Elf


 

 

Bella schwebte in der Sporthalle. Nachdem das Schiff zur Ruhe gekommen war, herrschte Schwerelosigkeit. Die versammelte Menge repräsentierte fast die komplette Besatzung. Sie spürte die unausgesprochene Kraft ihres Verlangens, etwas zu tun. Es gab nur eins, was sie von ihr wollten, und sie hatte nun die Macht, es ihnen zu geben.

»Wir haben das Schiff gewendet«, sagte sie und achtete darauf, den Blickkontakt zu ihrer Führungscrew herzustellen. »Das Haupttriebwerk ist bereit, uns von Janus wegzubringen.« Sie wartete einen Herzschlag lang. »Aber wir werden uns nicht in Bewegung setzen.«

Es dauerte eine Weile, bis allen die Bedeutung ihrer Worte klar wurde. Sie beobachtete, wie eine fast greifbare Welle der Empörung durch die Besatzung lief. Sie erfasste sogar jene, die normalerweise jede ihrer Entscheidungen unterstützten.

»Das Risiko ist zu hoch«, sagte Bella, bevor jemand die Gelegenheit nutzen konnte, sie niederzubrüllen. »Unsere Treibstoffsituation ist immer noch kritisch, selbst wenn wir uns auf die angezeigten Werte verlassen können. Wenn wir daran zweifeln – und dazu gibt es guten Grund –, ist unsere Lage mehr als hoffnungslos. Mit leeren Tanks würden wir in drei oder vier Wochen erfrieren, lange bevor uns ein Rettungsschiff erreichen könnte. Im Idealfall wären wir in der Lage, nach Hause zu humpeln und es gerade so zu schaffen. Aber ich darf mich nicht von falschen Hoffnungen in Versuchung führen lassen. Dazu ist mir das Leben von euch allen zu kostbar.«

Svetlana war die Erste, die sprach. »Bella, wir müssen sofort aufbrechen!«

Bella nickte verständnisvoll. »Aber du selbst hast gesagt, dass es keine Garantie gibt, dass das Triebwerk uns wirklich von hier wegbringen kann. Wie hast du es ausgedrückt, Svieta? Du sagtest, in Verbrennungsräume von solchen Dimensionen bist du noch nie vorgestoßen. Es tut mir leid, aber ich bin nicht bereit, unter solchen Voraussetzungen unser aller Leben aufs Spiel zu setzen.«

»Du hörst mir nur zu, wenn es dir in den Kram passt«, gab Svetlana in feindseligem Tonfall zurück.

»Nein«, sagte Bella, »ich habe dir immer sehr genau zugehört, jedes Wort, und ich höre dir auch jetzt zu. Aber das Risiko, das ich mit deinem Vorschlag eingehen würde, ist mir einfach zu hoch.«

»Dann werden wir hier draußen sterben.«

»Nein, das werden wir nicht. Hier werden wir für sehr lange Zeit überleben können. Und genau darauf will ich hinaus, Svieta.«

Im Raum hielten sich über einhundertdreißig Menschen auf, aber jene, die Bella nicht zustimmten, schienen bereit zu sein, Svetlana für sich sprechen zu lassen. Bella hatte keine Ahnung, ob sie die Mehrheit bildeten, aber ihr Schweigen schnitt wie ein unsichtbarer Wind durch sie hindurch.

»Wir können nicht überleben«, sagte Svetlana.

»Hier werden wir länger überleben, als wenn wir am Rand des Sonnensystems auf Rettung warten würden. Hier haben wir Fusionsenergie. Wenn die aufgebraucht ist, haben wir Janus. Nur ein paar tausend Kilometer entfernt befindet sich eine ganze Welt.«

»Sie entführt uns in den interstellaren Raum.« Svetlana klang nun beinahe flehend, in ihrer Stimme lag eine Spur von Hysterie. »Bella, hör mir zu! Je länger wir damit warten zu fliehen …«

»Wir fliehen nicht«, sagte jemand anderer. »Wir fliehen niemals.«

Alle Anwesenden konnten die Stimme sofort zuordnen. Jim Chisholm war angekleidet, aber die Abmagerung durch die Krankheit wurde durch jede schlaffe Falte und jeden spitzen Winkel unter seiner Kleidung betont. Bella fragte sich, wie er es in den schwerelosen Raum der Sporthalle geschafft hatte. Sie vermutete, das Ryan oder vielleicht Jagdeep Singh ihn getragen hatte.

Chisholm hustete und sammelte sich. Seine Stimme hatte eine Überzeugungskraft, die Bella seit Monaten nicht mehr gehört hatte.

»Bella hat recht. Wir würden sterben, wenn wir fliehen. Ich weiß, dass es hart ist, eine bittere Medizin. Aber was sie sagt, ist die Wahrheit. Unsere einzige Hoffnung ist Janus. Wir sollten hier bleiben und nach Möglichkeiten suchen, wie wir überleben können.«

Jemand anderer setzte zum Sprechen an – nicht Svetlana –, doch Chisholm schnitt ihm das Wort ab. »Hört mir zu! Ich möchte nach Hause. Das wünsche ich mir so sehnlich, dass es mich zum Weinen bringt. Die meisten von euch wissen, dass etwas in meinem Kopf ist, das mich umbringen will, etwas, das nicht einmal Ryan heilen kann, obwohl er sich alle Mühe gibt. Er hat alles ausprobiert, was in seiner Macht steht.« Er blickte zu Axford, der sich am Eingang aufhielt, und Bella sah, wie der Arzt den öffentlichen Dank mit einem ernsten Nicken zur Kenntnis nahm. Wie ein Henker schien es ihm kein Vergnügen zu bereiten, sein Bestes gegeben zu haben.

Chisholm wandte sich wieder an das Publikum. »Als sich uns die Gelegenheit bot, Janus zu erforschen, habe ich mich gefreut. Es war meine beste Hoffnung, nach Hause zu kommen, bevor nichts mehr von mir übrig ist, das sich kurieren lässt. Die Sache hat sich nicht so entwickelt, wie ich gehofft hatte … aber wenn mir noch einmal diese Chance geboten würde, wäre ich trotzdem dabei, allein, um all die Dinge zu sehen, die wir gesehen haben – die wir noch sehen werden, in den nächsten Wochen, wenn wir die mutige Entscheidung treffen. In diesem Augenblick ist es besser, hier zu sein als an irgendeinem anderen Ort im Universum. Niemand hat je eine größere Chance erhalten als wir.«

Er hielt kurz inne und sah sich erstaunt um. »Und einige von euch meinen, dass wir fliehen sollten? Ohne eine Garantie, dass wir überhaupt jemals in unser Sonnensystem zurückkehren werden?« Chisholm schüttelte fassungslos den Kopf. »Das kann nicht wahr sein. Nicht an Bord der Rockhopper. Wir sind Bergleute. Wir schieben Eis. Man hat uns zu Janus geschickt, damit wir unsere Arbeit machen, nur dass wir keine Rohstoffe, sondern Wissen fördern sollen. Im Grund machen wir den gleichen Job wie immer. Ich sage, dass wir bleiben. Ich sage, wir bleiben und machen unsere Arbeit.«

Es war eine gute Rede, und sie kam von einem Mitglied der Besatzung, das allgemein beliebt und respektiert war. Bella wagte die Hoffnung, dass es genügt hatte, für einen Stimmungsumschwung zu sorgen. Auf einige schien es so gewirkt zu haben.

Aber nicht auf alle.

»Ich bin nicht hierher gekommen, um zu sterben«, sagte Christine Ofria und sah sich beifallheischend um. »Ja, ich bin hierher gekommen, um eine schwierige Arbeit zu machen. Ich wollte mir Janus aus der Nähe ansehen. Aber ich habe auch zu Hause ein Leben. Ich möchte meine Heimat irgendwann wiedersehen.«

Ein Stimmenchor unterstützte ihre Aussage. Bella versuchte die Zahl einzuschätzen, wer für sie und wer gegen sie war. Es schien eine knappe Entscheidung zu sein.

»Niemand sagt, dass ihr euer Zuhause nicht wiedersehen werdet«, übertönte Bella die Meinungsverschiedenheiten. »Ich sage, wenn es das ist, was ihr wollt, wenn ihr nach Hause wollt, dann ist Janus eure beste – eure einzige Hoffnung.«

»Sie hat recht«, meldete sich Jim Chisholm wieder zu Wort. Seine Stimme schnitt eine Schneise des Schweigens durch den Raum. »Janus bringt uns von zu Hause weg. Das wissen Bella und ich. Aber Janus bietet uns auch eine Überlebenschance. Wenn wir am Leben bleiben, ist alles möglich.«

»Wir finden vielleicht nie eine Möglichkeit, Janus von seinem Kurs abzubringen«, sagte Bella, »aber ich schwöre, dass wir es versuchen werden. Und wenn das nicht funktioniert, gibt es noch andere Möglichkeiten. Wenn wir es schaffen, die Beschleunigung zu stoppen, haben wir eine Chance, gerettet zu werden. Nachdem wir Bilder zur Erde geschickt haben, gibt es für die VWE einen großen Anreiz, hierher zu kommen und sich die Sache aus der Nähe anzusehen. Sie werden ein weiteres Schiff schicken – eins, das schnell genug ist, um uns einzuholen.«

Sie schluckte schwer. »Und selbst wenn wir Janus nicht bremsen können, wissen wir nicht, ob er weiter beschleunigen wird. Es gibt immer noch Hoffnung. Und am Ende werden wir alle noch am Leben sein.«

»Einige von euch sind wahrscheinlich bereit, das Risiko eines Rückflugs einzugehen«, sagte Chisholm. »Das verstehe ich. Wirklich. Aber es wird nicht funktionieren. Dazu würden wir eine verdammt große Menge Glück brauchen.« Er sah sich vertrauensvoll im Publikum um. »Und ich kann euch sagen, dass das Glück nicht auf unserer Seite steht. Wenn wir anfangen, uns nur auf unser Glück zu verlassen, sind wir erledigt. Wir sind Profis. Glück ist kein Faktor in unseren Berechnungen. Wir müssen mit realistischer Planung, mit Mut und mit Erfindungsreichtum auskommen.«

»Wir müssen gar nicht den ganzen Weg bis zur Erde zurücklegen«, sagte Malcolm Fox, einer der Spezialisten für Massentreiber, »wir müssen nur langsamer werden. Wir können im Weltraum überleben, wenigstens so lange, bis wir abgeholt werden.«

»Wir können drei oder vier Wochen überleben, wenn wir keinen Treibstoff mehr in den Tanks haben«, sagte Bella. »Nicht länger, es sei denn, du glaubst, wir könnten Metall verheizen.«

»Selbst wenn wir sechs Wochen hätten«, sagte Chisholm, »wäre das immer noch nicht genug Zeit. Die Firma wollte keine Rettungsmission auf den Weg schicken, um mich nach Hause zu bringen, als wir noch in bequemer Reichweite für ein Shuttle waren. Sie haben mir angeboten, mich einfrieren zu lassen. Wenn wir uns jetzt von Janus abwenden, haben wir alle unsere Trumpfkarten ausgespielt. Wir haben nichts, was sie dringend von uns haben wollen, außer dem Geldwert dieses Schiffes – und das kann warten, bis jemand einen Schlepper losschickt.« Er machte eine kurze Pause und sammelte Kraft. Niemand unterbrach ihn. »Aber Janus gibt uns ein Druckmittel. Im Augenblick gehört das Schiff uns, nicht DeepShaft und nicht den VWE. Wenn sie ein Stück davon abhaben wollen, müssen sie zu uns kommen und mit uns verhandeln. Wenn sie es tun, werden wir bereit sein und auf sie warten.«

Gregor Mair, jemand aus Parrys Bergwerkstruppe, brach das Schweigen, das darauf folgte. »Wahrscheinlich mache ich mir hier keine Freunde«, sagte der rothaarige Schotte, »aber ich glaube, dass Bella und Jim recht haben. Wir haben die besseren Karten, wenn wir bleiben. Was nicht bedeutet, dass ich es toll finde. Ich halte es nur für das kleinere von zwei Übeln.«

»Dem stimme ich zu«, sagte Saul Regis und tippte mit einem Finger gegen seinen geflochtenen Bart. »Wenn wir bleiben, werden wir überleben.«

»Ich bin auf Bellas Seite«, sagte Reda Kirschner, eine Kometenwissenschaftlerin, die unter Nick Thale arbeitete. »Wir sind mit Janus noch nicht fertig. Wir sind nicht diesen weiten Weg geflogen, um jetzt mir nichts, dir nichts wieder umzukehren.«

Bella war froh über die Unterstützung, aber sie wusste, dass die Leute, die sich öffentlich geäußert hatten, keine starken Verbindungen zur Erde oder einer der Weltraumkolonien hatten. Keiner von ihnen war verheiratet, sie hatten weder Lebensgefährten noch nahe Verwandte zurückgelassen.

Leider ließ sich das nicht von jedem Besatzungsmitglied des Schiffes behaupten. Sie hatte diesen Gedanken kaum zu Ende gedacht, als sich Craig Schrope von seinem Haltepunkt an der Wand abstieß und in die Mitte des Saals trieb. Geschickt hielt er drei Meter rechts von Bella an – nahe genug, um die Aufmerksamkeit auf sich zu lenken, aber nicht so nahe, dass es den Eindruck erweckt hätte, er würde ihr zur Seite stehen.

»Dieses Raumfahrzeug ist ein Vermögenswert von DeepShaft«, sagte er. »Wir haben die Verpflichtung, es wieder nach Hause zu bringen. Bella und Jim können so viel über die Pflichten von Profis reden, wie sie wollen. Ja, wir sind Bergleute. Aber wir tragen auch eine Verantwortung für dieses Schiff.« Er sah Chisholm mitleidsvoll an, wie man ein Opfer am Straßenrand betrachten mochte. »Es tut mir leid, Jim, aber du hast hier nichts mehr zu sagen.«

»Craig«, warnte Bella, »versuche nicht, die Besatzung des Schiffes zu spalten. Wir können das anders machen.«

»Ich habe nicht vor, irgendetwas zu spalten«, sagte Schrope. »Ich rede nicht davon, dass DeepShaft uns im Stich gelassen hat. Ich tue nicht so, als hätte die Firma uns längst abgeschrieben.«

»Und versuche auch nicht, die Firmenloyalitätskarte auszuspielen«, sagte Bella. »Hier geht es um Menschenleben.«

»So ist es«, sagte Schrope und nickte nachdrücklich. »Und ich glaube nicht daran, dass dies ein Ort ist, an dem ich den Rest meines Lebens verbringen will.« Plötzlich schien ihm etwas einzufallen, als ein lebhafter Schimmer auf sein Gesicht trat und er Svetlana ansah. »Ich gebe offen zu, dass wir beide in den letzten Tagen große Meinungsverschiedenheiten hatten.«

»Worauf willst du hinaus, Craig?«, fragte Svetlana mit betonter Zurückhaltung.

»Du warst von Anfang an dagegen«, sagte Schrope zu ihr. »Ob zu Recht oder zu Unrecht – du wolltest so etwas nicht mitmachen. Du hattest Zweifel wegen Janus, und nach dem Unfall hast du schwere Bedenken hinsichtlich der Fortsetzung der Mission angemeldet.« Er machte eine wegwerfende Geste. »Es ist wahr, dass wir unterschiedlicher Meinung waren, wie berechtigt deine Bedenken sind, das gebe ich zu. Aber wenn es nach dir gegangen wäre, hätten wir nie diese Probleme bekommen.«

»Scheiße, Craig. Du hast mir nicht zugehört. Das ist das Einzige, was für mich zählt.« Sie war immer noch wütend auf ihn.

»Aber jetzt höre ich dir zu«, sagte er. »Und ich bitte dich, mit mir zusammenzuarbeiten. Wenn nicht für DeepShaft, dann wenigstens zum Wohl der Rockhopper.«

Sie sah ihn entsetzt an. »Mir dir zusammenarbeiten?«

»Ohne dich kann Bella nichts mit diesem Schiff anfangen. Du hältst die Zügel in der Hand, Svetlana. Du bist es, die entscheiden muss, ob wir hier bleiben oder nach Hause fliegen. Es liegt allein in deiner Hand.«

»Hör nicht auf ihn«, sagte Bella. »Wir haben es längst geklärt. Es wäre Selbstmord, an eine Rückkehr auch nur zu denken.«

»Es wäre kein Problem, das Schiff zu übernehmen«, sagte Schrope und wandte sich nun an alle Anwesenden. »Bella ist bereits von ihrer Verantwortung zurückgetreten, als sie uns aufgegeben hat. Damit bin nur noch ich übrig. Ich führe weiterhin das Kommando. Alle anderen hier müssen nur weiter ihre Arbeit tun.«

»Wenn ihr auf Craig hört, werdet ihr alle sterben«, sagte Bella.

Schropes Aufmerksamkeit war ganz auf Svetlana gerichtet, als hätte Bella gar nichts gesagt. »Ich brauche dich, um nach Hause zu kommen«, sagte er. »Ich brauche dich, damit du deine Leute zusammentrommelst und das Triebwerk zündest. Wir gehen auf zwei Ge. Alles oder nichts. Entweder wird das Schiff uns heil zurückbringen, oder wir werden ruhmreich untergehen. Beide Möglichkeiten sind besser, als hier draußen zu verrotten.«

»Tu es nicht«, sagte Bella, aber ihre Stimme erstarb irgendwo in der Kehle und erreichte niemanden. Man hörte ihr nicht mehr zu – auch nicht mehr dem übrigen Führungspersonal. In der Versammlung war eine erhitzte Debatte ausgebrochen, ein Krawall, der jeden Augenblick in Gewalttätigkeiten umzukippen drohte. »Ich habe das Schiff verloren«, sagte sie, eigentlich nur zu sich selbst, doch Jim Chisholm flüsterte zurück: »Sie werden zu dir zurückkommen. Sie kommen immer zurück. Tief drinnen wissen sie, dass du recht hast.«

Eine Stimme übertönte die Menge und ließ vorübergehend alle verstummen. Es war Saul Regis, der im Adrenalinrausch zitterte. »Gut«, sagte er. »Wenn die Mehrheit dafür ist, soll es so sein. Aber wir wollen sehen, wo wir stehen. Ziehen wir eine Linie in den Sand. Alle, die für Bella sind, sammeln sich um mich. Alle, die Craigs Meinung sind, sammeln sich um ihn.«

Bella beobachtete, wie sich ihre Besatzung in zwei Gruppen spaltete. Sie konnte es immer noch nicht fassen, dass es tatsächlich so weit gekommen war. Zuerst sah es aus, als würde Schrope eine klare Mehrheit zusammenbekommen. Doch Bella hatte mehr Anhänger, als ihr bewusst war. Saul Regis, der sie unterstützte, sammelte fast sein komplettes Robotikteam um sich. Nur Marcia Batista lief zu Schropes Seite über. Die Hälfte der Wissenschaftler ging zu Bella, außerdem über die Hälfte der Mediziner sowie ein paar Leute aus Svetlanas Flugkontrollgruppe – hauptsächlich die jüngeren und unerfahrenen Mitglieder wie Meredith Bagley und Mengcheng Yang. Bella zählte die Köpfe: Mit Saul Regis und ihr selbst waren etwa vierzig Personen auf ihrer Seite. Um Craig Schrope hatten sich deutlich weniger als vierzig versammelt. Der Rest der Besatzung bildete eine amorphe, drängelnde Gruppe zwischen den zwei rivalisierenden Anführern. Die meisten von Parrys Bergleuten – wie auch Parry selbst – hatten sich noch nicht entschieden. Auch Svetlana hatte noch keine Partei ergriffen.

Für Svetlana war es zweifellos eine schwierige Entscheidung, dachte Bella. Auch wenn sie mit Craig Schrope einer Meinung war, musste ihr die bloße Vorstellung, sich mit ihm zu verbünden, mächtig gegen den Strich gehen.

Sie sahen sich in die Augen. Bella bemerkte, wie Svetlana mit den Lippen lautlose Worte formte – vielleicht eine Trotzreaktion, vielleicht aber auch eine Entschuldigung.

Als würde ihre Freundschaft immer noch zählen.

Sie schloss sich Craig Schropes Partei an. Kurz darauf sah Bella, wie Parry Boyce ihr folgte. Sie konnte es ihm nicht verübeln.

Mit Parry entschieden sich auch die meisten aus seinem Außeneinsatzteam. Gregor Mair war der einzige Bergmann, der zu Bella hielt.

Damit war die Sache klar. Es gab keine Nachzügler, keine Enthaltungen, und es wäre überflüssig gewesen, die Stimmen auszuzählen. Svetlanas Entscheidung hatte den Ausschlag gegeben. Craig Schrope hatte nun über die Hälfte der Besatzung hinter sich. Seine aufgebrachten Anhänger waren sichtlich mehr als Bellas bunt zusammengewürfelte Truppe. Der Unterschied betrug weniger als zwanzig Personen, aber durch das Außeneinsatzteam erhielt Schropes Gruppe den Zusammenhalt einer Armee. Mit ihren technischen Kenntnissen waren sie Bellas Wissenschaftlern, Robotikern und Medizinern in praktischer Hinsicht eindeutig überlegen.

Erstaunlicherweise wurde die geteilte Menge nun völlig ruhig. Schropes Leuten war klar, dass sie effektiv die Kontrolle über das Schiff hatten. Bellas Gruppe wusste, dass sie nichts dagegen tun konnte. Es war eine unblutige Meuterei. Bellas Besatzung hatte sogar in der Entzweiung keine Schande über sich gebracht. Bella gönnte sich einen winzigen, schnell erlöschenden Funken des Stolzes. Sie hatten sich wie Erwachsene benommen, sogar als sie sich gegen sie gewandt hatten.

»Ich habe das Schiff«, sagte Schrope. Seine Worte klangen eher erleichtert als triumphierend. »Wir werden es machen, wie ich angekündigt habe. Rückflug mit zwei Ge. Sofort, sobald wir bereit sind. Wir werden die Massentreiber abwerfen.« Er sah zu Svetlana. »Kannst du alles organisieren, damit deine Leute so schnell wie möglich mit der Arbeit beginnen?«

Svetlana holte tief Luft, überschritt einen mentalen Rubikon und nickte. »Das ist machbar.«

Bella hob die Hände. Sie hatte sofort die ungeteilte Aufmerksamkeit aller. »Also gut. Ihr habt getan, was ihr für richtig haltet. Das kann ich niemandem von euch zum Vorwurf machen. Ihr wollt alles tun, um zu überleben. Ob ihr es glaubt oder nicht – ich will dasselbe. Wer sich Craig angeschlossen hat, weil er oder sie glaubt, dass es im Sinne der Firma das Beste ist und es illoyal wäre, mir zu folgen … nun, das verstehe ich. Ich mache es euch nicht zum Vorwurf. Aber trotzdem habt ihr euch für den falschen Weg entschieden …«

»Du hast genug gesagt, Bella«, schnitt Craig ihr das Wort ab. »Jetzt bin ich an der Reihe.«

»Bitte«, sagte sie.

»In diesem Punkt irrt Bella«, sagte er und wandte sich wieder an die Menge. »Ja, wir könnten im Kielwasser von Janus irgendwie überleben – vielleicht. Aber verwechselt nicht Optimismus mit Gewissheit. Wir wissen, dass wir das Schiff verlangsamen können. Daran besteht kein Zweifel. Das ist reine Physik.«

»Willst du uns damit etwas Bestimmtes sagen, Craig, oder es mir nur noch einmal unter die Nase reiben?«, fragte Bella.

Er sah sie mit einem nachsichtigen Lächeln an. »Du hast gesagt, dass du meine Leute verstehst. Nun, ich verstehe auch deine. Ich reiche euch allen die Hand zur Versöhnung: Saul, Ryan … Jim. Es ist noch nicht zu spät, sich uns anzuschließen.« Er breitete großzügig die Arme aus, als wollte er sie in seiner Gruppe willkommen heißen. »Wir sind entschlossen, die Verzögerungsphase einzuleiten. Das Schiff gehört uns. Aber wir können uns trotzdem wie zivilisierte Menschen verhalten. Kommt zu uns, akzeptiert, dass es so und nicht anders geschehen wird, und wir können alle wieder Freunde sein.«

»Einfach so?«, sagte Nick Thale. »Wir kommen zu euch und lassen die Vergangenheit ruhen?«

»Ich wüsste nichts, was dagegen spricht.«

»Aber ich«, sagte Thale. »Du hast Bella dieses Schiff weggenommen. Dem Captain. Ich würde nicht mal auf dich pissen, wenn du brennen würdest.«

Eine Sehne spannte sich an Craigs Hals wie eine Trosse. »Ich habe … ich habe dieses Schiff gesichert. Das ist alles.«

»Warum gehst du nicht in einer Luftschleuse spielen, Craig«, gab Thale zurück.

»Immer mit der Ruhe«, sagte Bella. »Ich weiß deine Unterstützung zu würdigen, Nick, wirklich, aber wir wollen anständig bleiben. Über kurz oder lang könnte es sein, dass wir uns gegenseitig brauchen. Wir sollten uns nicht zu persönlichen Feindseligkeiten hinreißen lassen.« Sie wandte sich wieder Craig zu. »Gut, wie willst du es durchziehen? Wir sind etwa vierzig gegen etwa hundert auf eurer Seite. Einer von meinen Leuten ist unheilbar krank. Es ist klar, dass wir zu wenige sind, um euch das Schiff wieder abzunehmen, aber rechnet damit, dass meine Leute euch behindern werden, wo sie können. Wir werden alles tun, was in unserer Macht steht, damit dieses Schiff nicht aus dem Kielwasser herauskommt.«

»Das kann ich nicht zulassen«, sagte Schrope.

»Das habe ich mir gedacht. Also müssen wir über Bedingungen verhandeln.«

»Dafür haben wir keine Zeit«, sagte Svetlana. »Wenn wir es tun wollen, müssen wir jetzt damit anfangen.«

»Nimm dir so viele Leute, wie du brauchst«, sagte Schrope zu ihr. »Aber gib uns eine Vorwarnzeit von fünf Minuten, bevor du das Triebwerk zündest.«

Svetlana nahm Robert Ungless und Naohiro Uguru mit. Sie brauchte nicht mehr als zwei vertrauenswürdige Leute aus ihrem Team. Gemeinsam würde es ihnen keine Schwierigkeiten bereiten, das Triebwerk wieder hochzufahren. Niemand unternahm den Versuch, sie aufzuhalten. Es war offensichtlich, dass Schropes Gruppe eindeutig im Vorteil war, nicht nur zahlenmäßig, sondern auch in punkto Stärke. Parrys Bergleute waren muskelbepackte, eisenharte Typen, die es wahrscheinlich mit zwei Gegnern gleichzeitig aufnehmen konnten.

Nachdem Svetlana mit ihren Ingenieuren gegangen war, rieb sich Schrope über das Kinn und musterte Bella wie jemand, der überlegte, auf welcher Seite seines Sammelalbums er sie einkleben sollte. »Was Jim betrifft, hast du recht«, sagte er nachdenklich. »In der Krankenstation ist er am besten aufgehoben. Für alle Fälle habt ihr ja Ryan, Jagdeep und Judy.«

»Ich bin immer noch der Bordarzt«, sagte Axford. »Ihr braucht mich, wenn jemand von euch ausrutscht und sich etwas bricht.«

»Deshalb schlage ich vor, dass ihr den Teil des Schiffes rund um die medizinische Abteilung besetzt. Es dürfte eng werden, aber ich bin überzeugt, dass ihr zurechtkommt. Es dürfte zivilisierter zugehen, wenn wir uns nicht ständig über den Weg laufen.«

»Und ihr?«, fragte Bella.

»Wir brauchen natürlich Zugang zu den wichtigen Flugsystemen. Navigation, Antrieb, Lebenserhaltung. Das heißt, so ziemlich den ganzen Rest der Rockhopper. Aber macht euch keine Sorgen. Wir passen auf, dass es euch gut geht.«

»Weißt du«, sagte Bella, »je mehr ich darüber nachdenke, desto besser gefällt mir Nicks Vorschlag mit der Luftschleuse.«

»Ich dachte, du wolltest, dass wir uns zivilisiert benehmen«, sagte Schrope.

 

Fünf Minuten später gab Svetlana bekannt, dass sie bereit war, das Triebwerk zu zünden. Schrope sagte ihr, dass sie mit einem Viertel Ge anfangen sollte, um dann in den folgenden fünf Minuten langsam auf ein halbes Ge zu gehen. Damit blieb allen an Bord genug Zeit, ihre Quartiere aufzusuchen und sich für die Extrembeschleunigung von zwei Ge zu sichern. Dann sollte Svetlana den Antrieb so weit hochfahren, wie sie verantworten konnte. Sie würden sich von Janus entfernen. Nach dreißig oder vierzig Minuten würde das Schiff aus dem Kielwasser sein – und Janus würde plötzlich mit hoher Beschleunigung fortrasen, wenn die wahren Bewegungsverhältnisse wieder zum Tragen kamen.

Bella war klar, dass sie zu diesem Zeitpunkt bereits verloren hatten.

Craig Schropes ausgezeichnete Kenntnisse des Bauplans der Rockhopper hatten ihm gute Dienste geleistet. Die Krankenstation mit den angrenzenden Räumen bildete ein nahezu perfektes Gefängnis, das gut von allen kritischen Schiffssystemen isoliert war. Da nur zwei durch Luftschleusen gesicherte Zugänge in den Bereich führten, war es kein Problem, die eine Schleuse zu verschließen und an der anderen eine inoffizielle Wache zu postieren.

Man überließ es Bella und ihren Leuten, sich auf die Situation einzustellen. Bei zwei Ge war es nahezu unmöglich, sich zu Fuß fortzubewegen, und selbst im Sitzen konnte es sehr unangenehm werden. Während das Schiff noch mit einem halben Ge beschleunigte, suchten Bella und Axford in der Krankenstation alle Matratzen und Kissen zusammen und verteilten sie. Jim Chisholm brachten sie wieder in sein Bett. Er war nach den Ereignissen in der Sporthalle völlig erschöpft.

»Ich wünschte, mir würde etwas einfallen, was wir tun könnten«, sagte er, während Axford die Infusionsschläuche an seine permanenten Kanülen anschloss. »Aber Craig hat uns ziemlich gut von allem isoliert.«

»Ruh dich einfach aus«, sagte Ryan.

Belinda Pagis hielt einen schlaffen Flextop hoch. »Wir sind wirklich von allen wichtigen Sachen abgekoppelt. Ich habe sämtliche Tricks ausprobiert, um Zugang zu bekommen, aber ihre Abschirmung scheint wasserdicht zu sein.«

»Lass es mich mal versuchen«, sagte Bella. Aber sie kam auch nicht weiter. Der Flextop gestattete ihr nur den Zugang zu den oberflächlichen Schichten des Schiffsnetzes. »Es ist dasselbe, was ich mit Svetlana gemacht habe.«

»Ich werde weiter nach einem Loch suchen«, sagte Pagis. »Ich glaube nicht, dass Svetlana für die Abschottung verantwortlich ist. Sie dürfte viel zu sehr mit dem Triebwerk beschäftigt sein. Höchstwahrscheinlich war es Bob Ungless.«

»Ungless versteht sein Handwerk«, sagte Bella.

»Aber ich bin besser.«

»Auch wenn du ein Schlupfloch findest, wirst du nicht viel erreichen«, sagte Carsten Fleig. »Selbst mit unbeschränktem Zugang könntest du nicht mehr bewirken als eine einmalige Abschaltung des Triebwerks. Danach würden sie uns einfach die Flextops wegnehmen.«

Bella hatte sich schon oft über Fleigs gelassene Pedanterie geärgert, aber wie üblich hatte er recht. Bestenfalls konnten sie den Flug behindern, aber nicht auf Dauer verhindern. »Wenn wir dem Triebwerk irgendeinen Schaden zufügen könnten«, überlegte sie, »nur so viel, um es außer Betrieb zu setzen, ohne das Schiff zu zerstören …«

»Aber lass den Reaktor heil«, warnte Pagis. »Wenn wir etwas erreichen wollen, brauchen wir in jedem Fall Energie.«

»Was immer dir durch den Kopf geht«, sagte Mengcheng Yang, »es wäre vielleicht besser, nicht darüber zu reden.«

»Yang hat recht«, sagte Bella. »Wenn Craig gut ist, hört er jedes Wort mit, das wir sagen, und beobachtet uns über die Kameras.«

»Und überwacht alles, was wir mit unseren Flextops machen.« Pagis sah Bella mit einem pessimistischen Lächeln an. »Aber ich werde es weiter probieren.«

Die Lautsprecher wurden aktiviert. »Hier spricht Schrope. Ich habe gehört, dass Svetlana bereit ist, auf zwei Ge zu gehen. Wir werden den Schub allmählich erhöhen, aber ich schlage vor, dass ihr es euch jetzt bequem macht. Der Flug könnte etwas holprig werden, bis Svetlana die Feinabstimmung der Fusionsparameter hinbekommen hat.«

Bella spürte, wie ein Zittern durch das Schiff lief, als die Beschleunigung über ein halbes Ge hinausging. So viel Energie hatte es noch nie zuvor erzeugt, was bedeutete, dass es die Belastungsgrenzwerte schon jetzt weit überschritten hatte. Bella spürte, wie ihr Gewicht zunahm. Sie versuchte den Moment abzuschätzen, wenn der Schub ein Ge überstieg. Sie ging in die Hocke und lehnte sich mit dem Rücken gegen die gepolsterte Wand eines Schranks. Die meisten ihrer Leute hatten – über zwei Räume verteilt – ähnliche Positionen eingenommen.

Sie dachte über eine Zerstörung des Triebwerks nach und erkannte resigniert, dass es dazu bereits viel zu spät war. Die Rockhopper hatte genügend Geschwindigkeit erreicht, um sich aus dem schwachen Gravitationsfeld von Janus zu befreien. Selbst wenn der Antrieb jetzt ausfiel, würde das Schiff bis zum Rand des Kielwassers weitertreiben.

Sie hatte verloren. Jetzt ging es nur noch darum, es zu akzeptieren.

Ihr Gewicht nahm zu, bis selbst das Sitzen unangenehm wurde. Bella streckte sich aus, bis sie flach auf dem Boden lag. Nur ihr Kopf wurde von einem Kissen gestützt. So war es erträglicher, obwohl ihr das Atmen schwerer als sonst fiel. Aber zumindest war ihr Gewicht jetzt gleichmäßiger über ihren Körper verteilt.

Pagis versuchte immer noch, sich ins Schiffsnetz zu hacken. »Tut mir leid«, sagte sie schließlich. »Ich schaffe es nicht. Und es sieht nicht danach aus, als hätte sich Ungless einen dummen Fehler erlaubt.« Sie legte den Flextop auf den Boden und ächzte, als sie das Ziehen in ihren überlasteten Muskeln spürte.

»Keiner von uns macht dumme Fehler«, sagte Bella. »Dazu besteht die Besatzung aus zu guten Leuten.«

Gelegentlich versetzte ihnen der Boden einen Stoß, wenn die Schubleistung vorübergehend instabil wurde. Doch die Erschütterungen wurden mit der Zeit schwächer und seltener, während Svetlana die Systeme des Fusionsreaktors besser aufeinander abstimmte.

»Bella«, sagte Thom Crabtree, gerade laut genug, um sich im Lärm verständlich zu machen. »Ich möchte dir etwas sagen, das du wissen solltest.«

Bella lächelte den Taphead aufmunternd an. »Ich bin froh, dass du auf meiner Seite stehst, Thom. Das bedeutet mir sehr viel. Du musst deine Entscheidung nicht vor mir rechtfertigen.«

»Ich stehe auf der Seite der rechtmäßigen Befehlsgewalt«, sagte Crabtree. Seine nervösen Augen wichen immer noch ihrem Blick aus. »Aber das ist es gar nicht, worüber ich mit dir reden wollte.«

»Was dann?«

»Ich könnte etwas unternehmen. Womit wir den Flug stoppen und sie zwingen könnten, zu Janus zurückzukehren. Aber dazu brauche ich deine Genehmigung.«

Sie hielt den Blick auf ihn fixiert und sprach mit leiser Stimme. »Was könntest du tun, Thom?«

»Ich könnte das Schiff zerstören. Mit einem von Nicks Flugrobotern. Den er losgeschickt hat, um sich die Vorderseite von Janus anzusehen.«

Jetzt hatte er ihre ungeteilte Aufmerksamkeit, aber sie durfte sich nichts anmerken lassen. Die Mikrofone waren vermutlich nicht in der Lage, ihr Gespräch im Lärm des Schiffes aufzufangen, aber die Kameras würden den leisesten Hinweis auf eine Verschwörung preisgeben.

»Du kannst ihn steuern?«

»Ja.«

»Von hier aus?«

»Ich habe die ganze Zeit Kontakt zu ihm.«

»Aber Saul Regis hat dir die Kontrolle entzogen«, sagte Bella. »Deshalb bist du zu mir gekommen, weil du dich beschwert hast, nichts mehr tun zu können. Du konntest dich nur noch virtuell bewegen.«

»Ich habe etwas dagegen gemacht«, sagte Crabtree mit einem lässigen Achselzucken. »Saul ist nicht sehr gründlich vorgegangen. Ich habe eine Möglichkeit gefunden, seine Blockade zu umgehen. Ich mache es schon seit Tagen, gehe in die Roboter, bewege sie ein bisschen – ohne dass es jemand merkt, nur so viel, um mich zu erinnern, wie es sich anfühlt, aktiv zu sein.«

Bella blickte sich um, doch Regis hielt sich im Nachbarraum auf. »Aber wir sind vom Schiffsnetz abgeschottet.«

»Ich brauche das Schiffsnetz nicht. Mich können sie nur blockieren, wenn sie mir den Schädel aufsägen – oder mit einem Hammer zertrümmern.« Crabtree hatte den glasigen, abwesenden Blick, der verriet, dass er sich nur zum Teil in diesem Raum aufhielt. Ein großer Teil seiner Sinneswahrnehmung war bereits auf einen Punkt konzentriert, der außerhalb des Schiffes lag.

»Bleibst du uns auf den Fersen?«

»Ja, ich verbrenne sehr viel Treibstoff, aber ich müsste es schaffen, der Rockhopper noch weitere zehn Minuten lang zu folgen.«

»Was könntest du tun?«

»Jedenfalls nichts Subtiles«, sagte Crabtree und presste die Augenlider fest zusammen.

Bella rief Svetlana in die Krankenstation.

 

Triebwerk aus. Voller Gegenschub auf die Steuerdüsen, gefolgt von einem Wendemanöver, bei dem fast das Rückgrat des Schiffs gebrochen wäre.

»Bringt uns zurück auf die Beobachtungsposition«, sagte Crabtree. »Bringt uns zurück zu Janus.«

Zu diesem Zeitpunkt mussten sie gehorchen. Die Größenverhältnisse zwischen den zwei Fraktionen zählten nicht mehr. Sie konnten Crabtrees Verbindung zum Flugroboter nicht kappen, weil sie völlig unabhängig vom Schiffsnetz war. Nach Stunden oder Tagen hätten sie sicherlich einen Weg gefunden, ihn auszuschalten, und wenn die Lösung einfach nur darin bestanden hätte, die Antenne, die den Kontakt zum Flugroboter hielt, funktionsunfähig zu machen. Aber sie hatten keine Stunden, nicht einmal Minuten.

Crabtree hatte seine Möglichkeiten demonstriert, indem er den Roboter knapp am Schiff vorbeifliegen ließ, womit klar war, dass er ohne Schwierigkeiten einen tödlichen Zusammenstoß herbeiführen konnte. Er würde sich zurückhalten, solange es die Treibstoffsituation des Flugroboters erlaubte.

Eine Stunde verging und noch eine Stunde. Zu diesem Zeitpunkt gingen selbst die optimistischsten Prognosen nicht mehr davon aus, dass noch Hoffnung bestand, es bis nach Hause zu schaffen.

Stück für Stück wurde den entschlossensten Angehörigen von Schropes Fraktion bewusst, dass sie die Schlacht verloren hatten. Sie waren immer noch die stärkere Gruppe, und viele von ihnen spielten wahrscheinlich mit dem Gedanken, sich an den anderen zu rächen, aber an irgendeinem Punkt musste ihnen klar gewesen sein, dass eine Zeit kommen mochte, in der sich die Fähigkeiten der anderen Partei als nützlich erwiesen. Sie hätten ihre Wut an Bella auslassen können – schließlich hatte sie für sie keinen praktischen Nutzen, sie besaß keine Fähigkeiten, über die nur sie allein verfügte –, aber sie war der Captain, was sie offenbar zurückhielt, als würden sie ein unausgesprochenes Tabu verletzen, wenn sie sie antasteten.

Also nahmen sie sich stattdessen Thom Crabtree vor.

Sie taten es heimlich, als kaum noch jemand an die Möglichkeit eines Racheakts dachte. Sie warteten auf einen Moment, als Crabtree von den anderen isoliert war, spät in der Schiffsnacht, und schnappten ihn sich. Es geschah lautlos, und in der Nähe war niemand, der sie daran hindern konnte.

Sie brachten ihn tiefer ins Schiff und schlossen sich in einer Luftschleuse ein.

Es waren zwei Männer: Connor Herrick und John Chanticler, die beide Parrys Außeneinsatzteam angehörten. Bella hatte sie immer für verlässliche Besatzungsmitglieder gehalten, die gute Arbeit leisteten. Sie hätte sich niemals vorstellen können, dass sie zu einem Mord fähig waren.

Sie fanden einen alten Raumanzug, einen Orlan-15, der um die vierzig Jahre alt sein musste. Er ließ sich nicht mehr reparieren und diente nur noch als Ersatzteillager. Sie steckten Thom Crabtree hinein. Sie öffneten eine Klappe in der Wand. Dahinter verliefen farbige knorpelige Schläuche. Einer davon führte ultraheißen Dampf.

Kameras beobachteten die Vorgänge. Es spielte keine Rolle, wo sie sich aufhielten – jeder konnte sehen, was geschah.

Herrick und Chanticler schlossen ein Ventil und schnitten den Schlauch durch. Sie verbanden das Ende mit der Notluftzufuhr des alten Raumanzugs und versiegelten den Anschluss mit Geckoflex und Klebeband. Selbst dann begriff Crabtree noch nicht ganz, was sie mit ihm im Sinn hatten. Bella glaubte, durch die verschmierte Helmscheibe nicht mehr als verdutzte Neugier in seinem Gesicht zu erkennen.

Dann öffneten sie das Dampfventil.

Parry unternahm mit ein paar seiner Leute den verzweifelten Versuch, die Folter zu beenden. Ganz gleich, was sonst geschah, das mussten sie ihm hoch anrechnen. Schließlich gelang es ihnen, eine der versiegelten Luftschleusentüren aufzubrechen, aber da war es schon zu spät. Von Adrenalin und Steroiden aufgeputscht hätten die Mörder beinahe auch noch Parry umgebracht.

Als Crabtree tot war, als er endlich aufhörte, im Todeskampf um sich zu schlagen, öffneten sie den Orlan-15. Sie brachten seine gesottene Leiche zur Luftschleuse und stießen sie in den Weltraum. Den Anzug behielten sie zurück. Sie konnten es sich nicht mehr erlauben, achtlos Dinge wegzuwerfen.