Schon bald empfand sie eine angenehme, verlockende Schläfrigkeit. Sie verlor den Antrieb, sich zu bewegen, sie verspürte nicht mehr den Wunsch zu denken. Ohne eine Spur von Beunruhigung nahm sie wahr, wie das Wasser stieg und sie vollständig bedeckte, und als man sie zurückbrachte, hatte sie eine vage Erinnerung, ertrunken zu sein. Doch darin war nichts, das sich nach Angst anfühlte, nur die zufriedene Akzeptanz, wie ein Kind, das sich in guten Händen wusste.

Aber sie erinnerte sich an einen Traum.

In diesem Traum herrschte allumfassende Finsternis, und in dieser Finsternis hatte sich ein Kind verloren. Ein Mädchen, das sich im Schnee verirrt hatte, in der dünnen Luft und grausamen Kälte einer Nacht irgendwo im Hindukusch, wie es betete und hoffte, dass ein Licht, das Rettung bedeutete, die Dunkelheit durchschnitt. Schließlich flammte ein Licht auf und verstärkte sich, bis es die Helligkeit des Tages erreichte, und Bella war zurück. Sie lag immer noch im seichten sprudelnden Wasser. Sie hob die Hand zum falschen Himmel und sah, dass die Aliens getan hatten, worum sie sie gebeten hatte. Doch sie hatte etwas von jener Kälte aus dem Traum zurückbehalten, und als man sie aufforderte, sich zu erheben, spürte sie sie immer noch in ihren kräftigen neuen Knochen.

»Es wird Zeit heimzukehren, Bella«, sagte McKinley, und für einen kurzen Moment dachte sie, er meinte die Erde und nicht Crabtree.