* 46

Kirsten

 

Kirsten starrte aus dem Fenster auf die Landschaft hinter ihrem Spiegelbild. Die sanften, grünen Hügel der Cotswolds wichen bald dem fruchtbaren Tal von Evesham, wo die Gerste und der Weizen auf den Feldern reif für die Ernte schienen und die Bäume in den Plantagen am Hang voller Äpfel, Birnen und Pflaumen hingen.

  Dahinter kam die bebaute Landschaft der Midlands: Kühltürme, die wild wuchernde Monotonie der Sozialsiedlungen, Schrebergärten, Treibhäuser, eine Backsteinschule, ein Fußballplatz mit weißen Torpfosten. Als der Zug Birmingham erreichte und immer tiefer in den Moloch hineinschlich, bekam sie Beklemmungen und wurde nervös. Schließlich war dies ihre längste Reise seit Ewigkeiten, noch dazu reiste sie allein. Über ein Jahr hatte sie in einer bequemen, komfortablen familiären Umgebung gelebt und war nur zwischen der georgianischen Eleganz von Bath und der ländlichen Mittelmäßigkeit von Brierley Coombe gependelt.

  Jetzt war es grau und regnerisch und sie in Birmingham, einer großen, unwirtlichen Stadt mit Slums, Skinheads und Rassenunruhen. Glücklicherweise musste sie dort den Zug nicht verlassen. Sie hoffte, dass Sarah am Bahnhof sein würde, um sie abzuholen, wenn sie ihr Ziel erreicht hatte.

  Nach einem zwanzigminütigen Halt fuhr der Zug weiter und rumpelte an gebogenen Betonüberführungen vorbei in ein weiteres bebautes Gebiet: verfallene Lagerhäuser mit verrosteten, zickzackförmigen Feuerleitern und dreckige, mit Kisten und Paletten voll gestapelte Fabrikhöfe, die anscheinend in jeder Stadt an den Bahngleisen lagen. Der Zug fuhr an einer stark befahrenen Einfallstraße entlang, an einem schmutzig braunen Kanal und einem Bahndamm aus dunklem Ziegelstein, der mit Graffiti verschmiert war. Als Nächstes flogen ein paar grüne Wiesen mit grasenden Kühen an den Fenstern vorbei, dann rumpelte der Zug in einem gleichmäßigen, einlullenden Tempo durch Derbyshire nach South Yorkshire mit den Schlackenhalden und stillstehenden Rädern der Grubenschächte, eine Landschaft, in der alles ehemals Grüne mit Tinte verschmiert worden zu sein schien, die jetzt im Regen zerfloss.

  Kirsten schloss die Augen und ließ sich vom Rumpeln des Zuges einsäuseln. Sie würde vielleicht ein oder zwei Tage bei Sarah bleiben, bis sie das Gefühl hatte, dass es Zeit war, zu gehen. Anders als sie ihren Eltern erzählt hatte, hatte sie Sarah nicht gefragt, ob sie freinehmen könnte. Kirsten würde ihr sagen, dass sie ein paar Tage allein in den Dales wandern wollte. Falls ihr das merkwürdig vorkommen sollte - schließlich hatte sie ja bereits das gesamte letzte Jahr auf dem Land verbracht, die meiste Zeit allein -, tja, dann konnte man nichts daran ändern. Doch Sarah würde ihr glauben. Es war erstaunlich, wie ihre Mitmenschen ihr nach dem Überfall beinahe jedes Wort glaubten.

  Als Sarah sie später am Abend vom Bahnhof abholte, hatte es aufgehört zu regnen. Für die Fahrt in das möblierte Zimmer gönnten sie sich den Luxus eines Taxis. Während der Fahrt sprach Sarah davon, wie froh sie sei, dass sich Kirsten entschieden hatte zurückzukommen, und wie sie zusammen nach einer Wohnung suchen würden, sobald sich Kirsten wieder orientiert hatte. Kirsten hörte zu und antwortete an den richtigen Stellen und schaute wie ein nervöser Vogel aus dem Fenster, während sie an den vertrauten Plätzen vorbeifuhren: dem hohen, weißen Universitätsturm, den Reihen der verrußten Backsteinhäuser des Studentenviertels, dem Park. Nach dem Regen glitzerte die ganze Stadt und ihre Mischung aus Vertrautheit und Fremdheit raubte Kirsten den Atem. Fünfzehn Monate lang war sie nur ein Ort in ihrer Erinnerung gewesen, eine abgetrennte Welt, in der bestimmte Dinge passiert und zu den Akten gelegt worden waren. Jetzt, da sie tatsächlich mit einem Taxi durch diese Stadt fuhr, hatte sie das Gefühl, als würde sie sich ihre Umgebung nur einbilden. Sie befand sich nicht mehr in der realen Welt; sie befand sich in einem Bild, einer Fantasielandschaft.

  Als sie bei der Wohnung ankamen, wurde es bereits dunkel. Kirsten folgte Sarah die Treppe hinauf und erinnerte sich eher körperlich als geistig daran, wie oft sie diesen Weg schon gegangen war. Jede Zelle ihrer Füße erinnerte sich an den rissigen Linoleumboden, über den sie ging, und in ihrer Fingerspitze schien die Erinnerung an den Lichtschalter eingeschrieben zu sein.

  Als sie ihr Zimmer betrat, hatte sie das Gefühl, wie trügerisch es auch sein mochte, am Ende einer Reise angelangt zu sein. Sie kannte dieses Gefühl von früher, wenn sie nach Vorlesungen oder ermüdenden Seminaren nach Hause gekommen war. Sie erinnerte sich an Tage, die sie mit einer Erkältung oder Halsschmerzen lesend im Bett verbracht hatte, wobei sie die Schatten der Häuser gegenüber langsam die Wand hinauf und über die Decke hatte kriechen sehen, bis es im Zimmer so dunkel geworden war, dass sie ihre Leselampe anschalten musste.

  Sie stellte ihre Reisetasche in der Ecke ab und schaute sich um. Einige ihrer Sachen befanden sich noch an ihren ursprünglichen Stellen: ein paar Bücher und Kassetten im Hauptzimmer und Becher und Gläser in der kleinen Küchennische. Sarah hatte lediglich Platz für ihre eigenen Sachen freigeräumt. Den Schrank konnte sie benutzen, weil Kirsten die meisten ihrer Kleidungsstücke mitgenommen hatte, zudem hatte Sarah einige von Kirstens Büchern und Unterlagen in einen Karton verstaut, um auf den Regalen und dem Schreibtisch Platz für ihre eigenen zu haben.

  »Und?«, meinte Sarah und sah sie an. »Hat sich nicht besonders verändert, oder?«

  »Nein, wirklich nicht. Ich bin überrascht.«

  »Bedrückt es dich, wieder hier zu sein?«

  »Nein«, sagte Kirsten. »Ist okay. Obwohl, sicher bin ich mir nicht. Es ist ein seltsames Gefühl, schwer zu erklären.«

  »Tja, mach dir darüber keine Gedanken. Setz dich erst mal hin. Möchtest du einen Tee? Wein gibt es auch. Ich habe eine Flasche da. Ich dachte, du würdest am ersten Abend lieber hier bleiben.«

  »Ja, super. Ich habe keine besondere Lust auszugehen. Ich bin ein bisschen müde und schlapp. Aber ein Glas Wein trinke ich gern.«

  Sarah holte die Flasche aus dem kleinen Kühlschrank und hielt sie hoch. Der Wein hatte eine blassgoldene Farbe. »Aus Australien«, sagte sie. »Ein Chardonnay. Soll ganz gut sein.« Sie nahm zwei Gläser aus dem Geschirrständer und suchte im Küchenschrank nach einem Korkenzieher. Nachdem sie ihn gefunden hatte, schenkte sie die Gläser voll und brachte sie rüber. »Käse? Ich habe ein Stück Brie und etwas Wensleydale.«

  »Ja, gerne.«

  Sarah trug den Käse mit einer Auswahl Kekse auf einem Tablett der Tetley's Brauerei herein, das sie aus dem Ring O'Bells hatte mitgehen lassen. Kirsten bediente sich und hob dann ein Buch auf, das neben dem Sessel gelegen hatte und ihr ins Auge gefallen war - eine dicke Biografie über Thomas Hardy. »Liest du das gerade?«, fragte sie.

  Sarah nickte. »Ich überlege, meinen Doktor in viktorianischer Literatur zu machen, und du weißt ja, wie sehr ich Biografien liebe. Ich dachte, es könnte eine angenehme Art sein, wieder in die Uniarbeit reinzukommen.«

  »Und, ist es so? Ich meine, Hardy ist nicht gerade eine leichte, heitere Lektüre, oder?«

  Sarah lachte. »Ich weiß nicht, ob er ein Pessimist war, doch auf jeden Fall war er ein perverses Schwein.«

  »Echt?«, meinte Kirsten. »Ich habe nur Fern vom Treiben der Menge gelesen, für das Romanseminar im ersten Jahr. An viel kann ich mich nicht mehr erinnern, nur dass irgend so ein Soldat mit seinen Fechtkünsten angegeben hat. Das war wahrscheinlich phallisch gemeint, oder?«

  Sarah lachte. »Ja, aber das meinte ich nicht. Diesen Symbolismus benutzen bis zu einem gewissen Grad alle Schriftsteller, oder?«

  »Was meinst du dann?«

  »Also, wusstest du zum Beispiel«, begann Sarah, »dass er als Jugendlicher gerne bei öffentlichen Hinrichtungen zugeschaut hat? Besonders wenn Frauen gehängt wurden.« Sie nahm das Buch und blätterte langsam durch die Seiten, während sie weitersprach. »Es gab da eine Hinrichtung in Dorchester. Als er schon wesentlich älter war, hat er jemandem davon erzählt ... ah, da ist es ... 1856. Martha Browne war der Name der Frau, sie wurde für den Mord an ihrem Mann gehängt. Nachdem sie ihn mit einer anderen Frau erwischt hatte, war es zum Streit zwischen den beiden gekommen. Er hat sie mit einer Peitsche angegriffen und sie hat ihn erstochen. Sie zu hängen war die damalige Vorstellung von Gerechtigkeit. Hardy ging auf jeden Fall zu der Hinrichtung und schrieb darüber.« Sie hielt Kirsten das Buch unter die Nase. »Sieh's dir selbst an.«

  Kirsten las: »Welch zarte Gestalt sich vor dem Himmel abzeichnete, als sie im dunstigen Regen hing, und wie das enge schwarze Seidenkleid ihre Figur betonte, als sie sich halb herum und wieder zurück drehte.«

  »Also wirklich«, fuhr Sarah fort, »da hängt eine arme Frau in der Schlinge, und Hardy stellt es dar, als würde sie zu einer Miss-Wahl antreten. Ist das zu fassen?«

  Kirsten las die Beschreibung durch; sie war auf jeden Fall erotisch aufgeladen.

  »Stimmt doch, oder?«, fragte Sarah und schenkte Wein nach. »Hast du nicht auch den Eindruck, dass es Hardy ein abartiges sexuelles Vergnügen bereitet hat, dabei zuzuschauen, wie die Frau abgemurkst wurde?« Sie legte schnell eine Hand vor den Mund. »Oh, entschuldige. Ich ... da bin ich voll ins Fettnäpfchen getreten. Der Wein muss mir zu Kopf gestiegen sein. Ich meine, ich habe nicht nachgedacht. Ich wollte nicht ... du weißt schon.«

  Kirsten winkte ab. »Schon in Ordnung. Mir ist es lieber, du sagst, was du denkst, als dass du mich mit Samthandschuhen anfasst. Ich halte das aus. Und überhaupt hast du Recht, es ist tatsächlich sexistisch.«

  »Ja. Und noch schlimmer ist, dass er sie als Material für sein Schreiben benutzt. Als würde sie nur den Zweck erfüllen, ihm eine Inspirationsquelle zu sein, während sie gehängt wird. Für ihn war sie kein Mensch, kein Individuum.«

  »Ich frage mich, was für ein Mensch sie war«, sagte Kirsten nachdenklich.

  »Das werden wir nie erfahren, oder?«

  »Wahrscheinlich nicht. Aber so merkwürdig ist das im Grunde nicht, oder? Wie Hardy sie benutzt, meine ich. Sehen wir nicht alle in anderen Menschen lediglich Stichwortgeber in unserer eigenen Tragödie? Irgendwie sind wir alle ichbezogen.«

  »Das glaube ich nicht. Auf jeden Fall nicht in diesem Ausmaß.«

  »Wer weiß. Aber vielleicht wärst du überrascht.« Sie hielt ihr Glas hoch und Sarah leerte die Flasche. Kirsten fühlte sich schon ein bisschen beschwipst. Nach der Reise und der Verwirrung, in ihr altes Zimmer zurückzukehren, hatte der Wein eine stärkere Wirkung auf sie als sonst. Doch es war kein unangenehmes Gefühl. Sie nahm noch ein Stück Wensleydale.

  Sarah schüttelte die Weinflasche, grinste und sprang auf. Im Vorbeigehen zerzauste sie Kirstens kurzen Haarschopf. »Keine Angst«, sagte sie. »Ich vermute, wir brauchen heute mehr als die übliche Menge Alkohol. Wie sieht's mit Musik aus. Okay?«

  Kirsten zuckte mit den Achseln. »Gut.«

  Sarah schaltete den Kassettenrekorder an und verschwand hinter dem Vorhang in der Küche. Sie musste die Kassette schon vorher gehört haben, denn mit dem ersten Ton ging gerade ein Song zu Ende, ehe »Simple Twist of Fate« begann. Es war das zweite Stück auf Bob Dylans Blood on the Tracks, erinnerte sich Kirsten, und es war immer einer ihrer Lieblingssongs gewesen. Als sie jetzt Dylans heiserer, wehleidiger Stimme lauschte, während Sarah eine zweite Flasche öffnete, wurde ihr klar, dass der seltsame Text nicht das bedeutete, was sie immer geglaubt hatte. Nichts bedeutete mehr das Gleiche wie früher.

  Sarah kam mit einer größeren Flasche zurück und hob sie mit einer schwungvollen Bewegung hoch. »Da-da! Das ist jetzt echt billiger Fusel, aber ich glaube, in diesem Stadium geht das in Ordnung.«

  Kirsten lächelte. »Mit Sicherheit.«

  »Was hast du gemeint, als du sagtest, ich wäre überrascht?«, fragte Sarah, nachdem sie die Gläser gefüllt und sich hingesetzt hatte. »Was würde mich überraschen?«

  Kirsten runzelte die Stirn. »Ich musste an den Mann denken, der mich überfallen hat«, sagte sie. »Für ihn war ich auch kein Mensch, kein Individuum, oder? Ich war nur ein praktisches Symbol für das, was er hasst oder wovor er Angst hat.«

  »Hätte es einen Unterschied gemacht?«

  »Keine Ahnung. Hätte es einen Unterschied gemacht, wenn es jemand gewesen wäre, den ich kannte? In einer Beziehung hätte es einen Unterschied gemacht: Ich wüsste, wer mir das angetan hat.«

  »Und?«

  »Dann würde ich ihn umbringen.« Kirsten hob ihr Glas zu ruckartig hoch und verschüttete etwas Wein auf ihr Hemd. Sie klopfte sich auf die Brust. »Egal«, sagte sie. »Das trocknet wieder.«

  »Auge um Auge?«

  »So in der Art.«

  Sarah schüttelte langsam den Kopf.

  »Ich bin nicht verrückt«, fuhr Kirsten fort. »Aber ich meine es so. Es gab Zeiten ... Manchmal glaube ich, er hat mich mit einer Krankheit wie Aids angesteckt, nur im Kopf. Oder mit Vampirismus. Kannst du dir vorstellen, wie all diese aufgeschlitzten Frauen aus ihren Gräbern steigen und Jagd auf Männer machen? Ich bin zwar nicht gestorben, doch ein Teil von mir vielleicht schon. Vielleicht habe ich etwas von einer Untoten in mir.«

  »Das ist doch blödes Geschwätz, Kirstie. Vielleicht liegt es am Alkohol. Willst du mir erzählen, du bist zu einer Vampirversion vonjoan D'arc geworden? Hör auf!«

  Kirsten musterte sie und merkte, wie ihr Bild verschwamm. Mein Gott, dachte sie, ich lasse mich gehen. Ich hätte es ihr beinahe erzählt. Sie lachte und griff nach einer Zigarette. »Du hast Recht«, sagte sie. »Natürlich nicht. Es war nur theoretisch gemeint.«

  »Na, Gott sei Dank«, sagte Sarah. Die Musik ging zu Ende und sie stand auf und drehte die Kassette um.

  Während die beiden sich unterhielten, schaute Kirsten hin und wieder zu den Fenstern der Zimmer und Wohnungen auf der anderen Straßenseite, so wie sie es in vergangenen Jahren getan hatte. Irgendwann fiel ihr auf, dass »Shelter from the Storm« lief, ebenfalls einer ihrer Lieblingssongs. Tränen brannten in ihren Augen, doch sie hielt sie zurück.

  Gegen Mitternacht begann Kirsten mitten in einer von Sarahs Geschichten über einen pensionierten Brigadegeneral, der aus Versehen in den Frauenbuchladen Harridan geschlendert kam, zu gähnen.

  »Ich langweile dich, oder?«, fragte Sarah.

  »Nein. Ich bin nur müde. Muss am Wein und der Reise liegen. Wo schläft wer?«

  Sarah gähnte auch. »Jetzt hast du mich angesteckt. Was hältst du davon, wenn ich den Sessel nehme und du das Bett?«

  »Nein, das kann ich nicht annehmen.«

  »Es ist schließlich dein Zimmer. Ich habe mich nur darum gekümmert.«

  »Es war mein Zimmer. Ich nehme ein paar Kissen und schlafe auf dem Boden.«

  »Das ist doch albern. Da liegst du viel zu unbequem. Verdammt, das Bett ist groß genug, wir können beide drin schlafen.«

  Einen Augenblick sagte Kirsten nichts. Der Vorschlag machte sie nervös und verlegen. Sie wusste, dass es sich nicht um eine sexuelle Einladung von Sarah handelte, doch bei dem Gedanken an ihren zusammengeflickten Körper neben Sarahs weicher, makelloser Haut errötete sie.

  »Ich habe kein Nachthemd dabei«, sagte sie.

  »Kein Problem. Ich kann dir einen Pyjama leihen. Okay?«

  »Okay.« Kirsten war zu müde zum Diskutieren, und der Gedanke, im Bett zu schlafen, das einmal ihres gewesen war, war verlockend. Als sie aufstand, schwankte sie ein wenig. Sie hatte wirklich zu viel getrunken.

  Sie machten sich beide fürs Bett fertig und zogen die Vorhänge zu. Kirsten beobachtete, wie Sarah ihr T-Shirt über den Kopf zog und sich aus ihrer engen Jeans schälte, dann nackt dastand und vor dem Spiegel unbefangen ihre blonden Haare bürstete. Mit der Bewegung der Arme hüpften ihre Brüste leicht auf und ab, und unter ihrem flachen Bauch schimmerte das gelockte, goldene Haar zwischen ihren Beinen.

  Kirsten zog sich ganz zum Schluss aus, im Dunkeln, damit Sarah ihre Narben nicht sehen konnte, und nachdem sie zwischen die frisch bezogenen Laken geschlüpft war, blieb sie so nah wie möglich an der Bettkante liegen, um jede zufällige Berührung zu vermeiden.

  Doch ihre Sorgen waren unnötig. Sarah hatte sich zur Wand unterhalb des Fensters gedreht und atmete bald langsam und gleichmäßig. Kirsten lauschte eine Weile, fühlte sich leicht benommen und schwindelig und verfluchte sich, weil sie Sarah beinahe alles erzählt hätte, was sie wusste oder gar zu tun beabsichtigte. Schließlich schlief sie ein und träumte von Martha Browne, dieser unbekannten Frau in Schwarz, die vor über hundert Jahren im dunstigen Regen von Dorchester am Ende des Seiles hin und her gebaumelt war.

  Am nächsten Tag ging Sarah in den Buchladen, und Kirsten verbrachte den Vormittag damit, die Orte auf dem Campus zu besuchen, an denen sie sich früher aufgehalten hatte: die Cafeteria, wo sie zwischen den Vorlesungen Freunde getroffen hatte, die Bücherei, wo sie für ihr Examen gebüffelt hatte. Sie schlenderte sogar in einen leeren Vorlesungssaal und stellte sich vor, wie Professor Simpkins über Miltons Areopagitica schwadronierte.

  Obwohl sie ihn auf dem Hinweg gemieden hatte, ging Kirsten zurück durch den Park. Als ihre Füße dem vertrauten Asphaltweg durch die Bäume folgten, fühlte sie überhaupt nichts, doch als sie den Löwen erreichte, dessen Kopf immer noch blau angesprüht war und dessen Körper wie damals mit roten Graffiti übersät war, begannen ihre Hände zu zittern. Unfähig, sich zu stoppen, ging sie hinüber zur Skulptur.

  Es war kurz nach zwölf. In der Nähe spielten Kinder auf den Schaukeln und Wippen. Vom Feld hinter der niedrigen Hecke konnte man das Klackern der Bowlingkugeln hören, und ein paar Leute lagen im Gras, hörten Musik aus tragbaren Kassettenrekordern oder lasen. Aber Kirsten war extrem unruhig. Sie hatte das Gefühl, sie wäre irgendwie an einen tabuisierten Ort gestolpert, einen verfluchten Platz, den die Eingeborenen mieden. Und ehe sie sichs versah, saß sie rittlings auf dem Löwen und zog die amüsierten Blicke zweier Studenten auf sich, die in der Nähe auf dem Gras Karten spielten. Alles geschah ganz schnell. Der Fischgestank nahm ihr den Atem und am Rande ihres Blickfeldes wurde alles dunkel. Dann sah sie ihn und hörte seine krächzende Stimme und sah die Klinge im Mondlicht aufblitzen. Sie sprang hinab und hastete bebend davon.

  Als sie unter der Baumallee weiterging, verfluchte sie sich dafür, dass sie sich der Angst ergeben hatte. Für das, was sie tun musste, würde sie allen Mut und alle Kraft benötigen, und verschreckt vor einer Einbildung davonzulaufen war ein schlechter Anfang. Doch irgendwie war die Fantasie für sie jetzt beängstigender geworden als die Wirklichkeit. Das musste ein gutes Zeichen sein. Es war Zeit zu gehen.

  Zuerst ging sie zurück in die Wohnung und hinterließ eine Nachricht für Sarah, dann ging sie in die Stadt. Nachdem sie ein paar notwendige Dinge für die Reise eingekauft hatte, machte sie sich auf den Weg zur Bushaltestelle. Ungefähr drei Stunden später, an einem klaren Nachmittag Anfang September, kam Martha Browne in Whitby an, überzeugt von ihrem Schicksal.