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Kirsten

 

Als Kirsten am 3. Januar am Bahnsteig stand und den Intercity um 12:25 Uhr abfahren sah, war sie tieftraurig. Trotz des schwierigen Beginns war das diesjährige Weihnachten in Brierley Coombe letztlich die beste Zeit gewesen, die sie seit dem Überfall erlebt hatte. Sie war froh gewesen, Sarah dabeizuhaben, besonders als Gegenpart zu den Onkeln, Tanten und Großeltern, die sie behandelt hatten, als wäre sie eine schwachsinnige Behinderte.

  Das Dorf sah aus wie eine Weihnachtskarte. Nachdem am 22. Dezember der Schneefall eingesetzt hatte, schneite es noch fast zwei Tage weiter, und besonders auf dem Land, wo es wenig Verkehr gab und keine Industrie sie verunstaltete, war die Schneedecke eine Augenweide. Auf den Reetdächern lag eine gut fünfzig Zentimeter dicke Schicht, die sanft die Dachvorsprünge und Giebel betonte; und im Wald, in dem Kirsten häufig mit Sarah am frühen Morgen spazieren ging, ruhte der Schnee auf Zweigen und Ästen und erzeugte ein Bild von zwei gegenteiligen Welten: Das Weiße hatte sich auf das Dunkle gelegt.

  Zu den Schlussverkäufen am zweiten Feiertag waren sie erneut nach Bath gefahren, wo sie auch mit Laura Henderson, die Sarah sofort mochte, etwas trinken gingen. Und einen Abend hatten sie die Einheimischen im Dorfpub schockiert. Sarah trug ihr FISCH AUF EINEM FAHRRAD-T-Shirt, auf das alle Gäste peinlich berührt reagierten. Typisch Sarah: die nachlässig frisierten blonden Haare, die blasse Haut und die zarten Gesichtszüge, die aussahen, als wären sie geschickt aus dem feinsten Porzellan hergestellt und dann perfekt geglättet und poliert worden, und um dem ganzen die Krone aufzusetzen, diese auffällige, über ihre Brust gekritzelte Erklärung der Überflüssigkeit des männlichen Geschlechts.

  Niemand belästigte sie, wie es die Typen aus Lancashire in Bath getan hatten, aber die Männer aus dem Dorf schauten herüber und tuschelten nervös miteinander, manche lächelten hochnäsig. Für Kirsten war es der unangenehmste Abend der Feiertage gewesen. Ihre Begeisterung für volle Pubs schien nicht lange gehalten zu haben. In Lauras oder Sarahs Gegenwart konnte sie sich entspannen, in der Nähe von Männern war sie jedoch nach wie vor unruhig und verstimmt. Und wenn die Männer mit diesem überlegenen Lächeln herüberschauten, glühten ihre Wangen vor Angst und Wut. Schließlich hatte ihr ein Mann genommen, was andere Männer von ihr wollten. Irgendwie waren sie alle in diese Sache verwickelt, dachte sie.

  Silvester gingen Kirstens Eltern zu einer Party. Kirsten und Sarah waren auch eingeladen, aber da keine von beiden Lust auf einen Abend mit einem Haufen betrunkener, alter Börsenmakler, ihren gelangweilten Frauen und Yuppiesprösslingen hatte, beschlossen sie, zu Hause zu bleiben und allein zu feiern.

  Der Cocktailschrank war gut bestückt, im Kamin loderte ein Holzfeuer, und sie hatten die Lampen ausgemacht und stattdessen Kerzen angezündet. Durch die offenen Vorhänge der Terrassentüren konnte man den schneebedeckten Garten und die Bäume sehen. Kirsten holte einige Platten und Kassetten aus ihrem Zimmer und spielte sie auf der Anlage ihres Vaters. Alles schien perfekt zu sein. Sie setzten sich auf den dicken Läufer vor dem knisternden Feuer und lauschten Mozart, neben sich eine Flasche Cognac.

  »Was hast du nun vor?«, fragte Sarah, als sie ihnen den zweiten Drink einschenkte.

  »Mit meinem Leben, meinst du?«

  »Ja.«

  »Keine Ahnung. Ich habe noch keine Pläne.«

  »Du kannst ja nicht für immer hier bleiben.« Sie schaute sich im Zimmer um, wo die Kerzen und das Feuer Schatten wie dunkle Segel im Sturm warfen, und dann hinaus auf den märchenhaften Garten im Schnee. »So schön es auch ist, das ist nicht das echte Leben. Auf jeden Fall nicht deins.«

  »Und was ist mein Leben?«

  »Mein Gott, du hast einen super Abschluss gemacht. Wozu hast du eine so gute Ausbildung?«

  Kirsten lachte. »Wenn dich einer hören könnte! Du klingst ja wie ein Berufsberater oder so.«

  Sarah biss sich auf die Lippe und schaute weg.

  »Entschuldige.« Kirsten berührte ihre Schulter. »Ich hab's nicht so gemeint. Ich habe einfach noch nicht darüber nachgedacht. Wahrscheinlich habe ich die Zukunft verdrängt und ärgere mich, wenn ich daran erinnert werde.«

  »Warum gehst du nicht wieder zur Uni und machst deinen Magister? Es muss ja nicht im Norden sein, wenn du nicht willst. Eine Menge anderer Unis würden dich mit Kusshand nehmen.«

  Kirsten nickte langsam. »Ist mir auch schon durch den Kopf gegangen. Aber ich könnte erst im nächsten Semester anfangen. Und was soll ich in der Zwischenzeit tun?«

  Sarah lachte. »Woher soll ich das wissen? Bin ich ein Berufsberater, oder was? Aber im Ernst, du könntest dir doch einen Job in Bath suchen. Nur damit du was machst und was um die Ohren hast. Wenn du in diesem Dorf rumhängst, hast du zu viel Zeit, über die Vergangenheit nachzugrübeln. Was wäre zum Beispiel mit einer Buchhandlung? Das würde dir wahrscheinlich gefallen.«

  »Und was soll meine Mutter denken?« Sie setzte einen Mädchenpensionatston auf. »Es ist schrecklich gewöhnlich, Verkäuferin zu werden, Liebes.«

  Sarah lachte. »Ist sie deswegen so eisig zu mir? Vielleicht sollte ich ihr erzählen, dass meinem Vater halb Herefordshire gehört. Meinst du, das würde helfen?«

  »Bestimmt. Sie ist ein fürchterlicher Snob.«

  »Aber ernsthaft, Kirsten, du musst was tun und machen, dass du hier rauskommst. Was ist mit Toronto? Du könntest zu Galen fahren.«

  Kirsten schenkte Cognac nach. Es war halb zwölf. Mozarts Requiem war gerade zu Ende gegangen und die Welt draußen war ruhig und still.

  »Und?«, drängte Sarah. »Was ist damit? Oder ist es wirklich aus zwischen euch?«

  Kirsten starrte ins Feuer. Die Flammen leckten am Holz wie zornige Zungen. Wenn ich es ihr jetzt nicht erzähle, dachte sie, werde ich es wahrscheinlich nie tun. Sie schaute Sarah an, die so schön im winterlichen Kaminlicht aussah. Rote, orangefarbene und gelbe Flammen tanzten in ihren Augen und flimmerten über ihr Gesicht. Ihre Haut wirkte beinahe durchsichtig, besonders dort, wo das Feuer scheinbar ein zartes Korallenmuster über ihre Nasenflügel und ihre Wangenknochen warf. Und sie hatte alles: nicht nur das Aussehen, sondern einen vollkommenen Körper. Sie konnte mit jemandem schlafen und Orgasmen haben und Kinder kriegen.

  »Was ist?«, fragte Sarah sanft.

  Kirsten spürte, dass eine Träne aus einem Augenwinkel gekullert war. Schnell wischte sie sie weg. Sie musste mit dieser Heulerei aufhören. Einmal war in Ordnung, es hatte geholfen, ihre Anspannung zu lösen, aber es durfte nicht zur Gewohnheit werden, zur Schwäche.

  Bei einer weiteren Zigarette erzählte sie Sarah schließlich, was wirklich mit ihrem Körper geschehen war. Sarah hörte entsetzt zu und wusste nicht, was sie sagen sollte. Sie schenkte wieder Cognac nach. Sie lehnten sich gegen das Sofa, und Sarah legte einen Arm um Kirsten und drückte sie an sich. Es gab keine Tränen mehr. Sie saßen einfach da, zufrieden und schweigend für eine Weile, und nippten ihren Remy Martin. Dann fluchte Sarah leise: »Scheiße, es ist zehn nach zwölf. Wir haben das neue Jahr vergessen.«

  Kirsten schaute auf, der Bann war gebrochen. Ihr Rücken schmerzte von der Position, in der sie gesessen hatte. »So ist es. Egal. Ich hole den Veuve Cliquot und dann werden wir etwas verspätet auf unser neues Jahr anstoßen.« Sie stand auf, rieb ihre schmerzenden Muskeln und ging in die Küche.

  Und dann hatten sie sich Champagner eingeschenkt, »Auld Lang Syne« gesungen und sich um zwanzig nach zwölf ein frohes neues Jahr gewünscht.

  Und jetzt war Sarah weg. Kirsten lief ziellos durch Bath, die Straßen waren deprimierend still und verlassen nach den Feiertagen, und sie dachte daran, was Sarah über die Zukunft gesagt hatte. Sie beschloss, ihr Studium fortzusetzen oder sich wenigstens für das nächste Semester einzuschreiben. Das würde eine gute Deckung sein, außerdem würde es ihr ihre Eltern vom Leibe halten.

  In der Zwischenzeit würde sie versuchen herauszufinden, wer sie verstümmelt hatte. Das könnte Monate dauern, wusste sie, aber immerhin hatte sie jetzt entdeckt, dass das dafür nötige Wissen vorhanden war, eingesperrt in ihrem Inneren. Natürlich musste sie aufpassen, dass niemand vermutete, was sie wirklich vorhatte; sie musste den Anschein erwecken, als würde sie einfach wieder mit ihrem Leben vorankommen und die Vergangenheit hinter sich lassen. Sie hatte noch keine Ahnung, was sie tun würde, wenn sie tatsächlich etwas entdeckte, doch sie musste den Schlüssel finden, der ihr die Stimme offenbarte, und dann ... Zunächst musste sie jedoch eine Menge nachdenken und planen.