Sechsunddreißig
Bella bereitete gerade einen unplanmäßigen Besuch bei den Perückenköpfen vor, als sie erfuhr, dass Jim Chisholm bereits auf dem Weg nach unten war. Sie nahm die Magnetbahn und traf sich in Underhole mit ihm, in einem sicheren Teil des Bahnhofskomplexes. Der Bereich wurde durch eine Wand aus zusammengetrommelten Phantomen abgeriegelt, die sich wie eine Kette aus Papiermännchen an den Händen hielten.
Außerhalb der Absperrung wurde das Geschehen mit einem gewissen Unbehagen von den üblichen wenigen Passanten beobachtet, denen klar wurde, wie ernst die Lage sein musste, wenn sich Jim Chisholm persönlich auf Janus einfand. Auch Bella konnte es spüren. Ihr alter Freund gehörte nicht mehr zu seinem eigenen Volk. Von allen Toten, die wiederbelebt wurden, war er der Einzige, der nie wirklich aus dem Grab zurückgekehrt war. Svetlana hatte die ganze Zeit Recht gehabt, dachte sie verärgert. Sie hatten jemanden zurückbekommen, aber es war nicht der Mann, den sie aus der Rockhopper gekannt hatten. Es lag nicht nur daran, dass die Aliens manche Teile seines Geistes durch Strukturen aus den Resten von Craig Schrope ergänzt hatten, obwohl die Momente, in denen die Schrope-Muster durchbrachen, überaus irritierend waren. Hinzu kam eine Art außerirdische Aura, die ihn wie ein elektrisches Feld umgab. Bella hatte keinen Augenblick lang Angst vor ihm – oder Zweifel, dass er es nicht gut mit ihnen meinte. Er hatte immer noch Herzensgüte. Aber es war die verschmitzte und berechnende Güte eines väterlichen Weisen, die sich manchmal wie Kälte anfühlte.
Seine Augen blickten ernst hinter der uralten Lesebrille, die er wie immer trug. »Es sieht schlimm aus, Bella.«
»Deine oder meine Neuigkeiten?«
»Beide, vermute ich. Die Moschushunde werden allen Erwartungen gerecht. Früher oder später mussten sie jemanden dazu verleiten, Kontakt mit ihnen aufzunehmen. Abgesehen von der Verhängung des Kriegsrechts hättest du nichts dagegen machen können. McKinley ist sehr aufgeregt, wie du dir vorstellen kannst. Ich hoffe nur, dass der Schaden noch zu beheben ist.«
»McKinley sagte, dass es keine sichere Interaktion mit den Moschushunden gibt.«
»Das stimmt, aber wenn du sofort handelst, lässt sich vielleicht noch etwas retten.«
»Ich bin mir nicht sicher, wie viel Schaden sie bereits angerichtet hat.«
»Das wirst du früher oder später erfahren.« Chisholm nahm seine Brille ab und putzte die halbmondförmigen Linsen am Ärmel seines beigefarbenen Gewands. »Du hast es bisher sehr gut gemacht. Der Verzicht auf eine öffentliche Stellungnahme war genau das Richtige. Lass die Moschushunde glauben, dass alles offiziell genehmigt ist.«
»Was kommt als Nächstes?«
»Versuch Svetlana zur Vernunft zu bringen, wenn du kannst. Überzeuge sie, die Verhandlungen nicht fortzusetzen. Wenn die Moschushunde die Botschaft verstehen, dass es hier nicht mehr zu holen gibt, minimieren sie vielleicht ihre Verluste und verschwinden.«
»Ich werde tun, was ich kann. Vielleicht sollte ich Ryan schicken. Auf ihn wird sie eher hören als auf mich.«
»Das ist keine schlechte Idee. Ich würde anbieten, selber mit ihr zu reden, aber wenn sie auf die Moschushunde hereingefallen ist, werden meine Einwände für sie kaum noch Gewicht haben.« Er setzte die Brille wieder auf. »Außerdem gibt es ein weiteres Problem, das meine Aufmerksamkeit beansprucht.«
»Deine schlechte Neuigkeit«, sagte Bella.
»Die Moschushunde haben den Ungebändigten ermöglicht, in eine angrenzende Kammer einzudringen. Die Tore stehen offen, über eine Länge von knapp fünf Lichtminuten. Sie sind unterwegs.«
»Es kann doch kaum noch schlimmer werden, oder?«
»Genau das wird es. Der verbannte Flüsterer ist zur Botschaft zurückgekehrt. Jetzt ist er mehr denn je davon überzeugt, dass es so etwas wie ein Abkommen zwischen den Moschushunden und den Ungebändigten geben muss. Es ist vielleicht gar kein Zufall, dass sie die Tore offen gelassen haben.«
»Und sie haben immer noch keine Ahnung, worum es bei diesem Abkommen geht?«
Chisholms Miene war verbittert. »Der Flüsterer hat neue Informationen erhalten. Es sieht allmählich so aus, als könnte es etwas mit dem Zugang zu Janus zu tun haben.«
»Sag mir, was du weißt.«
»Janus war eine Maschine mit dem Zweck, uns hierher zu bringen und während der Reise am Leben zu erhalten. Sie verfügte über genügend Energie, um sich mit relativistischer Geschwindigkeit durch den Raum zu bewegen, und eine kleine Reserve für Notfälle. Nachdem wir in der Struktur eingetroffen sind, hat Janus seinen Zweck erfüllt. Wir haben es vielleicht noch nicht bemerkt, aber die Energievorräte des Mondes sind begrenzt und gehen zur Neige.«
»Er stirbt«, mutmaßte Bella.
»Vielleicht können wir ihm noch jahrzehntelang Energie abzapfen, aber irgendwann wird nichts mehr übrig sein. Das passiert letztlich mit allen Monden, die in der Struktur eintreffen. Sie geben den Geist auf, wie eine alte Batterie. Aber nach hiesigen Maßstäben sind wir erst seit sehr kurzer Zeit hier. Unser Mond verfügt noch über eine verhältnismäßig große Ladung.«
»Groß genug wozu?«
»Wenn die Informationen des Flüsterers stimmen, könnten die Moschushunde versuchen, die gesamte Restenergie auf einen Schlag abzuziehen.«
»Das verstehe ich nicht. Warum …?«
»Um ein Loch in die Struktur zu sprengen«, sagte Chisholm ruhig. »Um ins äußere Universum zu gelangen.«
Bella erschauderte, als sie an die Konsequenzen dachte. »Wäre das wirklich möglich?«
»Es wurde schon einmal getan, wenn man den kursierenden Gerüchten glauben kann, aber eben nur einmal. Und von der Zivilisation, die auf diese Weise entkommen ist, hat niemand mehr etwas gehört.«
»Zumindest haben sie es versucht. Zumindest haben sie es nicht einfach akzeptiert, für den Rest der Ewigkeit in diesem Ding festzusitzen.«
»Die Sache könnte nicht ganz so einfach sein. Keine der Zivilisationen hat konkrete Daten über die Verhältnisse außerhalb der Struktur. Erst wenn man draußen ist, wird man wissen, wie es dort ist. Ein Käfig kann auch Schutz bieten.«
»Wer bleiben möchte, kann das selbstverständlich tun«, sagte Bella.
»Vergiss nicht, was ich gesagt habe. Man hat nichts mehr von den Zivilisationen gehört, die entkommen sind.«
»Das verstehe ich nicht. Wenn schon einmal jemand ein Loch in die Wand gesprengt hat, können die Moschushunde doch dasselbe benutzen.«
»Die Wände verheilen«, sagte Chisholm. »Nach ein oder zwei Wochen ist alles wieder so gut wie neu.«
Bella wurde von widersprüchlichen Empfindungen hin und her gerissen. Ihr gefiel die Idee, einen Weg zu finden, um die Struktur zu verlassen, selbst wenn sie dadurch Janus verloren. Was ihr nicht gefiel, war die Tatsache, dass es nicht an ihr lag, ob es geschah oder nicht. »Was müssten die Moschushunde tun, um es zu schaffen?«
»Sie müssten Janus auf einer sehr tiefen Ebene anzapfen, den Zugang zu den richtigen Maschinen erhalten. Die Moschushunde sind nicht schlau genug, um selber zu wissen, was zu tun ist. Aber sie haben die Unterstützung der Ungebändigten.«
»Wie viel Zeit haben wir?«
»Das lässt sich nicht sagen. Es könnten Stunden sein, Tage oder viel mehr.«
»Und dann fliegt Janus in die Luft.«
»Etwas in der Art. Es versteht sich von selbst, dass sich die Moschushunde nicht in dieser Sektion aufhalten werden, wenn es passiert. Sie werden ihren Schlüssel benutzten, um sich in die Sicherheit der nächsten Kammer zurückzuziehen.«
»Und wir werden sterben.«
»Wenn wir dann immer noch hier sind, dürften unsere Chancen nicht sehr gut stehen.«
»Okay, ich habe genug gehört. Wir müssen die Sache aufhalten, bevor sie losgeht.«
»Das ist nicht so einfach, wie es klingt«, sagte Chisholm.
»Warum nicht? Die Perückenköpfe könnten die Moschushunde doch vertreiben, oder nicht?«
»Das könnten sie, aber dazu brauchen sie handfestere Beweise als das, was der Flüsterer zu bieten hat. Sonst riskieren sie einen Verweis von den übrigen Mitgliedern der Schacht-Fünf-Allianz. Die Flüsterer haben sich in der Vergangenheit nicht gerade als unbedingt vertrauenswürdig erwiesen. Es besteht immer noch die Möglichkeit, dass es sich nur um eine Intrige handelt, sie zu Maßnahmen gegen die Moschushunde zu verleiten.«
»Aber du hast doch gesagt, die Moschushunde hätten Schlüssel von den Flüsterern gekauft.«
»All das sind nur Informationen, Bella. Es gibt keine Informationen, die sich nicht auf irgendeiner Ebene anzweifeln lassen.«
»Also werdet ihr einfach abwarten und uns sterben lassen?«
»Das habe ich nicht gesagt. Ich sagte, dass wir etwas Handfesteres brauchen, als wir bislang haben. Glaube nicht, dass es McKinley und den anderen gleichgültig wäre. Sie sind bereit, alles in ihrer Macht Stehende zu tun, um uns vor den Ungebändigten zu schützen.«
»Ich habe Angst«, sagte Bella.
»Ich auch. Mehr Angst als seit sehr langer Zeit.« Er berührte zärtlich ihre Hand. »Ich muss jetzt zu den Perückenköpfen zurückkehren. Sie sind für mich sehr gute Freunde geworden, und ich will sie nicht allein lassen, wenn sie in den Abgrund blicken. Wenn die Ungebändigten kommen, möchte ich bei ihnen sein. Was auch immer geschieht.«
»Was sollte ich wegen der Moschushunde unternehmen? Kannst du mir nicht irgendeinen Hinweis geben?«
»Ich wünschte, ich könnte es, aber ich kenne unsere Geschichte. Ich weiß, was geschehen würde.«
»Ich verstehe«, sagte sie resigniert. »Ich weiß, was nach der Zäsur passiert ist, Jim. Ich weiß, was dieses Wissen beinahe mit uns angerichtet hätte.« Ihr wurde bewusst, dass sie ihm gegenüber zum ersten Mal seit Jahren im Vorteil war. Sie verspürte gleichzeitig Gehässigkeit, Entzücken und Traurigkeit.
»Das kannst du unmöglich wissen«, sagte er.
»Ich weiß es aber. Jemand hat es mir gesagt.«
»Wer?«
»Eine Freundin namens Chromis Anemone Laubenvogel.«
Er schloss die Augen. Sie spürte, wie seine uralte, unmenschlich große Erinnerung arbeitete. »Die Politikerin? Aus dem Kongress des Lindblad-Rings?«
»Sie hat mich gefunden. Ich weiß alles, Jim.«
Er sah sie erstaunt und bedauernd an. »Ich hatte einen Verdacht, als du sagtest, du wüsstest, dass wir uns nicht mehr in der Spica-Struktur befinden. Wie konntest du es wissen, wenn dir niemand gesagt hat, wie weit wir uns schon von der Erde entfernt haben?«
»Ich glaube, sie würde uns helfen, wenn es wirklich schlimm kommt.«
»In ihrer Epoche galt sie als sehr weise Politikerin. Aber du kennst Chromis nicht, Bella. Du erlebst nur einen Schatten von ihr, eine Art Totenmaske. Sie mag es gut meinen, aber …«
»Vielleicht ist sie alles, was wir haben.«
Bella stand vor dem Gedächtniswürfel im gesicherten Labor unter Crabtree. Es kam ihr vor, als wäre es schon viele Monate her, seit sie ihn zum ersten Mal berührt hatte. Nachdem Chromis in ihren Kopf eingedrungen war, hatte es für sie keinen Grund gegeben, das Labor ein weiteres Mal zu besuchen. Sie hatte angeordnet, dass die Untersuchungen eingestellt wurden, und die Wissenschaftler auf andere Projekte verteilt. Die Analyseinstrumente waren fortgeschafft worden, der Würfel rotierte nicht mehr auf der Inspektionsplattform. Jetzt hatte er keinen Reiz mehr, sie empfand nicht mehr das Bedürfnis, ihn zu berühren. Er wirkte nicht lebendiger oder zielstrebiger als ein geschnittener und polierter Brocken Kohle.
»Ich habe mich immer gefragt«, sagte Bella, als sie mit Chromis und Axford vor der Seite mit dem gravierten Da-Vinci-Motiv stand, »was denn geschehen wäre, wenn ich nicht mehr am Leben gewesen wäre. Wenn der Würfel darauf programmiert war, ausschließlich auf meine DNS zu reagieren …«
»Ach, das wäre kein besonderes Problem gewesen«, tat Chromis ihre Bemerkung ab. »Offen gesagt, haben wir die Wahrscheinlichkeit, dass du den Würfel finden würdest, kaum höher als null eingeschätzt. Wir sind immer davon ausgegangen, dass eher einer deiner fernen Nachkommen darauf stoßen würde.«
»Aber niemand konnte wissen, ob ich meine DNS weitergeben würde. Was hätte der Würfel den Menschen genützt, wenn sie keine Möglichkeit gehabt hätten, ihn zu öffnen?«
»Wir dachten, dass es für sie kein Hindernis wäre. Wir gingen davon aus, dass sie eine Blutprobe oder zumindest die DNS-Sequenzen in deinem Angedenken aufbewahren würden. Es wäre kein großer Aufwand gewesen, ein Fragment von dir zu erhalten, für den Fall, dass es irgendwann wieder benötigt würde.«
»Hätte sich der Würfel dadurch täuschen lassen?«
»Das wäre nicht das Problem gewesen«, sagte Chromis. »Der Würfel sollte entscheiden, ob er in sichere Hände gelangt ist oder nicht. Wenn er etwas entdeckt hätte, das deiner DNS entspricht, hätte ihm das genügt.«
Bella dachte darüber nach. »Und was wäre, wenn sie meine DNS nicht konserviert hätten?«
Axford beobachtete sie, zugleich amüsiert und fasziniert vom einseitigen Gespräch.
»Es wären immer noch deine Nachkommen gewesen. Mit den richtigen Methoden hätten sie deine Sequenz rekonstruieren können.«
»Ich habe aber keine Kinder.«
»Noch ist Zeit«, sagte Chromis. »Aber selbst wenn du kinderlos bleibst, würde deinen Leuten sehr viel an dir liegen, Bella. Sie hätten etwas von dir aufbewahrt, glaube mir. Schau uns an! Schließlich haben auch wir es geschafft, eine Probe zu finden.«
»Ich habe mich schon die ganze Zeit gefragt …«
»Es war schwierig«, gab Chromis zu. »Deine DNS-Sequenz musste zum Zeitpunkt deines Abflugs an vielen Stellen gespeichert gewesen sein, in medizinischen Datenbanken, bei Versicherungen und so weiter. Doch als der Kongress des Lindblad-Rings den Beschluss des Jubiläumsprojekts fasste, waren diese Quellen schon lange nicht mehr verfügbar. Also mussten wir etwas … erfindungsreicher sein.«
»Wie ist das zu verstehen?«
»Wir haben auf dem Sinai Planum auf dem Mars Ausgrabungen durchgeführt. Wo dein Mann starb.«
»Garrison?«, sagte sie erstaunt. »Aber das Wrack wurde nie gefunden.«
Chromis konnte sich eine gewisse Selbstzufriedenheit nicht verkneifen. »Wir haben es gefunden. Es lag tiefer als bis dahin vermutet, das war alles. Und es war über eine größere Fläche verstreut, als man erwartet hatte. Als wir Garrisons Überreste fanden, hatten sie für die Dauer zweier vollständiger Terraformungszyklen im marsianischen Boden gelegen. Doch es war noch genug von ihm übrig, um damit arbeiten zu können.«
»Aber ich bin nicht Garrison«, sagte sie.
»Nein, aber du hast ihm eine Locke deines Haars geschenkt. Sie war immer noch da, Bella. Er hat sie in seinem Anzug bei sich getragen. Sie lag in seiner Hand, sicher im Handschuh verwahrt. Sie hat all die Jahre überlebt und auf uns gewartet.«
»Mein Gott!«
»Er hat sich gut um deine Locke gekümmert, Bella. Er muss dich sehr geliebt haben.«
Später beobachtete sie, wie die Botschaft der Perückenköpfe in hundert gläserne Scherben zerbrach. Das erinnerte sie an eine Schule glitzernder Fische, die bei der Annäherung eines Räubers explosionsartig auseinanderstob. Die Scherben ordneten sich zu lockeren, schimmernden Gruppen an und entfernten sich mit hoher Geschwindigkeit vom Eisernen Himmel. In weniger als einer Stunde würden sie das Tor erreichen, das in die benachbarte Kammer führte, um sich dort den Ungebändigten zu stellen.
Bella dachte an Jim Chisholm – beziehungsweise an das, was er geworden war – und stellte sich vor, wie er unterwegs war, weil er sich aus Ehre seinen Alien-Freunden verpflichtet fühlte. Es war tapfer, und es beeindruckte sie. Aber gleichzeitig fragte sie sich, wie weit er sich von den Menschen entfernt hatte, dass er ein solches Mitgefühl – oder sogar Liebe – für die Perückenköpfe empfand. Bella war dankbar für die Geschenke, die sie ihrer Spezies gemacht hatten, und fühlte sich bis zu einem gewissen Grad durch das Wissen beruhigt, dass sie ein bekannter und vertrauenswürdiger Faktor waren, doch ihre Empfindungen waren meilenweit von Mitgefühl entfernt. Sie kam sich zu klein vor, zu zerbrechlich, zu endlich, um sich vorstellen zu können, die Perückenköpfe jemals zu lieben.
Es erfüllte sie mit Ehrfurcht, wenn sie daran dachte, dass Jim Chisholm einen Teil dieser Distanz überbrückt hatte. Dadurch hatte er sich gleichzeitig weiter von ihr entfernt, in ein Territorium des Herzens, für das sie keine Landkarten und keinen Kompass hatte, ganz zu schweigen vom Wunsch, es zu erkunden. Sie wünschte ihnen alles Gute, aber sie konnte nicht sagen, wie traurig sie sich fühlte, wenn Chisholm nicht zurückkehrte. Sie hatte sich bereits von ihm verabschiedet, aber schon vor sehr langer Zeit.
Statt Traurigkeit empfand sie etwas sehr Seltsames, ein Gefühl, das sie so lange entbehrt hatte, dass es exotisch wie ein unbekanntes Gewürz schmeckte. Aber es war ihr nicht völlig unvertraut. Es war etwas, das sie vor sehr langer Zeit gut gekannt hatte.
Es war Seelenfrieden, und es hatte nichts mit Jim oder den Aliens zu tun.
Nach all den Jahren und Jahrzehnten konnte sie endlich an Garrison denken, ohne dass es sich problematisch anfühlte. Das Messer in ihrem Bauch war verschwunden. Sie hatten sich über die Erde-Mars-Verbindung gestritten, bevor er zu seiner letzten Mission aufgebrochen war, aber nun wusste sie, dass er ihr verziehen hatte. Selbst als er abstürzte, als sein Schiff um ihn herum im Feuer des Wiedereintritts verglühte, musste er die Zeit gefunden haben, an sie zu denken, wie es ihr gehen würde, wenn sie von seinem Tod hörte. Er hatte ihre Haarlocke in der Hand gehalten, als Zeichen, dass alles in Ordnung war, dass der Streit vergessen war, dass er sie immer noch liebte. Er konnte ihr keine gesprochene Nachricht schicken, aber er hatte ihr etwas genauso Deutliches übermittelt, in der Hoffnung, dass er eines Tages gefunden wurde. Es hatte achtzehntausend Jahre lang im marsianischen Boden gelegen, während der Regen kam und ging, während sich Seen und Wälder auf den Ebenen ausbreiteten und wieder zurückzogen, als der Himmel blau wurde und sich mit Wolken bezog und schließlich wieder zum einförmigen marsianischen Ockerrot zurückkehrte, während sich der Zyklus wiederholte, während Imperien entstanden und vergingen und die Menschheit zu den Sternen aufbrach und zu etwas Seltsamem und Wunderbarem wurde, von dem Chromis ein Teil war. Und dann hatte Chromis die Botschaft, diese eine erlösende Tatsache, über eine unvorstellbar große zeitliche und räumliche Entfernung überbracht, über eine Kluft, gegen die achtzehntausend Jahre nur ein kurzer Moment waren.
Sie hatte Bella erreicht. Die Botschaft war übermittelt, der Bogen vollendet worden. Die Ironie daran war, dass trotz allen Zukunftswissens, das Chromis in sich trug, dieser menschliche Kontakt für Bella das Wichtigste von allem war. Es kam ihr vor, als wäre sie in diesem Moment stehen geblieben, als hätte sie sich seitdem nicht weiterbewegen können. All die Beziehungen, die nie funktioniert hatten, all die Männer, die sie nie an sich herangelassen hatte, weil sie immer wieder das Messer in sich gespürt hatte.
Die Haarlocke sagte ihr, dass alles gut war. Sie musste Garrison nicht vergessen, aber sie konnte zumindest weitergehen. Sie wusste, als sie sich getrennt hatten – als er ihr durch das Universum entrissen worden war –, waren sie immer noch Freunde gewesen.
Die Ruhe, die sie empfand, war wie die Entspannung des seismischen Drucks nach einem Erdbeben. Es war wunderbar, und sie hätte nichts lieber getan, als sich die Zeit zu nehmen, es zu genießen, zu sehen, wie sich ihr neue Möglichkeiten auftaten. Aber die Entspannung kam ausgerechnet in einem Augenblick, als sich ihre Welt aufzulösen drohte. Es würde ihr wesentlich besser gehen, wenn sie gewusst hätte, ob sie am Ende dieses Tages noch am Leben war.
So war das Universum: Man konnte ihm gelegentlich ein Schnippchen schlagen, man konnte eine Flaschenpost über das halbe Meer der Ewigkeit empfangen, aber es war immer das Universum, das letztlich triumphierte.
Chisholm rief sie über den Botschaftskanal an. »Wir werden in dreißig Minuten das Tor erreichen, Bella. Die Sensoren der Allianz registrieren die Ungebändigten in der übernächsten Kammer. Sie bewegen sich schnell, und wie es aussieht, sind sie auf einen Kampf vorbereitet.«
»Werdet ihr gewinnen?«
»Wir werden ihnen eine blutige Nase verpassen, die sie so schnell nicht vergessen. Aber wenn wir es nicht schaffen, wenn die anderen Einheiten der Allianz nicht rechtzeitig hier eintreffen …« Chisholm verstummte, doch dann holte er von irgendwoher die Kraft zum Weitersprechen. »Ich kann dir nicht allzu viel versprechen. Wir haben eine kleine Stellung auf dem Eisernen Himmel zurückgelassen.«
»Ich weiß.« Bella hatte sie gesehen.
»Darin ist Platz für fünfhundert Menschen. Damit können wir euch zumindest in Sicherheit bringen.«
Sie dachte darüber nach, was erforderlich wäre, um Crabtree und alle anderen Siedlungen auf Janus zu evakuieren. »Du meinst, in die Kammer, in der es bald vor Ungebändigten wimmeln wird? Seit wann gilt so etwas als sicher, Jim?«
»Wenn Janus hochgeht, seid ihr in einer Kampfzone besser dran als in der Kammer, in der ihr euch derzeit aufhaltet. Wenigstens wird die Schacht-Fünf-Allianz in der Lage sein, euch Unterschlupf zu bieten.«
»Wenn sie aufkreuzt.«
»Das wird sie. Die Allianz nimmt ihre Verpflichtungen sehr ernst. Sobald es danach aussieht, dass wir die Oberhand haben, werde ich nach Janus zurückkehren und euch nach besten Kräften helfen.« Er sah sie mit zusammengekniffenen Augen an. »Alles in Ordnung mit dir, Bella?«
Sie hätte fast gelacht. »Die Welt geht zur Hölle. Warum sollte nicht alles mit mir in Ordnung sein?«
»Du scheinst nur irgendwie anders auszusehen.«
»Schlechter?«
»Nein«, sagte er. »Nicht schlechter. Eher so, als wäre dir gerade etwas Gutes zugestoßen.«
»So ist es«, sagte Bella. »Etwas sehr Schönes. Jetzt wollen wir nur hoffen, dass etwas von meinem Glück auf uns alle abfärbt.«
Das neue Loch im Himmel war vollkommen kreisrund und genauso groß wie sein Gegenstück über Underhole. Ein Stück Technik der Moschushunde – ein beibootgroßes Ding, das wie Fleischfetzen aussah, die man um einen Vergaser gewickelt hatte – folgte Svetlana nach drinnen. Es zog einen sich windenden, dünnen Tentakel hinter sich her, der bis zum Knorpelschiff zurückreichte. Es war immer noch bei ihr, als sie sich dem Verteilerkasten näherte, wo es seitlich ausschwenkte und in der spicanischen Maschinerie verschwand. In all den Jahren geduldiger Untersuchung hatten die Menschen diese Öffnung nicht bemerkt.
Svetlana hatte erwartet, in Neustadt festzustellen, dass die Hölle los war, aber als sie im Schiffsnetz nachschaute, schien alles normal zu sein. Sie legte den Anzug ab und bat Denise Nadis, die Produktionsdateien aus ihrem Anzug an ihren geheimen Schmiedekessel zu übertragen. Kurz darauf setzte sich im roten Bauch der Maschine etwas Wundersames und Eigenartiges zusammen.
Die Magnetbahn aus Crabtree traf ein. Svetlana rechnete fast damit, dass Bella aus dem Zug stieg, doch dann erkannte sie die jungenhafte Gestalt von Ryan Axford, der bis auf ein Phantom allein war. Svetlana ließ ihn in den Verhandlungsraum mit dem Panorama aus marsianischen Landschaften bringen.
»Du kannst dein Phantom draußen lassen«, sagte sie. »Ich werde dir nichts tun. Wir haben uns immer gut verstanden.«
»Was ist mit dir passiert?«, fragte Axford.
Svetlana rieb sich mit einem Finger ihres Latexhandschuhs über die Eigentumsmarkierung, die der Moschushund auf ihrer Stirn hinterlassen hatte. Es fühlte sich geriffelt und ledrig an, wie Schorf oder Narbengewebe. Darunter juckte es furchtbar auf ihrer Haut. Sie hätte die Markierung am liebsten abgerissen, sich dieser außerirdischen Verunreinigung entledigt.
»Nicht viel«, sagte sie.
»Schmerzt es?«
»Es juckt, das ist alles. Der Moschushund hat mir versichert, dass es mir nicht schaden würde. Kannst du es riechen?«
»Nein«, sagte Axford.
Svetlana lächelte unbestimmt. »Manche Menschen können es, glaube ich. Es scheint auf einer sehr subtilen Ebene unseres Geruchssinns zu funktionieren. Für die Moschushunde ist es wie eine Neonreklame. Sie sagt ihnen alles, was sie wissen müssen.«
»Lässt es sich entfernen?«
»Ich könnte es sofort abreißen, wenn ich möchte. Das Gewebe darunter würde leicht verletzt werden, aber alles würde wieder vollständig abheilen.«
Axford konnte es nicht aus den Augen lassen. »Warum tust du es dann nicht?«
»Weil es das Ende meiner Beziehung zum Verhandelnden wäre.«
»Ist das einer der Moschushunde?«
»Er ist mein Eigentümer, solange wir Handel treiben. Wenn ich ohne diese Markierung zu ihrem Schiff zurückkehre oder sie bemerken, dass ich sie mir chirurgisch habe entfernen lassen, wäre das sehr schädlich für den Status meines Moschushunds innerhalb seines Rudels.«
»Was würde geschehen?«
Svetlana lächelte matt. »Man würde ihn bestrafen. Das möchte ich vermeiden.«
»Du hättest es nicht tun sollen.«
»Ich habe die Initiative ergriffen. Von meinem Standpunkt aus macht es den Eindruck, dass ich genau das Richtige getan habe. Sie haben mir an einem Tag mehr gegeben, als wir in den letzten zehn Jahren von den Perückenköpfen bekommen haben.«
»Vielleicht gibt es dafür einen Grund. Vielleicht möchten die Perückenköpfe nicht zusehen, wie wir uns mit Techniken selbst auslöschen, die wir kaum verstehen. Vielleicht handeln sie aus großem Verantwortungsgefühl.«
»Natürlich würde Bella es so sehen.«
»Damit ist es nicht zwangsläufig falsch.«
»Es gibt einen anderen Standpunkt mit der gleichen Wertigkeit«, sagte sie. »Die Perückenköpfe haben uns nichts mehr zu bieten, jedenfalls nichts, was für uns nützlich wäre. Trotzdem brauchen sie Janus. Also halten sie uns hier fest und verweigern uns den Zugang zum Rest der Struktur.«
»Sie haben uns vor den Gefahren gewarnt, die hinter dem Tor liegen. Das ist nicht ganz dasselbe.«
»Haben sie uns einen Schlüssel gegeben?«
»Gibt man einem Baby eine Rasierklinge?«
»Dann wird es Zeit, dass wir aufhören, uns wie Babies zu benehmen. Deshalb habe ich heute das Knorpelschiff aufgesucht, Ryan. Es geschah nicht, um Bella zu ärgern oder sie für das zu bestrafen, was sie Parry angetan hat, sondern um uns weiterzubringen. Um etwas zu tun.«
»Das ist dir auf jeden Fall gelungen.«
Die Frau und der jungenhafte Mann musterten sich gegenseitig, während sich Vorhänge aus Staub über die trockene, lachsrote Landschaft des Mars zogen. Ein goldenes Luftschiff mit einem Symbol aus Halbmond und Stern vollführte ein gefährliches Andockmanöver an einem Minarett der durch Mauern gesicherten Stadt.
»Ich hatte eine deutlichere Reaktion von Bella erwartet«, sagte Svetlana.
»Zum Beispiel?«
»Ich weiß nicht. Vielleicht eine polizeiliche Aktion gegen Neustadt. Die Verhaftung von bekannten Barseghian-Anhängern.«
Axford sah sie mit enttäuschtem Blick an. »So plump geht Bella nicht vor. Ich dachte, das hättest du inzwischen erkannt.«
»Ich vermute, sie hat dich aus einem bestimmten Grund geschickt.«
Axford musterte sie mit kalter Miene. »Vor langer Zeit wurde Bella vor den Moschushunden gewarnt. Die Perückenköpfe sagten ihr, dass irgendwann mit ihrem Erscheinen gerechnet werden muss. Außerdem haben sie zu ihr gesagt, dass die Moschushunde die kleinste sichtbare Spaltung in unserer Gesellschaft ausnutzen würden. Deshalb hat Bella so lange und so hart daran gearbeitet, sich mit dir zu versöhnen. Sie hat alles in ihrer Macht Stehende unternommen, um dich wieder in die Arme zu schließen. Du wurdest nicht ins Exil geschickt. Sie hat dich sogar zu Takahashis Party eingeladen.«
»All das nur für den Fall, dass die Moschushunde auftauchen?«
»Es hat auch sehr viel mit menschlichem Anstand zu tun.«
Svetlana schnaufte verächtlich. »Was sie Parry angetan hat, war alles andere als anständig.«
»Du scheinst gerne zu glauben, dass das eine rein persönliche Angelegenheit war, nicht wahr?«
»War es das nicht?«
»Ich glaube, Bella stand kurz davor, Parry laufen zu lassen. Ich bin mir sicher, dass sie diese Lösung vorgezogen hätte. Sie mag Parry sehr.« Axfords Aufmerksamkeit wurde wieder von der Markierung auf Svetlanas Stirn abgelenkt. Sie dachte, dass er sich genauso wie ein Kind das Starren nicht verkneifen konnte. »Die ganze Geschichte hat sie mehr geschmerzt, als du dir vorstellen kannst, Svetlana.«
»Bist du fertig mit deiner Predigt, Ryan? Oder war das der Grund, warum du gekommen bist?«
»Ich erwähnte die Notwendigkeit sichtbarer Einigkeit«, sagte Axford, ohne die Ruhe zu verlieren. »Bella findet nach wie vor, dass es sehr wichtig ist, den Moschushunden nicht das geringste Anzeichen von Zwietracht zu zeigen. Deshalb hat sie deine Handlung nicht öffentlich denunziert oder den Notstand ausgerufen und Massenverhaftungen vorgenommen.«
»Ich kann dir nicht folgen.«
Er sah sie abschätzend an. »Bella hat einen Vorschlag. Sie wird nichts gegen dich unternehmen. Sie wird dich nicht für deine Tat bestrafen und keinen Druck auf deine Anhänger ausüben. Du kannst so weitermachen wie gehabt. Aber nur unter einer Bedingung, versteht sich.«
»Lass sie hören.«
»Du meldest dich bei den Moschushunden zurück – per Funk oder persönlich, das ist Bella egal. Vermutlich hast du ihnen gesagt, du wärst befugt, im Namen der gesamten Kolonie zu sprechen.«
Svetlana tat die Frage mit einem Achselzucken ab.
»Du bleibst einfach bei der Lüge, die du ihnen bisher erzählt hast«, sprach Axford weiter. »Die Moschushunde werden weiterhin glauben, dass wir dich geschickt haben. Und du wirst ihnen sagen, dass du alle Vereinbarungen mit ihnen aufheben willst. Was auch immer du abgemacht hast – was auch immer du ihnen gegeben oder von ihnen bekommen hast –, alles ist null und nichtig. Wenn das bedeutet, dass wir den Moschushunden etwas zurückgeben müssen, bezahlen wir diesen Preis. Hauptsache, sie lassen uns dann in Ruhe.«
»Zu spät«, sagte Svetlana. »Sie haben bereits ein Loch durch den Himmel gebohrt. Oder habt ihr es nicht bemerkt?«
»Wir haben es bemerkt. Wir haben auch das Ding bemerkt, das hinter dir durch das Loch kam. Die Perückenköpfe haben alles sehr aufmerksam verfolgt. Bella sagt, dass es vielleicht kein einfacher Energiezapfer ist, wie die Moschushunde dir gegenüber behauptet haben.«
»Und Bella weiß es mal wieder besser, nicht wahr?«
»Die Perückenköpfe sind an Informationen gelangt. Und diese Informationen besagen, dass die Moschushunde möglicherweise versuchen wollen, Janus zu vernichten.«
»Als würde das irgendeinen Sinn ergeben.«
»Es würde eine Menge Sinn ergeben, wenn man sich einen Weg nach draußen sprengen möchte.«
Sie lachte laut auf. »Sehr gut, Ryan. Komisch, dass diese Informationen ausgerechnet zu einem Zeitpunkt auftauchen, wenn Bella etwas braucht, das sie gegen mich verwenden kann.«
»Also glaubst du uns nicht.«
»Bella kann meinetwegen glauben, was sie möchte. Aber ich höre die Nachtigall trapsen.«
»Ich glaube nicht, dass uns die Perückenköpfe in diesen Dingen belügen würden.«
Svetlana verspürte plötzlich das überwältigende Bedürfnis, zu ihm durchzudringen, ihn von ihrem Standpunkt zu überzeugen. »Ryan, hör mir zu. Ich war oben im Schiff. Ich habe die Moschushunde erlebt. Sie sind ziemlich unangenehm.« Sie betastete die Duftmarke. »Sie sind mir keineswegs sympathisch, falls du diesbezüglich Zweifel hegen solltest, aber ich habe gespürt, dass sie nur daran interessiert sind, Geschäfte zu machen.«
»Geschäfte können einen töten, wenn man auf der falschen Seite steht. Ich dachte, diese Lektion hätten wir an Bord der Rockhopper gelernt.«
»Es hat sich gelohnt, diesen Preis zu zahlen. Sie werden uns wirkliche Macht verschaffen. Endlich werden wir wieder etwas zu sagen haben. Ich möchte hier raus, Ryan. Ich will sehen, was in den übrigen Kammern der Struktur los ist. Ich will zu den Spicanern und ihnen ein paar ernste Fragen stellen.«
Er sah sie mit dem schmerzenden Ausdruck der Entfremdung an, als wären sie sich unbekannt. »Es freut mich, dass du wenigstens einige Gedanken an die Problematik verschwendet hast.«
Sie stand abrupt auf. »Wir können das Gespräch beenden. Es dürfte offensichtlich geworden sein, dass meine Antwort Nein lautet. Jetzt bleibt nur noch die Frage, was Bella dagegen zu unternehmen beabsichtigt.«
Axford erhob sich ebenfalls. Dazu musste er vom hohen Stuhl am Besprechungstisch springen. Svetlana fand, dass er trotz seiner Statur immer noch die physische Präsenz eines erwachsenen Mannes hatte, kombiniert mit einem Blick, der selbst ihre verborgenen Schwächen aufdeckte, damit er sie in Ruhe und mit klinischer Sorgfalt inspizieren konnte.
»Es ist noch nicht zu spät«, sagte er.
»Wofür?«
»Um vom gefährlichen Kurs abzuweichen. Bella kann verzeihen. Das weißt du.«
»Grüß sie von mir«, sagte Svetlana.
Sie sprachen über das Schiffsnetz miteinander. Der Trotz, mit dem Svetlana ihre Widersacherin anstarrte, ging fünfzig Jahre zurück, bis in die dunkelste Zeit an Bord der Rockhopper.
»Lass es uns kurz machen«, sagte Svetlana.
»Ich dachte, du würdest Ryan zuhören«, sagte Bella. »Nach dieser langen Zeit haben wir beide ihm sehr viel zu verdanken. Er war immer gut zu uns beiden.«
»Es ging nicht um Ryan und mich. Und ich habe ihm zugehört.«
»Ryan hat dir gesagt, was die Moschushunde wirklich mit Janus vorhaben.«
»Er hat mir eine Geschichte erzählt – und ich hatte den Eindruck, dass er sie geglaubt hat. Vielleicht glaubst sogar du daran. Aber dadurch gewinnt sie nicht unbedingt an Überzeugungskraft.«
»Das Ding, das sie zusammen mit dir runtergeschickt haben, wird Janus zerstören.«
»Das sagst du.«
»Jim Chisholm glaubt es auch.«
»Chisholm ist ein Teil des Problems. Wer weiß, wie viel vom Bluthund sie ihm in den Kopf gesteckt haben?«
»Ich hörte, du hättest dich mit Schrope vertragen, bevor du ihn ins Schiff der Perückenköpfe geschickt hast.«
Svetlana schüttelte den Kopf. »Er hat sich freiwillig für diese Mission gemeldet. Es war seine erste gute Tat, nachdem er sein Leben lang ein Widerling war.«
»Glaub von Jim, was du willst, aber ich weiß, dass er nicht lügt. Dessen bin ich mir so sicher, dass ich bereits einen Evakuierungsplan ausarbeite.«
Diese Neuigkeit schaffte es, für einen Moment Svetlanas Maske der Gleichgültigkeit zu durchdringen. »Du willst Crabtree evakuieren?«
»Ich will Janus evakuieren. Offiziell habe ich es noch nicht bekannt gegeben, weil ich eine Massenpanik vermeiden möchte, aber wenn der Zeitpunkt gekommen ist, stehen die Kapazitäten bereit, um uns alle innerhalb weniger Stunden rauszubringen. Mit der Magnetbahn nach Underhole, von dort zu den Resten der Botschaft der Perückenköpfe. Sie werden sich um uns kümmern, bis wir wieder auf eigenen Beinen stehen können. Wir sind nur fünfhundert, also ist es durchaus machbar.«
»Schick mir eine Postkarte.«
»Hör mir zu, du verbohrte Zicke. Ich werde den ganzen Mond evakuieren lassen. Das schließt auch Neustadt ein. Also auch deine Leute. Damit bist auch du zur Mithilfe verpflichtet.«
Svetlana machte den Eindruck, als hätte sie gerade eine Ohrfeige erhalten. »Ich soll dir helfen?«
»Du sollst uns allen helfen. Du musst deine Leute nach Crabtree bringen, damit wir sie nach Underhole und dann zur Botschaft transportieren können. Wir können es uns nicht leisten, damit zu warten, bis ich mit der allgemeinen Evakuierung beginne. Wir müssen jetzt anfangen, was bedeutet, dass du dir einen guten Vorwand ausdenken musst, um deine Leute nach Crabtree zu schaffen.«
»Jetzt habe ich es kapiert. Wenn ich Neustadt räume, schickst du deine Juristen her und nimmst mir die Siedlung weg.«
»Du glaubst immer noch, es wäre nur eine Sache zwischen dir und mir, was?«
»Ich habe dich mit den Moschushunden ausgetrickst. Damit wirst du nicht fertig, also versuchst du mir einen Strich durch die Rechnung zu machen, indem du Angstmache betreibst und erzählst, sie würden Janus vernichten wollen.«
»Du willst über Angst reden? Ich habe große Angst, Svieta. Genauso wie Jim. Genauso wie die Perückenköpfe. Du lässt dich auf Sachen ein, die du überhaupt nicht überblickst, geschweige denn verstehst, und die Bombe wird uns allen um die Ohren fliegen. Es ist völlig klar, dass wir Angst haben.«
»Dann solltest du die Schuld mal bei dir selbst suchen. Immer, wenn du mich in Hintergrundinformationen hättest einweihen können …«
»Du willst Hintergrundinformationen? Gut, ich gebe sie dir: Die Moschushunde haben die Tore offen gelassen. Dadurch haben sie den Ungebändigten ermöglicht, ihnen zu folgen.« Bella beobachtete das Gesicht ihrer alten Freundin und suchte nach dem leisesten Anzeichen des Wiedererkennens. »Oder haben sie dir nichts von den Ungebändigten erzählt?«
Svetlana erwies sich als schlechte Lügnerin. »Ich erinnere mich nicht.«
»Dann werde ich es tun. Es handelt sich um feindselige Intelligenzen, die viel schlimmer als die Moschushunde sind. Sie haben bereits eine Zivilisation ausgelöscht, die mindestens so fortgeschritten und intelligent war wie wir. Und jetzt sind sie auf dem Weg zu uns. Wenn die Moschushunde ein Loch in die Wand sprengen, werden auch die Ungebändigten es zur Flucht nutzen. Niemand kann sagen, welchen Schaden sie anrichten, bevor sie verschwinden, nur um dafür zu sorgen, dass ihnen niemand folgt.«
Bella sah, dass ihre Worte zum Teil durchdrangen. In Svetlanas Maske tat sich ein winziger Riss des Zweifels auf.
»Was geschehen ist, ist geschehen«, sagte Svetlana. »Wenn die Moschushunde die Tore offen gelassen haben, war der Schaden schon angerichtet, bevor ich mit ihnen gesprochen habe.«
»Aber du könntest jetzt noch etwas retten«, drängte Bella. »Ich bereite die Evakuierung vor, aber es besteht die Chance, dass wir Janus vielleicht doch nicht verlassen müssen. Geh noch einmal zu den Moschushunden. Sag ihnen, dass die Vereinbarungen nichtig sind. Sag ihnen, dass sie mit ihrer verdammten Maschine von Janus verschwinden und uns in Ruhe lassen sollen. Sag ihnen, dass sie abziehen und hinter sich die Tür zumachen sollen.«
Über die Schiffsnetzverbindung sah Svetlana sie mit einer Arglist an, die Bella das Blut in den Adern gefrieren ließ. »Das müssen sie gar nicht«, sagte sie. »Ich besitze die Mittel, einen Schlüssel herzustellen.«
Bella erinnerte sich an die technischen Möglichkeiten der Flüsterer. »Etwas, das die Moschushunde dir gegeben haben?«
»Ein Teil der Verhandlungsmasse«, stellte Svetlana richtig. »Ich besitze das entsprechende Schmiedekesselprogramm.«
»Stellst du ihn her?«
»Nein, noch nicht. Zuerst werden wir uns um andere Dinge kümmern.«
»Du kannst den Dateien nicht trauen. Die Moschushunde gehen nicht davon aus, weitere Geschäfte mit dir abzuschließen. Es könnte sonst was sein.«
»Das Risiko gehe ich ein.«
»Selbst wenn das Programm funktioniert, versuchst du gerade, in einem Schmiedekessel etwas herzustellen, das wir nicht einmal ansatzweise verstehen. Macht dich das keinen Augenblick lang nachdenklich?«
»Also willst du den Schlüssel nicht haben?«
»Natürlich will ich ihn haben«, sagte Bella eindringlich, »aber ich möchte die Gewissheit haben, dass es kein Trick ist.«
»Wie willst du das herausfinden?«
»Wang ist gut. Seit achtundvierzig Jahren hat er nichts anderes getan als zu essen und von Schmiedekesselprogrammen zu träumen.«
»Also soll ich dir den Schlüssel einfach so geben?«
»Ich bitte dich inständig darum, Svetlana.«
»Du hast nicht mit den Moschushunden gesprochen. Du hast nicht die leiseste Ahnung, was du damit anstellen sollst.«
»Jim kann es mir zeigen. Er weiß es bestimmt. In der Zwischenzeit musst du den Moschushunden nur sagen, dass die Vereinbarungen aufgehoben sind.«
»Und was dann?«
»Dann reden wir miteinander.«
»Das reicht mir nicht. Ich will Garantien, angefangen mit deinem Rücktritt und Parrys sofortiger Freilassung.«
»Du kannst einfach nicht damit aufhören, wie?«
»Ich habe dir einen wichtigen Trumpf in die Hand gespielt, als ich Jim von den Toten zurückgeholt habe, Bella. Dadurch habe ich Crabtree verloren. Ich mache ihm deswegen keinen Vorwurf … ich mache deswegen nicht einmal dir einen Vorwurf. Aber diese Sache will ich mir nicht durch die Finger gehen lassen. Wenn dir der Schlüssel so viel bedeutet, wirst du tun, was nötig ist.«
Bella nickte und akzeptierte, dass es so geschehen musste. Sie spürte bereits, wie ihr fünfunddreißig Jahre Herrschaft entglitten, und ihr war klar, dass nichts davon eine Rolle spielte, wenn es um die Rettung ihrer Leute ging.
»Sie kommen, Svieta. Was auch immer du mit mir tun willst, entscheide dich schnell. Wir müssen anfangen, den Schlüssel herzustellen. Wenigstens kommen wir dadurch aus dieser Kammer raus, bevor Janus in die Luft fliegt.«
»Wirst du zurücktreten?«
»Alles, was du willst. Hauptsache, du gibst mir die Datei.«
Svetlana schien ihre Möglichkeiten schon vor dem Gespräch abgewogen zu haben, denn sie antwortete sehr schnell und mit einer Sicherheit, die keinen Verhandlungsspielraum ließ. »Ich werde mit der Magnetbahn nach Crabtree fahren. Ich trage einen Anzug und ich habe die Datei bei mir. Du wirst nichts tun, was ich als Bedrohung auffassen könnte. Wenn du es doch tust, wirst du den Schlüssel verlieren.«
»Ich verstehe«, sagte Bella. »Wann kann ich dich erwarten?«
Svetlana blickte auf die Uhr. »Jetzt ist es zehn. Ich brauche etwas mehr als eine Stunde, um mich vorzubereiten, dann werde ich den Zug nehmen. Wir könnten dreißig Minuten später in Crabtree sein. Also um Mittag?«
»Mittag klingt gut«, sagte Bella.
Etwas kam aus einer leeren Seite des Würfels hervor. Es brach durch die glatte Oberfläche, als würde es durch einen Vorhang aus dichtem schwarzem Regen treten, und blieb dann stehen. Es war humanoid und nur ein wenig größer als ein Mensch. Die glänzenden, scharfkantigen Flächen seines pechschwarzen Panzers erinnerten an eine eng anliegende Kampfrüstung. Es hatte keinen Kopf, sondern nur etwas, das wie eine bösartig wirkende Axt aussah. Es war zu flach, um einen menschlichen Schädel enthalten zu können. Statt Händen besaß es gezähnte Degen, die tödlich dünn waren.
Bella wagte es kaum, etwas zu sagen. »Was ist das?«
»Eine Institution der staatlichen Gewalt«, sagte Chromis. »Wir bezeichnen sie als Vögte. Sie vollstrecken politische Entscheidungen des Kongresses, wenn sie der Vollstreckung bedürfen. Was zum Glück nicht sehr oft geschieht.«
»Es ist eine Maschine.«
Chromis nickte. »Kaum mehr als eine hohle Schale aus Femtotechnik. Die gesamte Intelligenz steckt in ein paar Millimetern Haut.«
»Wozu ist es fähig?«
»Zu allem. Ein Vogt kann die Form jedes Vollstreckungswerkzeugs annehmen, zu jedem gesetzlich erlaubten Zweck.«
»Was könnte er gegen Neustadt unternehmen, wenn ich ihn hinschicken würde?« Bella hatte Chromis bereits über die kritische Lage informiert.
»Nach einiger Zeit«, antwortete Chromis, »würde es Neustadt nicht mehr geben. Aber ein Vogt hat nur begrenzte Kapazitäten. Er kann sich nicht vervielfältigen. Es ist ihm verboten, Materie aus der Umgebung zu verwerten, außer zur Selbstreparatur. Aber der Würfel kann viele Vögte herstellen. Die Einheit hat eine Masse von nur fünfzig Kilogramm. Der Würfel könnte ein Regiment aus eintausend Vögten produzieren, ohne dass seine Masse um mehr als ein Viertel abnimmt. Damit wären sie bereits zahlreicher als die gesamte menschliche Bevölkerung auf Janus. Wenn das noch nicht genügt, könnte ich den Notfall erklären und dem Würfel befehlen, seine gesamte Masse in Vögte umzuwandeln. Dann wären es viertausend.«
Bella sah den Würfel an. »Was würde mit dir geschehen, Chromis?«
»Meine Existenz würde von den Vögten aufrechterhalten werden, bis sie in den Würfel zurückkehren. Ich würde keinen Unterschied bemerken, vorausgesetzt, es kommen nicht allzu viele Vögte zu Schaden.«
»Wie könnte einer von ihnen jemals zu Schaden kommen?«
»Wahrscheinlich wird es nicht geschehen, jedenfalls nicht hier. Vorausgesetzt, wir agieren schnell, bevor Svetlana von den Moschushunden Waffen erhält, die den Vögten Schwierigkeiten machen könnten.« Chromis hielt kurz inne. »Aber du brauchst dir keine Sorgen um mich zu machen. Ich bin widerstandsfähiger, als du dir vorstellen kannst. Andernfalls hätte ich nicht diese lange Zeit überdauert.«
»Ich bin froh, dass du mich gefunden hast, Chromis, ganz gleich, wie lange es gedauert hat.«
»Darüber bin ich ebenfalls froh«, sagte die Politikerin. »Ich wünschte mir nur, es gäbe eine Möglichkeit, eine Botschaft zu den widerspenstigen Narren zurückzuschicken, die das Jubiläumsprojekt beinahe blockiert hätten. Es wären nicht genügend Mittel vorhanden, sagten sie. Eine sinnlose Geste, die von vornherein zur Erfolglosigkeit verurteilt war. Man müsste die Gürtel enger schnallen. Vielleicht in weiteren zehntausend Jahren. Stattdessen sollte man lieber ein Denkmal oder eine öffentliche Institution errichten. Oder einen hübschen Springbrunnen bauen.« Chromis gab ihrer Verachtung mit einem Schnaufen Ausdruck. »Als hätte mich das jemals von meinem Ziel abgebracht!«
»Es war richtig von dir, Druck zu machen.«
»Nicht wahr?«
Axford hustete wie ein kleiner Junge. »Wirst du mir sagen, was das für ein Ding ist, Bella, oder muss ich zwanzigmal raten?«
»Es ist ein Werkzeug«, sagte Bella. »Ein Roboter. Chromis sagt, dass sich Neustadt damit befrieden und wieder unter unsere Kontrolle bringen lässt. Es besteht eine gute Chance, den Schlüssel durch Gewalt in unseren Besitz zu bringen, wenn Svetlana die Datei bereits in den Schmiedekessel geladen hat.«
»Nur dieser eine Roboter?«
»Chromis kann jederzeit mehr herstellen.«
»Wie viele?«
»Sehr viele.«
»Gut. Dann sollten wir ihn losschicken, bevor die Situation noch schlimmer wird. Wir wissen, dass sie einen Schmiedekessel hat, und wir können uns ziemlich sicher sein, dass sie darin etwas Unangenehmes zusammenbraut.«
Bella sah wieder Chromis an. »Wie lange würde es dauern, bis dieses Ding in Neustadt eingetroffen ist? Sie dürfte in weniger als einer Stunde mit der Magnetbahn hier sein.«
Bella spürte einen Luftzug an der Wange. Der Vogt war zur anderen Seite des Raumes gesprungen, ohne dass erkennbar war, ob er den Zwischenraum durchquert hatte.
»Vögte benötigen normalerweise das Überraschungselement, um für eine wirksame Befriedung zu sorgen«, erklärte Chromis. »Er wechselt seine Form, um sich von einem Punkt zum anderen zu bewegen, wie Wasser, das man von einem Glas in ein anderes gießt. Im Vakuum ist er sogar noch schneller. Er könnte in fünf Minuten in Neustadt sein, wenn du es wünschst.«
Als Bella entsetzt daran dachte, was sie zu tun im Begriff stand, wurde ihr übel. »Wie würde er … vorgehen?«
»Er kann betäuben oder kampfunfähig machen«, sagte Chromis. »Wenn er auf keinen nennenswerten Widerstand trifft, muss es keine Todesopfer geben.«
»Aber er wird auf Widerstand treffen. Sie erwarten bereits eine polizeiliche Aktion. Sie werden keine Waffen besitzen – noch nicht –, aber Bohrer, Schneidwerkzeuge, Bergbauschutzanzüge …«
»Dann könnte es zu Todesopfern kommen. Vögte wissen, dass sie im Fall von Widerstand lieber eine geringe Anzahl von Toten in Kauf nehmen sollten, bevor es viel mehr Tote und Verletzte durch verirrte Schüsse gibt. Aber sie würden niemals unnütz töten.«
Bella wandte sich an Axford. »Er kann Neustadt einnehmen, aber es wird mit ziemlicher Sicherheit Tote geben.«
»Es wird viele Tote geben, wenn Svetlana gegen Crabtree aktiv wird«, sagte Axford. »Selbst wenn du ihr gibst, was sie will, selbst wenn du ihr im Austausch gegen den Schlüssel das Verwaltungshabitat überlässt, wird es immer noch Menschen geben, die es nicht einfach so hinnehmen werden. Sie sind dir gegenüber loyal, Bella. Sie werden sich nicht kampflos ergeben, auch wenn Svetlana vielleicht etwas anderes glaubt.«
»Ich würde lieber kapitulieren, als zu erleben, wie weiteres Blut vergossen wird.«
Chromis unterbrach sie behutsam. »Deine Hauptsorge ist nicht die politische Kontrolle über Crabtree, Bella, sondern der Zugang zur Schlüsseldatei. Dann musst du alle anderen Baupläne der Moschushunde vernichten, bevor sie Schaden anrichten können.«
»Ich weiß. Es ist nur so …« Wütend und traurig zugleich schüttelte sie den Kopf. »Wie konnten sich die Dinge nur so schnell verschlechtern? Es scheint erst gestern gewesen zu sein, als Svetlana und ich gemeinsam im Arboretum saßen und die Vergangenheit zu den Akten gelegt haben. Jetzt frage ich mich, wie viele von ihren Leuten ich zu töten bereit bin!«
»Du hast die Probleme nicht zu verantworten«, sagte Chromis. »Sie ist zu den Moschushunden gegangen, nicht du.«
»Du kannst mir nicht sagen, was ich tun soll, nicht wahr? Trotz deiner großen Weisheit, trotz der vielen tausend Jahre, die du mir voraus bist, kannst und willst du es nicht tun.«
»Es tut mir leid«, sagte Chromis. »Ich hoffe, ich war dir eine gute Freundin, wenn auch nur für eine kurze Zeitspanne. Aber ich kann dich nicht bevormunden. Du bist der Captain, Bella Lind. Es ist deine Entscheidung.«
Bella kehrte in ihr Büro zurück, um für ein paar Minuten in Ruhe bei ihren Fischen zu sein, bevor sie sich mit Svetlana auseinandersetzen musste. Im Büro, hinter der verschlossenen Tür, konnte sie so tun, als gäbe es gar keine Krise, und für einen Moment gönnte sie sich diesen Trost.
Dann klopfte Nick Thale an die Tür und trat ein, ohne auf ihre Erlaubnis zu warten.
»Ich hoffe, es dauert nicht allzu lange.« Sie wusste, dass der Zug bereits von Neustadt losgefahren war, und sie wusste, dass Thale ihr die Unhöflichkeit verzeihen würde.
Wortlos reichte er ihr einen Flextop. Bella las, was auf dem Bildschirm stand, dann blickte sie in sein Gesicht eines alten Mannes.
»Ich verstehe nicht. Warum zeigst du mir Lavastraßen?«
»Ich zeige dir Verkehrsmuster«, sagte Thale mit einem leichten Unterton des Tadels. »Siehst du, wie sich die Aktivität in den letzten drei Stunden verstärkt hat? Auf den Straßen ist mehr los als während der Zeit, als der Himmel errichtet wurde.«
Bella wollte gerade etwas sagen, als Thale mit einem Finger auf den Bildschirm tippte und eine neue Darstellung aufrief. »Hier sind seismische Daten«, sagte er. »Und hier ist ein Diagramm mit den Schwankungen in den Schwerkraftfeldern an den Hauptkreuzungen. Jeder Parameter, den wir messen können, schießt um das Fünf- bis Sechsfache über die normalen Werte hinaus.« Nach einer kurzen Pause fügte er ernst hinzu: »Wenn Janus ein Gehirn wäre, das wir mit einem Tomografen untersuchen, würde ich sagen, dass wir es mit einem epileptischen Anfall zu tun haben.«
Als Angehöriger des inneren Zirkels und Mitarbeiter an den Vorbereitungen für die Evakuierung kannte Thale alle wichtigen Einzelheiten über die Moschushunde und ihre Pläne mit Janus. »Du glaubst also, dass es losgeht?«, fragte Bella misstrauisch.
»Auf jeden Fall geschieht etwas. Entweder glaubst du an den Zufall, oder du schließt daraus, dass es etwas mit dem Ding zu tun hat, das Svieta mitgebracht hat.«
Bella schloss die Augen und wünschte sich, die Welt würde verschwinden. Aber die Welt war nicht bereit, ihr diesen Gefallen zu tun.
Sie öffnete die Augen, um sich einer Realität zu stellen, die auf hartnäckige Weise präsent blieb. »Die Moschushunde haben mit dem Countdown begonnen. Es wird Zeit, sich von Janus zu verabschieden, Nick.«