Achtzehn
Es geschah ohne Vorwarnung, fast vierhundert Tage nachdem sich der Himmel über Janus geschlossen hatte.
Seismische Monitore, die in konzentrischen Ringen rund um Crabtree installiert waren, um Anzeichen eines Aufbrechens der Eiskappe zu registrieren, registrierten einen einzelnen heftigen Stoß. Die Auswertung der Daten ergab, dass die seismische Störung ihren Ursprung in einem sehr kleinen Bereich der Eiskappe hatte, der etwa einhundert Kilometer südlich von Crabtree lag. Nachdem der Hammerschlag verklungen war – es war, als würde die Eiskappe wie ein Trommelfell vibrieren –, wurde es wieder ruhig. Es gab keine Nachbeben oder weitere Bewegungen.
Auch wenn sie das Ereignis nicht als unbedeutend abtun wollte, zögerte Svetlana noch, ein Beiboot loszuschicken, um die Zone zu erkunden. Der Vorrat an Treibstoff und Ersatzteilen schrumpfte zusehends, und obwohl Wang in letzter Zeit immer besser darin geworden war, mit seinen Schmiedekesseln kleine Wunder zu produzieren, stellten komplexe Raumschiffbauteile weiterhin eine große Herausforderung dar. Also ließ Svetlana drei Traktoren hinausfahren, die zwanzig Kilometer weit einem supraleitenden Kabel folgten, bevor sie scharf nach Süden abbogen. Die Fahrzeuge entfernten sich so weit voneinander, dass gerade noch ihre Positionslichter zu erkennen waren, und unternahmen verschiedene vorsichtige Vorstöße in die Bebenzone. Aber sie fanden nichts. Außerdem kamen sie auf dem Gelände nur schwer voran. Als eine Maschine einen Reifenschaden erlitt, befahl Svetlana die Rückkehr, solange sie sich noch gegenseitig unterstützen konnten. Danach ordnete sie den Einsatz eines Flugroboters an, doch dessen Kamera war darauf geeicht, nach Beschädigungen an einem Raumschiff zu suchen. Mit der Erkundung einer großen Eisfläche bei hoher Auflösung war die Maschine überfordert. Außerdem hatte sie nicht genug Energie, um den Boden angemessen auszuleuchten. Der Roboter flog lediglich im Zickzack hin und her, bis ihm der Treibstoff ausging.
Ein Tag verging, während Svetlana über das Rätsel nachgrübelte. Sollte sie es jetzt riskieren, ein Beiboot auf den Weg zu schicken? Oder einen erneuten Vorstoß mit Traktoren unternehmen? Jeder Einsatz außerhalb von Crabtree war mit möglichen Gefahren verbunden. Janus war schwer einzuschätzen, und der Hammerschlag konnte lediglich bedeuten, dass tief im Innern der Maschinerie irgendetwas geschehen war, auch wenn die Umstände eher auf ein Ereignis in Oberflächennähe hindeuteten. Schon in der Nacht davor war lautes Gerumpel zu hören gewesen, und die Menschen hatten inzwischen gelernt, sich von solchen Dingen nicht beunruhigen zu lassen. Schon gar nicht, wenn es hundert andere Dinge gab, die wesentlich mehr Aufmerksamkeit erforderten.
Doch dann – wie es häufig geschah – schob sich eine andere Angelegenheit in den Vordergrund. Im Grunde waren es verschiedene Angelegenheiten auf einmal. Nick Thale und die Lind-Anhänger forderten erneut Konzessionen. Die Symbolisten verbreiteten Unruhe im Schlund. Und es schwappten neue Gerüchte über den Tod von Meredith Bagley an die Oberfläche. War es wirklich ein Unfall gewesen, oder hatte jemand den Motor der Zentrifuge eingeschaltet, während sie sich tief in den technischen Innereien aufgehalten hatte? Gelegentlich breitete sich eine ungewohnte Kälte zwischen ihr und Parry aus, wenn er sie ansah, als wäre sie jemand, den er kaum kannte, von Liebe ganz zu schweigen. Diese Momente gingen jedes Mal vorbei, aber während dieser Aussetzer in ihrer Partnerschaft rutschte sie in eine neurotische Spirale der Selbstkritik ab. Parry war ein guter Mann, ein ehrlicher Mann. Wenn er ein Problem mit ihr hatte, musste es einen triftigen Grund geben. Vielleicht hatte sie bei manchen Dingen einen zu rigiden Standpunkt eingenommen. Andererseits stand Parry nie vor der Aufgabe, wirklich schwierige Entscheidungen selbst zu treffen. Er glaubte zu wissen, was sie durchmachte, wie viel die Verantwortung ihr abverlangte, aber in Wirklichkeit konnte er es sich nicht vorstellen. Er half ihr bei der Entscheidungsfindung, aber Svetlana musste die Entscheidungen treffen. Sie hatte nie beobachtet, wie Parry um drei Uhr morgens wach lag und sein Geist wie ein sechzig Jahre alter Traktor mit blockiertem Getriebe heißlief.
Also verdrängte sie die seismische Erschütterung in den Hintergrund.
Acht Tage später wurde sie wieder daran erinnert.
Es gab Meldungen über Aktivitäten auf Janus. Für sich genommen war das nichts Ungewöhnliches, und normalerweise hätte deswegen niemand Alarm geschlagen. Seit dreizehn Jahren hatten die Menschen auf Janus immer wieder unerklärliche Dinge beobachtet. Wenn man sich eine einsame Fahrt draußen auf dem Eis zwischen zwei Außenposten vorstellte, war der Grund leicht zu verstehen. Die Gläubigen sahen Leuchtwesen, fremdartige Gestalten, die durchaus Engel oder Geister sein mochten, die mit beruhigenden Botschaften von geliebten Menschen kamen, die sie auf der Erde zurückgelassen hatten. Die etwas ausgeflippteren Unterwasserfanatiker neigten dazu, Wale oder Delfine in Aliengestalt zu sehen. Die Fans von Cosmic Avenger beschrieben Außerirdische, die exakt dem einfallslosen humanoiden Grundmuster der Fernsehserie für Intelligenzwesen entsprachen. Gelegentlich gab es etwas seltsamere Berichte, aber es war nichts dabei, was Svetlana als Beweis für tatsächliche Kontakte einschätzte. Natürlich mochte Janus noch einige Überraschungen für sie bereithalten, aber in den vergangenen dreizehn Jahren war sie zur Überzeugung gelangt, dass der ehemalige Mond nicht mehr als ein automatischer Mechanismus war.
Andererseits ging es in den neuesten Berichten nicht um außerirdische Wesen als solche, sondern um fremdartige Dinge. Es war dieser Unterschied, der sie dazu bewegte, sich der Sache etwas gründlicher zu widmen. Überall auf Janus, vom Schlund über Neustadt bis nach Crabtree wurden von ansonsten zuverlässigen Leuten Dinge gesichtet. Maschinen, wie es schien. Die sich zumeist schnell und flüchtig bewegten und von flüssiger oder glasiger Erscheinung waren. Sie waren plötzlich da, spionierten einen Generator, eine Batterie oder eine Kabelverbindung aus, und verschwanden dann wieder in der Nacht, genauso schnell, wie sie gekommen waren. Bisher hatte keine aktive Kamera mehr als ein paar verwaschene Flecken aufgenommen. Wäre nicht die große Zahl der Zeugen und die Zuverlässigkeit ihrer Aussagen gewesen, hätte Svetlana die Bilder nicht weiter beachtet. Außerdem war da noch die Sache mit dem Hammerschlag. Mehr als einmal waren die Wesenheiten offenbar aus dem Gebiet gekommen, in dem sich das Beben ereignet hatte.
Irgendetwas ging vor sich.
Sie schickte einen weiteren Erkundungstrupp mit Traktoren hinaus, diesmal sechs Stück, aber auch sie fanden nichts. Schließlich beauftragte sie die Star Crusader, in der Hoffnung, dass das Beiboot aus größerer Höhe und im Widerschein des Triebwerks etwas entdeckte, das bei den bisherigen Exkursionen übersehen worden war.
Ihre Hoffnung erfüllte sich.
Der Eiskrater war groß, aber sehr flach, sodass man ihn in der zerklüfteten Landschaft leicht übersehen konnte. Eine Traktorspur verlief nur wenige Meter neben dem Kraterwall. Mitten in der Vertiefung lag eine schwarze Scheibe, wie eine überdimensionale Münze. Die Kante reflektierte das Licht, als wäre sie auf Hochglanz poliert worden.
Die Crusader landete. Parry und Naohiro Uguru gingen in Orlans nach draußen. Sie kletterten über den Wall und stiegen dann zu dem münzenförmigen Objekt hinunter. Je näher sie kamen, desto massiver und unheilverkündender wirkte es. Vom Beiboot aus hatte es verhältnismäßig klein ausgesehen, aber auf Janus waren Größen und Entfernungen schwer zu schätzen. Aus der Nähe machte es den Eindruck unmöglicher Größe. Es war zehn Meter dick und durchmaß vielleicht sechzig. Als sie sich näherten, bewegten sich große monströs verzerrte Spiegelbilder von Parry und Naohiro auf dem Rand.
»Das muss es sein, was so viel Lärm gemacht hat«, sagte Parry.
Uguru berührte die spiegelglatte Kante mit dem Fingerknöchel, genauso wie Feuerwehrmänner ein Kabel prüften, das möglicherweise Strom führte. »Es ist kalt«, sagte er, als die von seinem Handschuh gemessenen Temperaturwerte in seinem Helmdisplay erschienen. »Kalt und glatt wie Eis. Was glaubst du, wie diese Kante so sauber gearbeitet wurde?«
»Gute Frage, Kumpel.«
Doch Parry schaute längst nach oben und legte den Kopf in den Nacken, so weit es ging. Er kramte seine elementaren trigonometrischen Kenntnisse zusammen. Wenn die Scheibe sechzig Meter durchmaß und der Eiserne Himmel zwanzig Kilometer über ihm hing, dann musste er nach einem Loch suchen, das etwa ein Drittel des scheinbaren Durchmessers des Vollmondes hatte, von der Erde aus gesehen …
Aber er konnte sich kaum noch erinnern, wie der Vollmond ausgesehen hatte.
Doch der Eiserne Himmel war völlig schwarz, und es war möglich, dass auf der anderen Seite des Loches auch nur tiefste Dunkelheit herrschte. Wenn die blaue Strahlung des Spica-Doppelsternsystems hindurchscheinen würde, hätten sie es längst entdeckt. Es hätte Janus wie eine Schweißflamme in einem dunklen Raum erhellt.
Aber sofern die Wunde im Himmel nicht von selbst verheilt war, musste es irgendwo da oben ein Loch geben. Es ging nur noch darum, es zu finden. Später würden sie sich Gedanken darüber machen, was es verursacht hatte.
»Das ist gut, nicht wahr?«, sagte Uguru. »Es bedeutet, das jemand die Blechbüchse geöffnet hat. Es bedeutet, dass jemand weiß, dass wir hier sind.«
Parry sah ihn an und erinnerte sich an ein ähnliches Gespräch mit Mike Takahashi, das vor dreizehn Jahren und zweihundertsechzig Lichtjahren stattgefunden hatte.
»Es könnte vieles bedeuten«, sagte er.
Es war schon etliche Jahre her, seit sich auf Janus so viel ereignet hatte. Zunächst lief es mit großer Trägheit ab, als müsste eine gewaltige Maschine den Widerstand von Öl und Dreck überwinden, der sich im Laufe der Zeit angesammelt hatte. Doch nachdem die Bewegung einmal eingesetzt hatte, ging es unaufhörlich weiter. Rohmaterial wurde umgeschichtet und ausgeliefert. Teams wurden geteilt und neu zusammengestellt. In Crabtree brodelten die Erwartungen und die Gerüchte. Überall hörten Svetlana und ihre Spione dasselbe: Es geschieht etwas. Männer, Frauen und Kinder sagten es und betonten es so, als hätten die Ereignisse eine Ermutigung nötig, damit sie wirklich geschahen. Der Druck des Eisernen Himmels schien plötzlich nachzulassen. Niemand wollte, dass sich das Loch im Himmel wieder schloss. Es war wie das erste Licht der Dämmerung nach einer ungewöhnlich langen und finsteren Nacht.
Svetlana schickte Traktoren los, um das Stück aus dem Himmel nach Crabtree zu schaffen. Sie wollte es analysieren, zerschneiden, recyceln. Es war mehr Metall (sofern es wirklich Metall war), als sie bislang von den Lavastraßen stibitzt hatten. Doch die Bergung erwies sich als unerwartet schwierig. Die Seile rutschten immer wieder von den fast reibungslos glatten Oberflächen ab, die Traktoren fanden nicht genug Bodenhaftung, um die Scheibe aus der Vertiefung zu ziehen, die sie beim Aufprall im Eis hinterlassen hatte, und kein menschliches Werkzeug war scharf oder stark genug, um sie in handlichere Stücke zu zerschneiden. Svetlana genehmigte den Versuch, sie mit einem Beiboot aus dem Krater zu hieven, doch als auch dieses Unternehmen scheiterte, gab sie sich geschlagen. Die Scheibe würde bleiben müssen, wo sie war – zumindest vorläufig.
Inzwischen hatten sie eine kleine Siedlung aus Kuppeln und Ausrüstungsschuppen rund um den Krater aufgebaut. Irgendjemand nannte sie Underhole, und der Name blieb haften. Ein supraleitendes Kabel wurde von Crabtree ausgerollt, und eine Traktorroute ins Eis geschnitten.
Zwanzig Kilometer über Underhole gab es ebenfalls Aktivitäten. Man hatte das Loch im Himmel gefunden. Durch Messungen hatte man eine Stelle entdeckt, wo die ohnehin nahezu perfekte Absorption des Himmels hundert Prozent erreichte, da jegliche Strahlung in die Außenwelt entwich. Draußen jedoch war es nicht völlig dunkel. Im optischen wie im infraroten Bereich schimmerte das Loch etwas heller als die Umgebung. Wenn man die Augen vom Streulicht abschirmte und genau wusste, wo man suchen musste, konnte man von Underhole aus einen winzigen Kreis sehen, der nicht total schwarz war. Der Durchmesser entsprach exakt dem Stück, das zu Boden gefallen war. Der Himmel schien nicht von selbst zu verheilen.
Die Berichte über Sichtungen von Aliens ließen allmählich nach. Seit der Entdeckung des Loches war nichts beobachtet worden, was hinaus- oder hineingelangt wäre. Vielleicht hatten die außerirdischen Maschinen genug gesehen. Nach gründlicher Überlegung entschied Svetlana, dass sie einen Vorstoß wagen konnten, um nachzusehen, was sich auf der anderen Seite befand. Belinda Pagis baute alles aus einem Flugroboter aus, was nicht nötig war, und montierte dann so viele hochauflösende Kameras und Instrumente, wie die Energiezelle und die Telemetriekapazität vertragen konnte. Sie nutzte die Ausrüstung, mit der die Rockhopper früher Kometen vermessen hatte, um Nick Thale und die anderen Spezialisten mit Daten zu versorgen – weitreichendem Radar, Lidar zu Geländekartierung, supragekühlte Photonenzählerkameras mit interner Energieauflösung – Werkzeuge, die jede Information entschlüsseln konnten, die in Licht oder Materie enthalten war. Sie schraubte starke Flutlampen und noch stärkere Treibstofftanks und Reaktionstriebwerke an, um das schwere Ding manövrieren zu können.
»Gut«, sagte sie, nachdem ihr Werk vollendet war und wie eine gelb-schwarze Wespe in einem Gerüst dreißig Meter von Underhole entfernt hing. »Jetzt können wir die Zündschnur anstecken und das Gaspedal durchtreten.«
Pagis programmierte einen Vektor für den Flugroboter und startete die Düsen. Die Maschine hob vom Boden ab und flog dem Loch entgegen. Zwanzig Kilometer über Underhole übernahm Pagis den Joystick und ließ den Roboter langsamer werden, bis er fast auf der Stelle schwebte. Er schnüffelte eine Weile unter dem Loch herum und zeichnete das Gegenstück zur Scheibe auf, die unten am Boden lag. Die Ermittlung des Durchmessers bestätigte, dass sie offenbar mit etwas sehr Feinem herausgeschnitten worden war, denn es gab keinen messbaren Unterschied in der Größe des Lochs und der herausgefallenen Scheibe. Vielleicht hatte das Werkzeug einfach nur die atomaren Bindungen überzeugt, sich entlang einer exakten Geraden aufzulösen.
Pagis kippte den Flugroboter, sodass die vordere Kamera durch das Loch nach draußen sah. Svetlana und Parry drängten sich um die spärliche Ansammlung von Flextops, die sie zusammengeklaubt hatten. Kratzer und tote Hexel verunstalteten die Darstellung, während die kränkelnde Gelware sich abmühte, die Telemetriedaten zu verarbeiten. Es war nicht viel zu sehen – nur eine Leere, die vom Falschfarbendisplay in Orange dargestellt wurde, wie der Himmel über einer Großstadt, der matt von Natriumdampflampen erhellt wurde. Diagramme rahmten den Bildteil ein und zeigten ständig neue Zahlen. Früher einmal hätten sie für Svetlana eine Bedeutung gehabt, aber nun spürte sie nicht mehr als ein schwaches Kribbeln der Erinnerung. Der mühelose Umgang mit Mathematik, vor allem auf technischen oder physikalischen Gebieten, war eine Fähigkeit, die sich schnell verlor, wenn sie nicht ständig ausgeübt wurde.
In dreizehn Jahren hatte sie sehr viel verloren. Nun blieb ihr nichts anderes übrig, als sich durchzumogeln und zu hoffen, dass Pagis und ihresgleichen nicht bemerkten, wie gewaltig ihre Defizite waren.
»Ist auf dem Radar etwas zu sehen?«, fragte Svetlana.
»Bin mir nicht sicher«, sagte Pagis, die auf einer Haarsträhne kaute. »Etwas erzeugt ein Echo, aber ich weiß nicht genau, ob ich glauben soll, was ich sehe.«
»Könnte Streustrahlung vom Rand des Loches sein«, sagte Parry. »Davon haben wir eine Menge …«
»Ist keine Streustrahlung«, widersprach Pagis. »Dazu ist es zu weit draußen. Und auch zu schwach. Könnte ein logisches Phantom sein, etwas, das sich im überfüllten Puffer austobt … aber das glaube ich nicht.«
»Wie weit draußen?«, fragte Svetlana.
»Achtzigtausend Kilometer – etwas mehr als eine viertel Lichtsekunde.«
Früher hätte Svetlana über eine so geringe Entfernung gelacht. Im Verhältnis zum Operationsradius der Rockhopper, der sich in Lichtstunden bemaß, war es ein Katzensprung. Aber seit dreizehn Jahren hatte ihre Welt einen Durchmesser von zweihundert Kilometern, und ihr Geist hatte sich daran gewöhnt, Dinge in diesem Maßstab zu betrachten. Jetzt musste sie sich anstrengen, um sich mental wieder auf das größere Universum außerhalb des Eisernen Himmels einzustellen.
»Wir müssen sehen, was es ist«, sagte Svetlana. »Bring uns durch. Vielleicht sehen wir auf der anderen Seite mehr.«
Pagis blickte sich über die Schulter um. »Bist du dir sicher?«
»Bring uns durch.«
Paris bewegte den Joystick und ließ den Flugroboter durch das Loch steigen. Der silbrige Rand reflektierte die Scheinwerfer der Maschine, dann war sie plötzlich hindurch und draußen.
»Halt bei hundert Metern an«, sagte Svetlana.
Pagis nickte und hob die Fahrt des Flugroboters wieder auf, bis er auf einem dünnen Schubstrahl in der Schwebe hing.
»Dreh ihn. Wir wollen uns das Loch von außen ansehen.«
Abgesehen von der heruntergefallenen Scheibe war dies ihr erster Blick auf die Außenseite des Eisernen Himmels. Im ersten Moment schien daran nichts Überraschendes zu sein. Von außen war das Material genauso glatt und schwarz wie von innen, zumindest so weit es im Licht der Scheinwerfer des Flugroboters zu erkennen war. Die Hülle erstreckte sich in alle Richtungen, aber hier schien von ihr ein düsterer Glanz auszugehen.
»Das Reflexionsvermögen ist ein klein wenig größer als auf der Innenseite«, bemerkte Pagis. »Aber das ist auch schon der einzige Unterschied. Ich glaube, ich kann im Hintergrund bereits die Krümmung erkennen. Wir können sie kartieren, wenn du möchtest. Der Flugroboter hat genug Treibstoff für ein paar Umrundungen.«
»Wir würden den Kontakt verlieren, wenn er unter den Horizont abtaucht, nicht wahr?«, sagte Parry.
»Höchstwahrscheinlich. Aber der Autopilot müsste den Rückweg finden, vorausgesetzt, der Trägheitskompass funktioniert.«
»Ich möchte zuerst wissen, wo wir eigentlich sind«, sagte Svetlana. »Siehst du immer noch dieses Echo auf achtzigtausend Kilometern?«
»Es ist noch da«, bestätigte Pagis, »obwohl das nur ein Teil ist. Seit wir das Loch verlassen haben, sehe ich mehrere unterschiedliche Rückkehrzeiten. Es gibt reflektierende Oberflächen, die viel weiter als achtzigtausend Kilometer entfernt sind – aber die Signale sind deutlich schwächer.«
»Wie weit genau?«
»Mehrere hunderttausend Kilometer. Es geht in den Bereich von Lichtsekunden.«
»Schwenk die Kamera. Vielleicht sehen wir jetzt mehr, nachdem wir ein weiteres Blickfeld haben.«
»Schon dabei«, erwiderte Pagis mit einer Spur von Gereiztheit, als müsste man ihr so etwas nicht ausdrücklich sagen. Svetlana riss sich zusammen – offenbar übertrieb sie es.
»He!«, sagte Parry. »Das sieht aus wie … etwas.«
»Genauso sieht es aus«, stimmte Pagis ihm zu.
Etwas schob sich ins Bild, als der Flugroboter seinen Blickwinkel veränderte. Der strukturlose orangefarbene Hintergrund war immer noch da, aber nun tauchte auf einer Seite eine wellenförmige Linie auf, als hätte sich ein menschliches Haar in der Optik verfangen.
»Kannst du das heranzoomen?«, fragte Svetlana.
»Tut mir leid. Hatte keine Zeit, eine Zoomplattform einzubauen.«
Svetlana nickte. Ihr war klar, wie sehr Pagis beim Zusammenbau des Flugroboters unter Druck gestanden hatte. Es war ein Wunder, dass sie überhaupt Bilder hereinbekamen. »Kannst du dich zurückziehen, das Sichtfeld erweitern?«
»Auch daraus wird nichts. Aber wir können einen Rasterscan von der gesamten Umgebung machen. Wir tasten die Szene streifenweise ab und setzen das Bild im Flextopspeicher zusammen. Aber das dürfte eine Weile dauern. Und wir werden dabei verdammt viel Treibstoff verbrennen.«
»Mach es – auch wenn wir nicht mehr genug übrig haben, um in einen Orbit einzuschwenken. Das können wir später nachholen. Im Augenblick wüsste ich wirklich gerne, wo wir sind.«
In letzter Zeit neigten die Dinge auf Janus dazu, länger als erwartet zu dauern, selbst dann, wenn man diesen Trend bereits berücksichtigte. Die einfache Aufgabe, den Rasterscan zu erstellen und die Elemente zusammenzufügen, um ein Mosaik zu erhalten, hätte eigentlich ein Kinderspiel sein müssen. Aber die noch übrigen Flextops besaßen nicht mehr genug Gesamtspeicher, um die Bildbearbeitung ohne ein paar geschickte Algorithmen durchzuführen, die Pagis’ Erfindungsreichtum auf eine harte Probe stellten.
Svetlana unterließ es tunlichst, sie unter Druck zu setzen und ihr die ganze Zeit über die Schulter zu schauen. Stattdessen nahm sie einen Traktor und fuhr auf der neuen Straße zurück nach Crabtree. Sie genoss das geistlose Vergnügen, einfach nur zu fahren, hypnotisiert vom endlosen Kabel, das sie durch die Eislandschaft führte.
An diesem Nachmittag war Emily gerade aus der Schule gekommen, sodass sie ihre Tochter zu Wang Zhanmin mitnahm, der ihr beim letzten Besuch ein Schaukelpferd versprochen hatte (woran Emily sich bestens erinnerte). Svetlana rechnete fast damit, dass er es vergessen hatte, aber es war tatsächlich fertig und in hellroter Farbe gestrichen, als sie eintrafen. Die Herstellung von Holz – beziehungsweise einem Material mit sehr ähnlichen Eigenschaften – war eine der jüngsten Errungenschaften von Wang gewesen, worauf er ausgesprochen stolz war. In den letzten Monaten hatten die Kessel Teile für hölzerne Möbel, Ornamente und Spielzeug schneller ausgespuckt, als Crabtree sie verbrauchen konnte. Das Labor quoll über mit seinen neusten Kreationen.
»Das habe ich für dich gemacht«, sagte Emily und reichte Wang eine Pappröhre.
Wang öffnete das Ende der Röhre und zog ein zusammengerolltes Blatt Papier heraus. Svetlana schaute ihm über die Schulter. Es war eine Zeichnung von Fischen, die zwischen Steinen und Tangwedeln herumschwammen. Das Bild war mit einer kindlichen Begeisterung für grelle, knallige Farben ausgeführt, aber es wies auch schon eine erwachsene Pingeligkeit auf, die Farben nicht ineinander verlaufen zu lassen. Das Meer war ein sattes, fröhliches Türkis, und die gestreiften und gesprenkelten Fische schienen dem Betrachter ein paar Zentimeter näher zu sein, als wären sie vor dem Hintergrund auf eine Glasscheibe gemalt.
»Vielen Dank«, sagte Wang und hielt das Bild ins Licht, sodass das Papier wie Buntglas strahlte. »Alles ist gut, was diesen Raum freundlicher macht.« Er sah Svetlana an und sagte flüsternd: »Wir können Gott für die Kinder danken.«
»Das höre ich in letzter Zeit häufiger«, erwiderte sie genauso leise.
»Ich dachte, es würde dich glücklich machen«, sagte Emily.
»Das tut es.« Er schaute sich noch einmal das Bild an, das er wie eine Schriftrolle zwischen den Händen hielt. »Es ist sehr hübsch. Hübsch und ein wenig traurig, aber auf schöne Weise. Gefällt dir dein Schaukelpferd?«
»Ja, danke.«
»Ich werde dir ein anderes machen, wenn du größer bist, aber dieser Bursche müsste deinen Ansprüchen vorläufig genügen.«
»Das ist sehr freundlich von dir, Onkel Wang«, sagte Svetlana.
»Ich bin froh, dass ich überhaupt etwas machen kann«, erwiderte er mit einem Achselzucken.
Sie lächelte und wandte den Blick ab. Sie wollte nicht auf die unausgesprochene Tatsache eingehen, dass Stühle und Schaukelpferde schön und gut waren, aber dass auch das hochwertigste Wangholz niemals die ausfallenden Flextops ersetzen konnte.
Svetlana aß etwas mit Emily, dann sprach sie über die Kommunikationsverbindung nach Underhole mit Parry. Er wollte von Emily wissen, was sie heute in der Schule durchgenommen hatten, und versprach ihr, dass sie sich bald sehen würden. Parry setzte eine tapfere Miene auf, aber Svetlana konnte in seinem Gesicht etwas erkennen, mit dem er seine Tochter nicht behelligen wollte.
Als Emily schlief, putschte Svetlana sich mit Kaffee vom Schwarzmarkt auf, ließ sich einen Orlan geben und fuhr nach Underhole zurück. Sie jagte den Traktor auf fünfzig Stundenkilometer hoch. Alle waren noch wach, als sie durch die Luftschleuse kam. Sie hatten auf sie gewartet.
»Ich glaube, wir wissen jetzt, wo wir sind«, sagte Parry mit unbehaglichem Unterton.
Pagis hatte es geschafft, die Rasterdaten zusammenzusetzen. Und sie hatte nun auch die Daten des Radars im Griff.
»Schießt los«, sagte Svetlana, während sie sich aus dem klobigen Anzug zwängte.
»Wir befinden uns innerhalb einer röhrenförmigen Struktur«, sagte Pagis und lenkte Svetlanas Aufmerksamkeit auf das Mosaikbild, das sich über die zusammengeschlossenen Flextops erstreckte. »Die Wände sind dunkel, aber sie sind von Fäden durchzogen – wellenförmige, leuchtende Spuren, die an die Lavastraßen erinnern. Ihr Strahlungsmaximum liegt bei etwa fünftausendfünfhundert Ängström, was der Grund ist, warum hier draußen alles etwas gelblich oder orange aussieht. Wir haben nicht viele Transporter beobachtet, die sich auf den Strömen bewegen, aber es scheint sich um eine ähnliche Technik zu handeln.«
»Wenn die Spicaner uns hierher gebracht haben, sollte uns das vielleicht nicht allzu sehr überraschen«, sagte Svetlana.
»Das haben wir uns auch gedacht.«
Das Rasterbild sah wie der Blick in ein Abflussrohr aus. In der Ferne nahm die Dichte der schlängelnden und ineinander verwobenen Lavastraßen perspektivisch zu.
»Das erste Echo, das ich empfangen habe, stammte von der Wand, die uns am nächsten ist«, sagte Pagis. »Der Durchmesser der Röhre beträgt etwa einhundertsechzigtausend Kilometer, was bedeutet, dass wir uns ziemlich genau in der Mitte befinden. Wir bekommen optische Daten bis zu einer Entfernung von zweihunderttausend Kilometern. Wenn wir eine bessere Kamera hätten, könnten wir tiefer in die Röhre schauen.«
»Und der Radar?«
»Die Echos reichen viel weiter. Wir empfangen Signale aus einer Entfernung von zweieinhalb Lichtsekunden. Danach werden die Echos zu schwach. Die Rückkehrzeiten ergeben kein gleichmäßiges Spektrum. Es muss Unregelmäßigkeiten in der Wandung geben, was die reflektierenden Oberflächen betrifft.«
»Und was liegt hinter dem letzten Echo?«
»Davon darf sich jeder seine eigene Vorstellung machen. Eins steht jedenfalls fest: Die Röhre ist viel länger, als wir sehen können.«
»Und in der anderen Richtung?«
»Dort ist unsere Sicht nicht so gut, da Janus im Weg ist, aber alles deutet darauf hin, dass wir dort ein ähnliches Bild sehen würden.«
Svetlana wandte sich Parry zu. »Du hast gesagt, du wüsstest, wo wir sind. Wirst du mir das große Geheimnis anvertrauen?«
»Es ist kein Geheimnis. Wir sind genau dort, wo wir nach zweihundertsechzig Lichtjahren sein müssten. Die Verzögerungsphase ist abgeschlossen. Wir sind im Spica-System.«
»Und die spicanische Struktur?«
Er lächelte sanft. »Wir sind mittendrin, Baby.«
»Wie kann …?«
»Erinnerst du dich an die Ausmaße des Gebildes? Wir hatten von Anfang an Schwierigkeiten, es uns vorzustellen. Es wirkte filigran wie ein Skelett, aber weißt du noch, was Bella gesagt hat?«
Sie musste sich zusammenreißen, als sie den Namen hörte. »Was?«
»Nur einer dieser Längssparren hätte eine innere Oberfläche von fünfzigtausend Erden. Das sind eine Million Erden für die gesamte Struktur. Ich glaube jedenfalls, dass wir uns jetzt im Innern einer dieser Sparren befinden. Oder in einem Verbindungsstück. Die Zahlen passen. Wenn es ein Längssparren ist, könnte die Röhre drei Lichtsekunden lang sein. Wenn wir zweieinhalb Lichtsekunden weit hineinschauen können, geht sie dahinter immer noch ein gutes Stück weiter.«
»Wir müssen es ganz genau wissen«, sagte sie. »Wir waren vierhundert Tage lang in den einen Käfig gesperrt. Es gefällt mir nicht, wenn wir jetzt rauskommen und schon wieder von Wänden umschlossen sind.«
»Dem stimme ich vorbehaltlos zu«, sagte Parry nachdrücklich.
»Was ist das überhaupt für ein beschissener Empfang?« Irrationale, ziellose Wut stieg wie Galle in ihr auf. »Wir sind den ganzen weiten Weg hergekommen – wir wurden den ganzen weiten Weg hergeschleift – und dann passiert nicht mehr, als dass sie ein Loch in den Himmel bohren und sich wieder verpissen.«
»Da draußen gibt es keine Anzeichen für das Vorhandensein intelligenten Lebens«, sagte Pagis zaghaft. »Wir haben kurzfristig ein seltsames Echo aufgefangen, aber es hat sich nicht wiederholt.«
Svetlana rieb sich die müden Augen. Sie war den Tränen nahe, stand kurz davor, eine Belastungsgrenze zu überschreiten, doch sie wollte nicht, dass die anderen es mitbekamen. »Was für ein Echo?«
»Ein kleines, lokal begrenztes.«
»Vielleicht eine ihrer Sonden auf dem Rückflug?«, sagte Parry.
»Glaube ich nicht«, entgegnete Pagis. »Solche Sonden hätten wir auf dem Radar sehen müssen. Das war ein dickes, fettes Echo, offenbar mit rotierender Bewegung. Dann war es wieder weg.«
Parry sah sie scharf an. »Dann ist da draußen vielleicht doch etwas.«
»Oder es war«, sagte Svetlana.
Die Öffnung des Himmels war für sie eine neue Hoffnung gewesen. Deshalb hatten sie alle so begeistert reagiert, als er offen geblieben war, dass sich dieser Schimmer einer Dämmerung als dauerhaft erwies. Aber jenseits des Eisernen Himmel lag nur ein anderer Eiserner Himmel – viel ferner, viel gewaltiger, viel unmenschlicher und viel erdrückender.
Svetlana fühlte sich niedergeschlagen. Sie wusste, dass es allen anderen genauso ging und keiner es zeigen wollte, als könnten sie durch kollektive Leugnung etwas Positives daraus machen.
»Wartet mal«, sagte Svetlana und drückte die Finger auf die Augenlider. »Ich weiß, was ihr gesehen habt. Es muss unser eigener Müll gewesen sein, die Flugroboter, die noch im Kielwasser schwammen, als der Himmel geschlossen wurde. Sie müssen die ganze Zeit da draußen gewesen sein.«
»Vielleicht hast du recht«, sagte Pagis bedrückt. »Ich hatte gehofft, dass es etwas … Aufregenderes ist.«
»Vielleicht ist es noch das Beste, worauf wir hoffen können.«
»Wir stehen immer noch ganz am Anfang«, sagte Parry und zwang sich zu einem optimistischen Unterton. »Jemand hat ein Loch in den Himmel gebohrt, und dafür muss es einen Grund geben. Nur weil wir sie nicht sofort zu Gesicht bekommen, heißt das nicht, dass sie nicht zurückkehren werden.«
»Wir können nach draußen gehen und nach ihnen suchen«, sagte Pagis unvermittelt. »Wir machen die Crusader oder Avenger bereit und schauen nach, was wirklich da draußen ist. Auf diese Weise können wir wenigstens tiefer in die Röhre schauen.«
»Auf diese Weise würden wir wenigstens nicht untätig herumsitzen«, stimmte Parry zu, »und darauf warten, dass die anderen den nächsten Zug machen.«
»Und was ist, wenn es keinen nächsten Zug gibt?«, fragte Svetlana. »Wenn sie uns aus dem einen Käfig in einen anderen gelassen haben, und das war es. Ende der Geschichte.«
»Das kann ich mir nicht vorstellen«, sagte Parry. »Wir wurden aus einem bestimmten Grund hergebracht, nicht, um für den Rest der Ewigkeit in eine Röhre eingesperrt zu werden.«
Sie sah ihn missmutig an. »Vielleicht war das der Grund.«
»Selbst gottähnliche Wesen sollten rational handeln.«
»Das kann ich nicht beurteilen«, sagte sie. »Ich kann mich nicht erinnern, jemals einem begegnet zu sein.«
Eine halbe Minute lang schwiegen sie nachdenklich. Svetlana sah sich erneut das Bild auf den Flextops an, auf dem sich weitere Geheimnisse andeuteten. Parry und Pagis hatten natürlich recht. Sie hatten dreizehn Jahre darauf gewartet, noch etwas anderes als Janus studieren zu können – einen Schlüssel zu finden, der das verräterische Verhalten des Mondes erklärte. Er hatte sie hierher gebracht und sie während des Fluges am Leben erhalten. Vielleicht war alles nur Zufall gewesen, und sie waren einfach von etwas mitgerissen worden, das gar nichts von ihrer Existenz wusste oder ihnen gleichgültig gegenüberstand.
Aber vielleicht auch nicht.
»Also gut«, sagte sie und versuchte ihre fatalistische Hoffnungslosigkeit abzuschütteln. »Wir werfen einen Blick in die Röhre. Zuerst schicken wir einen Flugroboter los und schauen mal, was daraus wird.«
Es waren keine guten Neuigkeiten.
Die Sonde traf in zwei Lichtminuten Entfernung von Janus auf das Ende der Röhre. Zuerst registrierte der Radar Echos von einer soliden Struktur, die die Röhre verschloss. Aus der Nähe zeichneten der Lidar und die optische Kamera eine kreisrunde Platte auf, die einhundertsechzigtausend Kilometer durchmaß und die ganze Breite der Röhre ausfüllte.
Zu diesem Zeitpunkt hatte der Flugroboter den größten Teil seines Treibstoffs aufgebraucht und raste mit der erreichten Geschwindigkeit auf die Wand zu. Die letzten Bilder, die kurz vor dem Aufschlag nach Crabtree übermittelt wurden, offenbarten radiale Speichen, die vom Rand zu einer kleineren radförmigen Struktur im Zentrum der Platte verliefen, die nur tausend Kilometer Durchmesser hatte. Die körnigen Bilder deuteten darauf hin, dass das radförmige Gebilde von gekrümmten Linien überzogen war, wie die Irisblende einer alten Fotokamera.
»Ein Tor«, sagte Svetlana.
Niemand sah einen Grund, ihr zu widersprechen.
Aber das Tor war verschlossen. Es sah unermesslich alt und schwer aus, wie etwas, das sich seit einer Million Jahre nicht mehr bewegt hatte. Der Flugroboter prallte gegen das Gebilde wie eine Mücke gegen einen Staudamm. Falls er einen Fleck hinterließ, war davon nichts mehr zu erkennen, als ein zweiter Flugroboter weitere Bilder lieferte.
Eine dritte Sonde war in die entgegengesetzte Richtung losgeschickt worden. Eine Lichtminute später traf sie auf eine schwarze Endplatte, die keine Anzeichen eines Schließmechanismus aufwies.
Auch sie überlebte den Aufprall nicht.
Svetlana hatte bestimmt, dass drei Flugroboter geopfert werden konnten, um möglichst schnell Daten zu sammeln, aber mehr Maschinen konnte Crabtree auf keinen Fall entbehren. Weitere Untersuchungen würden mit Maschinen durchgeführt werden müssen, die wieder zurückgeholt werden konnten. Sie würden langsamer und mit minimalem Treibstoffverbrauch fliegen. Zumindest wussten sie jetzt, dass die Röhre endlich war und es darin nichts gab, was eine unmittelbare Bedrohung darstellte. Das konnte man vermutlich als gute Neuigkeit interpretieren, dachte sie. Aber es war gleichzeitig eine schlechte Neuigkeit, weil es immer noch kein Anzeichen für ein Empfangskomitee der Aliens gab. Und das Tor sowie die gesamte Endplatte erweckten den brutalen Eindruck von etwas, das undurchdringlich dick war, sodass sie schon von einem Erfolg sprechen konnten, wenn ihre nuklearen Sprengköpfe überhaupt einen Kratzer hinterlassen würden. Sie hatten die Begrenzungen ihres neuen Gefängnisses ermittelt, und die Situation war keineswegs ermutigend.
Damit blieb noch eine weitere Neuigkeit übrig.
Sie hatten etwas gefunden, das haltlos trudelnd einen exzentrischen Orbit um Janus eingeschlagen hatte. Es handelte sich um das Objekt, das Pagis schon einmal mit dem Radar geortet hatte, aber nun stand fest, dass Svetlana sich mit ihrer Vermutung geirrt hatte. Es war keiner der Flugroboter, die im Kielwasser auf Patrouille gewesen waren, als sich der Himmel geschlossen hatte. Von diesen Maschinen fehlte nun jede Spur. Das Objekt war etwas anderes und nicht ansatzweise das, womit irgendjemand gerechnet hatte.
In gewisser Weise war es eine gute Neuigkeit, denn es war ein konkretes Zeichen, dass ihre Ankunft bemerkt worden war. Und im Gegensatz zur Öffnung des Himmels schien es eine Botschaft zu sein, die ausschließlich an sie gerichtet war.
Aber es war auch eine schlechte Neuigkeit, beunruhigend und ohne nützlichen Inhalt – und ein wenig bedrohlich.
Es war ein solider Würfel von exakt zwei Metern Seitenlänge. Er war sehr schwarz, wenn auch nicht so schwarz, dass er kein Radarecho zurückgeworfen hätte. Ein Flugroboter mit Manipulationsarmen war in der Lage, sich dem Objekt zu nähern, es zu berühren und die Trudelbewegung zu stoppen. Es hatte eine Masse von exakt zweihundert metrischen Tonnen, aber ansonsten schien es keine aktiven oder reaktiven Eigenschaften zu besitzen. Svetlana wog die Risiken ab und entschied, dass das Objekt zur genaueren Untersuchung nach Underhole gebracht werden sollte. Eine Kuppel wurde über dem Würfel aufgebaut, anfangs ohne Atmosphäre. Nachdem die ersten Testreihen ergeben hatten, dass der Würfel wahrscheinlich nicht durch die Anwesenheit von Luft beeinträchtigt würde – das Material schien chemisch neutral zu sein –, flutete man die Kuppel mit normalem Trimix. Denise Nadis, Josef Protsenko und Christine Ofria-Gomberg führten weitere Untersuchungen durch, als Svetlana ihnen einen Tag, nachdem die Kuppel unter Luftdruck gesetzt worden war, einen Besuch abstattete.
Im grellen Flutlicht sah der Würfel bestürzend schwarz aus. Die Oberflächenalbedo betrug genau 0,999999, soweit die Messinstrumente es feststellen konnten. Als er auf dem drehbaren Gestell rotierte, das man darunter installiert hatte, wurde der Würfel zu einer abstrakten Form, die fließend ihre Gestalt zu ändern schien. Das Objekt war von Überwachungsgeräten auf Stativen umringt, einem Gewirr aus optischen Datenleitungen und dicken, ausgefransten Stromkabeln.
Der Würfel war mit Ausnahme einer Seite auf allen Oberflächen völlig glatt. Untersuchungen mit Röntgenstrahlen und Schallwellen ergaben keine Hinweise auf eine innere Struktur. Die Oberflächenanalyse mit einem Rasterkraftmikroskop erbrachte keine Ergebnisse, was die Zusammensetzung des Materials betraf. Für ein Artefakt, das mutmaßlich längere Zeit im Weltraum verbracht hatte, auch wenn es sich um den hermetisch abgeschlossenen Innenraum der Röhre handelte, war es erstaunlich frei von Unvollkommenheiten. Die Kanten des Würfels waren immer noch unvorstellbar scharf.
Vermutlich war es selbstregenerativ, teilte das Wissenschaftlerteam Svetlana mit, voller winziger Alien-Nanotechnik, die jeden Fehler korrigierte, bevor er sich bemerkbar machen konnte. Eine chemische Analyse war unmöglich, weil die Oberfläche ständig regeneriert wurde. Wenn sie besseres Werkzeug hätten, fügten sie bedauernd hinzu, wären sie vielleicht in der Lage, diese Prozesse direkt zu beobachten.
Das Problem war nur, dass die Nanotechnik vielleicht gar nicht außerirdisch war. Die Größe und Masse des Würfels deutete auf die Vertrautheit mit menschlichen Maßeinheiten hin.
Aber das war noch nicht alles.
Auf der sechsten Seitenfläche befand sich eine Gravur.
Diese Seite drehte sich nun in Svetlanas Richtung. Durch irgendeinen Oberflächeneffekt hatten die fingerdicken Linien der Gravur eine höhere Albedo als die Grundfläche. Es handelte sich um Leonardo da Vincis Zeichnung eines Menschen innerhalb eines Kreises und eines Quadrats, eine der bekanntesten künstlerischen Darstellungen überhaupt. Sie war stilisiert, auf das Wesentliche reduziert, aber durchaus wiedererkennbar. Es schien unwahrscheinlich, dass ein außerirdischer Geist diesen Würfel geschaffen hatte.
Das technische Team trug Schutzmasken, Handschuhe und Arztkittel, aber diese Vorsichtsmaßnahmen waren nur pro forma. Man hatte nichts gemessen, was Anlass zur Sorge gegeben hätte, dass der Würfel auf irgendeine Weise schädlich sein könnte. Er stand einfach nur da und rotierte langsam auf dem Gestell, präsentierte seine fünf leeren Seiten und dann die Zeichnung von Leonardo.
»Du kannst ihn berühren, wenn du möchtest«, sagte Denis Nadis und reichte ihr ein Paar recycelbare Chirurgenhandschuhe, die mit einer haptischen Matrix beschichtet waren. »Wir alle haben es getan. Es ist fast so etwas wie ein Ritual. Irgendwie glaubt man einfach nicht, dass er wirklich existiert, bevor man seine Hand darauf gelegt hat.«
Svetlana zog sich einen Handschuh an. »Was würde geschehen, wenn ich ihn mit der nackten Hand berührte?«
»Du würdest richtig fette Fingerabdrücke hinterlassen. Einer von uns hat es bereits ausprobiert.«
»Sie sind mit der Zeit verblasst«, sagte Christine Ofria-Gomberg. »Aber es war harmlos. Ich wollte nur wissen, wie sich das Material wirklich anfühlt.«
»Die haptische Erfahrung hat dir nicht gereicht?«
»Ich wollte es genau wissen. Was wäre, wenn es einen Unterschied gäbe, den die Handschuhe nicht übermitteln können?«
»Und? Gab es einen?«, fragte Protsenko.
»Nein«, sagte sie verdrießlich. »Es hat sich exakt genauso angefühlt.«
Svetlana spürte ein Kribbeln in den Fingerspitzen, als die haptische Matrix mit mikroskopischen Fäden die Verbindung zu ihrer Haut herstellte. Sie strich über den groben Stoff ihrer Hose und spürte die Struktur, als wären die Handschuhe gar nicht vorhanden.
Sie ging zum Würfel und berührte eine der langsam rotierenden leeren Flächen. Sie war kalt, fest und stumm. Sie fühlte sich uralt an, als hätte sie eine Ewigkeit auf diesen Moment des menschlichen Kontakts gewartet. Svetlana streifte mit den Fingern über die scharfe Kante, als der Würfel ihr die nächste Fläche präsentierte. Sie fragte sich – wie es zweifellos auch alle anderen taten –, wer dieses Ding in die Umlaufbahn um Janus gebracht hatte. Wie lautete die Botschaft des Objekts? Was sollten sie damit anfangen?
Die nächste Fläche kam in Sicht. Sie hatte nur einen Handschuh angezogen. Sie schaute sich um und sah, dass sich Nadis, Protsenko und Ofria-Gomberg über einen Flextop gebeugt hatten. Alle blickten auf die Datenanzeige und nicht auf Svetlana. Ohne dass die anderen es sehen konnten, streckte sie die bloße Hand aus, um damit die eingravierte Darstellung zu berühren.
»Svetlana«, rief Nadis. »Ich glaube, das solltest du dir ansehen.«
Sie wandte sich vom Würfel ab und zog den Handschuh aus, bevor jemandem auffallen konnte, dass sie nur den einen getragen hatte.
»Was gibt es?«, fragte sie unschuldig.
»Das Tor«, sagte sie. »Es schließt sich.«
Svetlana wurde klar, dass sie das Tor am Ende der Röhre meinte, zwei Lichtminuten von hier entfernt. »Ich wusste gar nicht, dass es offen war.«
»Wir auch nicht«, sagte Nadis. »Es muss sich geöffnet haben, nachdem wir den zweiten Flugroboter verloren hatten, bevor wir die Schwebekamera nach oben geschossen haben.«
»Das gefällt mir nicht«, sagte sie.
»Dann wird dir etwas anderes noch viel weniger gefallen: Etwas ist hindurchgekommen.«